Tugend im Zeichen des Werteverfalls

Merken Sie was? Die Begriffe wirken verstaubt. Wer spricht heute noch von Tugend oder Untugend, Laster, Versuchung … das wirkt zunächst wie ein Relikt der Geistesgeschichte. Und Werte … das sind doch die Begriffe, mit denen Konservative immer nerven … oder?

Dennoch, vielleicht ist diese Zeit im Zeichen der Postmoderne weit mehr moralisierend als viele Zeiten zuvor, weniger hedonistisch als gedacht. Aufrichtiger als zu Zeiten, in denen es selbstverständlich galt, unter einer ehrbaren Fassade dem Laster zu frönen.  Aber wo führt das hin?

Wir finden Rassismus, Intoleranz, Fremdenfeindlichkeit und Umweltschädigung ganz schrecklich. Kindesmissbrauch ist eines der übelsten Verbrechen – Diebstahl eher weniger. Ich denke auch ähnlich. Aber wie denken wir darüber nach? Sind das wirklich die wichtigsten Werte? Die Sprache hat sich verändert, und vieles lässt sich kaum noch ausdrücken.

George Orwell hat mit ‚1984‘  nicht nur eine düstere Zukunftsvision gezeichnet, sondern auch die Bedeutung der Sprache für das Denken prominent gemacht. Im Roman war es ein übermächtiger Diktator, eine Behörde, die über die Sprache wachte und sie so veränderte, dass man bestimmte Dinge gar nicht mehr dachte, weil man diese gar nicht mehr ausdrücken konnte.

So etwas kennen wir in postmodernen Demokratien nicht. Was aber der aufmerksame Beobachter der Zeit erkennen kann ist, dass sich Sprachgebrauch und öffentliche Moral in einem atemberaubenden Tempo wandeln. Massenmedien haben eine große Durchschlagskraft und prägenden Charakter. Gesellschaftliche Gruppen ringen um die Deutungshoheit bestimmter Begriffe.

Ein Deutungsansatz

Auf eine Metaebene wird das auch ganz klar. Bis ins 20. Jahrhundert hinein waren noch große Ideen in dieser Kultur prägend, religiöser Glaube, Patriotismus, Anstand und Sitte, Humanismus, soziale Bindung in der Familie und dörflichen Gemeinschaften. Vieles ist davon erodiert:

  • Religiöser Glaube:  Dieser lieferte sehr lange ein Wertefundament. Auch heute ist er für einige Menschen  – auch mich – prägend. Aber als gesellschaftlicher Megatrend hat er weitgehend ausgedient. Man hat keinen metaphysisch anerkannten Kontext mehr – Glaubensvorstellungen sind postmodern individualisiert.
  • Patriotismus: Als gewandelte Stammestreue und soziale Bindung zu einer identifizierbaren Gruppe war es unhinterfragt klar, dass eine Bindung hier unbedingt als Tugend galt. Heute aber wird der Begriff fragwürdig, denn der Staat wird für den Weltbürger nicht mehr zentraler Bezugspunkt, sondern Objekt der Fragwürdigkeit: Was ist denn noch das Vaterland oder Volk? Jede Referenz dazu steht unter unmittelbaren Verdacht der Restauration einer negativen Geschichte.
  • Anstand und Sitte: Ein oft unausgesprochenes Regelwerk, dass Benehmen, Kleidung und Sexualität an Leitlinien ausrichtete, wird heute nur noch in Resteverwertung wahrgenommen. Heute ist eher wichtig, ‚in‘ zu sein – an wechselnden Moden teil zu haben, um eben dazu zu gehören. Hier ergeben sich auch innere Notwendigkeiten von Konsumgesellschaften und Postmoderne.
  • Humanismus: Ein Moralisieren unter der Emanzipation von Kirchenorganisationen wurde meist unter den Begriff des humanistischen Ideals vom guten Menschen gesehen, das seine Referenz durchaus in Antike und Bibel hatte. Nachdem man aber diese Grundlagen nicht mehr als unbedingt richtig erachtet, erfindet sich der postmoderne Mensch scheinbar neu – unter der allgegenwärtigen Präsenz des Zeitgeistes. Teils wird der Begriff Humanismus noch positiv reklamiert, hat aber mit tradierten Inhalten nur noch bedingt etwas zu tun.
  • Soziale Bindung in der Familie und dörflichen Gemeinschaften: Diese wird zum Teil noch hoch gehalten, aber die Selbstverständlichkeit ist längst entschwunden. Viele Menschen leben in Single-Haushalten oder kinderlosen Zweierbeziehungen – oft in großen Wohneinheiten, in denen man die Nachbarn kaum noch kennt. Man versteht sich erst als Individuum und leidet unter der Einsamkeit.

Dass ein Mensch in einer immer komplexer werdenden Welt nach Orientierung sucht, wobei die bisherigen Eckpfeiler an Funktion verlieren, ist offensichtlich. Fernsehen und andere Medien sind da die ’natürlichen‘ Quellen, die in die Bresche springen. Sie sind die neuen Päpste mit Richtlinienkompetenz. Darüber findet eine Normierung statt. Implizites Machtmittel ist die Sprache (auch Bildsprache) und darum auch die Deutungshoheit über die Begriffe.

Die Hoffnung, dass im Zeichen der Aufklärung und Vernunft nun in Freiheit über die Werte entschieden wird, ist oft unbegründet. Dadurch, dass dem Menschen die Sprache genommen wird, auch die Freiheit auszuüben, wird er zum Beherrschten. Und es ist keineswegs ein Unterschied wie schwarz und weiß, wenn da kein böser Diktator auf dem Regentenstuhl sitzt, sondern schwer durchschaubare Strukturen ohne einen Alleinverantwortlichen mit Bestimmungsmacht vorliegen.

Wenn nun der Werteverfall titelgebend ist, dann ist das eine Provokation. Denn gewandelte Werte sind eben immer noch wichtig. Manche Werte sind verfallen, andere wurden aufgewertet. Prägen nun Werte oder desillusionierter Pragmatismus das Verhalten mehr? Ist immer noch ein Zwiedenk über Werte und Praxis Norm? Die oft gescholtene Heuchelei?

Ein Beispiel: Toleranz

Toleranz gilt heutzutage als Tugend, auch wenn man dieses Wort dafür nicht gebraucht. Ursprünglich gemeint heißt Toleranz ‚Duldung‘ . Also dass man es stehen lassen kann, wenn das Gegenüber eine andere Ansicht vertritt. Damit ist noch lange nicht gesagt, dass die eigene oder andere Meinung richtig, gut oder berechtigt ist, sondern nur, dass man diese eben stehen lässt. In diesem Sinn halte auch ich Toleranz so lange für eine Tugend, wie die andere Meinung nicht zur Bedrohung wesentlicher Werte führt.  Sogar für eine sehr notwendige Tugend, die erst einen fruchtbaren Diskurs ermöglicht.

Im postmodernen Pluralismus steht Toleranz aber meist nicht nur für Duldung, sondern meint, dass alle Meinungen irgendwie berechtigt, gleichwertig und respektabel seien. Denn es gäbe ja auch keine absolute Wahrheit. Darum kann auch nichts absolut falsch sein. Das ist dann sozusagen die postmoderne Ideologie durch die Hintertür in zunächst harmlose Begriffe. Die Deutungshoheit wird eingefordert. Wer nun die gegnerische Meinung nicht zuletzt wegen der eigenen Überzeugung für falsch hält, gefährlich oder minderwertig, der gilt schnell als intolerant, obwohl jener doch auch nur seine Meinung dazu geäußert hat.

Neben der impliziten Ideologieüberladung wird hier aber die Grundlage für eine moderne Heuchelei gelegt. Denn Toleranz auch in diesem Sinn, gilt höchst selektiv. Es ist mitunter beliebig, wem oder welcher Meinung Toleranz gewährt wird. So darf die unterdrückte muslimische Frau aus Anatolien mit Toleranz für ihre Kleiderordnung  und Präferenzen rechnen – es ist ja ihre Kultur und Identität. Ein Nudist dürfte dagegen nicht nackt durch die Fußgängerzone spazieren. Eine starke Unterscheidung von Frauenrechten wird im Islam toleriert, aber wenn Zeugen Jehovas ähnliches Erbrecht einführen wollten, würden sie auf heftigen Widerstand stoßen.

Ebenso: Linke erwarten Respekt für ihre Ansicht, dass Enteignung oder staatliche Umverteilung gesellschaftliche Vorteile brächte. Betont aber ein Rechter nationale Souveränität, gerät er schnell unter den Verdacht, negativ konnotierter Nationalist oder gar Rassist zu sein. Eine scharfe Ablehnung einer nicht geteilten Meinung ist in meinem Sinne durchaus legitim, aber nicht in dem häufig vertretenen Sinn, dass ja alle irgendwie recht haben.

Die vorgebliche Toleranz orientiert sich also nicht an klaren und nachvollziehbaren Kriterien, sondern an mehr oder minder beliebigen sozialen Bildungen. Es ist dann pure Heuchelei, nach Vorlieben zu urteilen, aber zugleich eine humanistische Alleinvertretung zu beanspruchen.

Leitkultur revisited

Leitkultur ist ein Begriff, der von dem Politologen Bassam Tibi in die politikwissenschaftliche Debatte eingeführt wurde, um einen gesellschaftlichen Wertekonsens zu beschreiben.

Für Bassam Tibi basiert die europäische Leitkultur auf westlichen Wertvorstellungen: „Die Werte für die erwünschte Leitkultur müssen der kulturellen Moderne entspringen, und sie heißen: Demokratie, Laizismus, Aufklärung, Menschenrechte und Zivilgesellschaft.“[1]

Wir wissen, wie es weiter ging. Obwohl der Gedanke m.E. nahezu zwingend ist, wurde er von Anfang an in der öffentlichen Diskussion stark kritisiert. Denn es kann gar keine Kultur geben, die nicht über einen Minimalkonsens verfügt. Wenn dies nicht explizit vereinbart oder zumindest deskriptiv festgestellt wird, haben wir keinen vernunftgemäßen Umgang mit den zentralen Themen. Sondern wir haben eine implizite Festlegung von Menschen, die die Deutungshoheit beanspruchen.

Angeblich wurde der Begriff von Rechten missbraucht, um damit einen kulturellen Hegemonialanspruch zu manifestieren. Es ist ein Kampf um Sprache und Ideen. Der Rückzug aus einer offenen Diskussion um eben jene Werte, auf einen Grabenkampf um Sprache und Begriffe, ist für mich symptomatisch. Es reicht m.E. nicht aus, auf das Grundgesetz zu verweisen. Zum Einen ist dieses nun in die Jahre gekommen und von daher keine monolithische Festschreibung, zum anderen ist es von je her eine Frage der Auslegung. Was ist denn die Würde des Menschen, die unantastbar ist? Wird diese in jedem kulturellen Kontext gleich oder vergleichbar verstanden?

Natürlich schließt diese die selbstbestimmte kulturelle Identität ein. Das heißt die Freiheit, seine Ansichten zu wechseln oder zu Traditionen zu stehen, in aktiver und passiver Religionsfreiheit sein Bekenntnis der Erkenntnis anzupassen etc. – Natürlich bedeutet das nicht, dass eine spezifische Weltanschauung Dritter bis ins Detail zu adaptieren ist. Nur fürchte ich, dass andere Menschen hier ein anderes Verständnis von Würde einbringen, welches dazu eben nicht kompatibel ist.

Die Diskussion um die Leitkultur, die immerhin auch die Frage der Tugenden und Moral betrifft, hat einen schalen Beigeschmack hinterlassen: Man will oft den transparenten Diskurs nicht. Viele scheuen den Austausch von Inhalten und pflegen eine Kultur der Vernebelung und suchen im Kampf um Deutungshoheit von Begriffen eine Strategie, die den Diskurs vermeidet.

Freiheit

… ist mittlerweile zu einem schillernden Begriff geworden. Einst ein zentraler Wert, der einen klaren Zwang und Bevormundung verwehrt, etwas, wofür es sich zu kämpfen und sterben lohnt, ist er nun zu einer leeren Worthülse verkommen. Wenn manche Kulturen eben diese Freiheit nicht wollen oder bis zur Unkenntlichkeit umdefinieren … dann muss man doch deren Werte gleichberechtigt stehen lassen … oder nicht?

Wir beobachten die Relativierung der Freiheit aber nicht nur im interkulturellen Kontext. Während einerseits die Meinungsfreiheit noch unbeschadet auf den Sockel gestellt wird, nehmen wir wahr, dass diese de facto bereits ausgehöhlt wird.  Der politische Diskurs ist auf unterster Ebene tatsächlich sehr bunt. Viele Menschen vertreten hier mehr oder minder fundierten divergente Ansichten. Aber auf Ebene der Mächtigen, der Meinungsmacher und Parlamentarier bekommen wir ein sehr stark verengtes Spektrum vorgesetzt. Wenn kritische Urteile zu Israel oder Klimaschutz, Energiewende, Zuwanderung oder EU-Finanzen nahezu einstimmig in Parlamenten und Exekutive durchgewunken werden, obwohl das Volk hier eine sehr divergente Ansicht vertritt, passt was nicht mit der Demokratie, der Souveränität des Wahlvolkes und der angeblichen Meinungsfreiheit.

Und wie reagieren eben jene Herrschenden auf jede Kritik?  Weitgehend stereotyp: Natürlich mag auch eine Kritik wenig qualifiziert erfolgen, der man auch keineswegs immer zustimmen muss, aber Kritik pauschal in eine unliebsame – heute eben rechte – Ecke zu stellen, diskreditierende Begriffe wie ‚Populismus‘ und ‚Stammtisch‘ gebetsmühlenhaft aus dem Ärmel zu schütteln … das verstört. Freiheit bleibt ein zu hohes Ideal, um unter dieser Flagge auch ausgrenzen und marginalisieren zu können. Es ist keineswegs mehr eine Meinungsfreiheit, wenn jeder ohne Verfolgung das sagen kann was er will … dessen Meinung aber unbeeinflusst des Inhaltes ungehört verhallt.

Voltaire gilt zu Recht als einer der Ikonen der Meinungsfreiheit. Sein Bonmot zur Freiheit des Meinungsgegners bleibt unvergessen (zumindest bei mir), geradezu konstitutiv. Das hinderte ihn nicht, auch scharfe Worte gegen Meinungsgegner zu finden. Es besteht hier ein kleiner, aber feiner Unterschied zwischen einer scharfen kontroversen Diskussion, die zuweilen auch recht polemisch sein kann, und einer expliziten oder impliziten Ausgrenzung – denn dort wird eine Grenze gesetzt.

… stay tuned … wird forgeschrieben  …

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