Prüfkriterien für Dogmen

Wer mir bis hierher folgte – siehe Wehe und Wohl des Dogmas – wird sich fragen: Alles prüfen, auch Dogmen … gut und schön … aber wie soll das gehen? Immerhin wissen wir ja, dass der feste Grund, der Maßstab ja wieder auf einem Dogma beruht … und darum beliebig wird. Ist das so?

Nicht ganz … aber bevor wir den Einwand näher untersuchen, sei eine Betrachtung angestellt. Dogmen kann man wie vieles andere in Dimensionen gliedern:

  • Wahrheit: Wenn ein Dogma offensichtlich nicht wahr ist, sollten wir ihm misstrauen.
  • Moral: Wenn ein Dogma zum Bösen führt, ist es bedenklich.
  • Funktion und Präferenz: Wenn ein Dogma lediglich Vorlieben bedient, ist es verdächtig.

Wahrheit

Ein Dogma kann nur dann eine signifikante Kraft entfalten, wenn wir es für wahr halten. Ohne dieses für wahr halten lehnen wir es ab. Aber wie können wir die Wahrheit eines Dogmas erkennen, ohne uns auf ein anderes Dogma zu stützen?

Zuerst: Natürlich gibt es grundlegende und abgeleitete Dogmen. Bei abgeleiteten Dogmen ist es völlig legitim, diese auf grundlegende Dogmen zurückzuführen. Aber jene grundlegenden Dogmen entsprechen der Letztbegründung, die sich dem Vorwurf der Beliebigkeit stellen muss. Ein Frontalangriff auf die Wahrheitsfrage muss wegen der Erkenntnisunschärfe scheitern. Vielmehr ist hier ein anderes Begründungsverfahren zu wählen.

Klare Formulierung

Viele praktische und effektive Dogmen sind eher unscharf und implizit. Als Beispiel soll das naturalistische Dogma dienen, das zumeist so verstanden wird:

Es existiert nichts, was sich nicht durch die Naturwissenschaft beschreiben ließe. 

Anders formuliert:

Die Welt ist als rein naturhaftes Geschehen zu begreifen.

oder

Es existiert nichts Übernatürliches.

Hier werden bereits die Grenzen der Aussage allein durch deren Formulierung deutlich:
Was ist denn nun die Natur, die hier als Maßstab referenziert wird?

Wenn man ein unscharfes Naturempfinden innerhalb einer kausalen Ereigniskette zum Maßstab wählen wollte, stößt man an enge Grenzen:

  1. Die theoretische Physik kennt Konzepte, die fernab von jenem naiven Naturverständnis liegen. Superstrings in 11 Dimensionen, Branes oder Higgs-Bosonen, die als virtuelle Teilchen verstanden werden und die eigentliche Masse des Universums ausmachen … liegen dem gemeinen Naturverständnis meist ebenso fern wie irgend eine esoterische Weltanschauung. Sind diese nun die Natur?
  2. Die Naturwissenschaften sind weit davon entfernt, alle beobachtbaren Phänomene beschreiben und erklären zu können. Man kann lediglich seine Erwartung formulieren, ob hier in vielleicht ferner Zukunft eine naturwissenschaftliche Beschreibung möglich sein wird.
  3. Hilfsweise könnte man eine theoretische Beobachtbarkeit als Definition von Natur einführen. Das aber setzt die Kategorie der menschlichen Erkenntnisfähigkeit als Kriterium einer unbekannten Realität voraus. Das kann offensichtlich kein sicheres Kriterium der Wahrheit sein, zumal sich die Grenzen der Erkenntnisfähigkeit in der Geistesgeschichte als nicht starr erwiesen haben.
  4. Zumeist wird der Naturbegriff unreflektiert als eine naive Chiffre für den persönlichen Erfahrungsraum, den gesunden Menschenverstand, gesehen. Es ist offensichtlich, dass dies zwar das Denken vieler Menschen beschreibt, aber mit der Erkenntnis der Wahrheit nicht mehr viel zu tun hat, sondern im unreflektiert Intuitiven verbleibt, welches letztlich beliebig ist.

Alleine die Reflektion und Klärung des Dogmas zeigt ggf. eine Invalidität des Dogmas auf. Auf eine weitere Prüfung kann dann verzichtet werden.

In der Theologie, die offensichtlich das Problem lösen muss, den Glauben so zu formulieren, dass er mit nachvollziehbaren Dogmen beschrieben werden kann, gibt es den Bereich der Dogmatik. Dieser versucht die Dogmen zu reflektieren und in ein System zusammenzufassen. Z.B.

Gott liebt dich.

Dieses Dogma setzt voraus, dass dieser Begriff Gott als existentes personales Wesen existiert, der überhaupt der Liebe fähig ist, und dies auch aktuell tut. Eine Prüfung dieses Dogmas setzt die Notwendigkeit zur Klärung der Aussage voraus und die Quelle der Erkenntnis. Die Dogmatik kann genau das liefern, aber der letztlich entscheidende Schritt liegt in der Unschärfe, dass man sich auf Sätze beruft, die möglich sein müssen, aber nicht zwingend sind. Das heißt, dass man sie eben nicht glauben muss.

Ist hier Wahrheit möglich?

Es ist erstaunlich, wie wirksam die Konsistenzprüfung ist. Denn wenn ein Dogma nicht konsistent in ein Weltbild passt, ist entweder das Weltbild oder das Dogma oder beides falsch … oder es handelt sich um einen scheinbaren Widerspruch. Ist auch damit keine Klarheit erreichbar, muss entweder das Weltbild revidiert werden oder das Dogma muss verworfen werden. Und diese Aussage lässt sich recht sicher treffen.

In der Regel werden sich Widersprüche dann auftun, wenn ein Mensch mit einem hinreichend geschlossenem Weltbild auf ein neues Dogma stößt. Denn wäre es konsistent einfügbar – sozusagen ein fehlendes Puzzle-Teil – wäre es kein geschlossenes Weltbild. Eine Prüfung des Dogmas wäre dann immer auch ein Prüfung des vorhandenen geschlossenen Weltbildes: Ist jenes als Prüfkriterium überhaupt valide? Wer nicht bereit ist, dies in Frage zu stellen, kann auch nur begrenzt ein Dogma prüfen und in Frage stellen. Er setzt lediglich ein Gegen-Dogma als Ablehnungsgrund ein.

Wer allerdings ein Dogma im eigenen Weltbild reflektiert, weil es ihm tradiert wurde, bzw. unreflektiert adaptiert wurde, wird die Wahrheit jenes Dogmas überprüfen wollen. Zu diesem Zweck wird man die Konsistenz der Dogmen prüfen, indem man prüft, inwieweit sich Widersprüche zu anderen geglaubten Dogmen oder Erfahrungssätzen auftun. Es ist eine Frage der intellektuellen Redlichkeit, derartige mögliche Widersprüche zu untersuchen.

Dieser Prozess der Konsistenzprüfung ist in jedem nicht starren und völlig abgeschlossenen System ein permanenter. Jede Veränderung, z.B. durch eine neue Erfahrung, den Wegfall eines anderen stützenden Dogmas, die Neubewertung eines Aspektes etc.  führt zur Verschiebung der Architektur des Weltbildes. Alle Abhängigkeiten müssen mehr oder minder umfassend erneut geprüft werden. Verbleibende Widersprüche müssen entweder durch erweiterte Annahmen geklärt und aufgelöst werden, oder sie führen zum Verwerfen von Dogmen.

Das interessante an diesem Verfahren der permanenten Konsistenzprüfung sind folgende Bemerkungen:

  1. Jeder wird seinem Weltbild einen Wahrheitswert zuweisen, zumindest eine glaubwürdige Plausibilität, die er für zuverlässig genug hält, darauf sein Leben zu bauen. Denn würde er etwas daran für falsch halten, würde er sein Weltbild umgehend korrigieren.
  2. Bestehen bekannte Inkonsistenzen oder offene Fragen im Weltbild, so nennen wir dieses Weltbild offen. Das aber impliziert, dass der Mensch auf der Suche ist und die Bereitschaft hat, sich auch auf mögliche Antworten einzulassen.
  3. Das Verfahren an sich ist stets geeignet, einen Erkenntnisprozess zur Erkenntnis der Wahrheit zu treiben. Durch das Eliminieren inkonsistenter Sätze reduzieren sich die Möglichkeiten der Irrtümer. Es ist ein iterativer Lösungsalgorithmus.

Das funktioniert auch ohne Rückgriff auf eine Setzung die a priori für wahr gehalten wird, also ohne ein grundlegendes Dogma … außer dem Dogma, die Gesetze der Logik für gültig zu erachten.

Wenn es also möglich aber nicht zwingend ist, ein Dogma zu glauben, ist es ebenso möglich aber nicht zwingend, es zu verwerfen. Will man sich dem Wahrheitsgehalt nähern, müssen wir weiter fragen.

Man spricht auch oft von Wahrscheinlichkeit und Plausibilität. Wobei man umgangssprachlich oft die Wahrscheinlichkeit nennt – aber das ist irreführend. In der Wissenschaft beruht die Wahrscheinlichkeit auf einem Modell, dass empirisch und mathematisch zugänglich ist. Man kann Annahmen damit prüfen und hat Testverfahren, mit denen sich Aussagen zur Signifikanz machen lassen. In der Regel hat dies alles jener nicht, der meint, etwas sei wahrscheinlich oder unwahrscheinlich. Er meint lediglich, dass er die Aussage eben für glaubwürdig oder plausibel hält.

Welche Argumente machen das Dogma plausibel? Was spricht dagegen?

Wenn man präzises Wissen nicht erhalten kann, bemüht man sich näherungsweise um eine Abschätzung und hält dann jenes für wahr, das eben plausibel ist. Aber der Schritt vom Wissen zum nicht-wissenden Glauben ist bereits überschritten. Man versucht diese Abschätzung zu erhärten, indem die Argumente gesammelt werden, die eine These oder ein Dogma unterstützen und wägt diese ab gegen Argumente, die es eher unplausibel machen.

Aber Vorsicht – Abschätzungen sind meist aufgeladen: Weltanschauungen neigen dazu, glühende Vertreter für Pro und Contra zu finden. Das Geschick eines Vertreters sollte hier nicht den Ausschlag geben über das, was nun wahr sei oder nicht.

Plausibilität wird meist auch mit Assoziationen und Analogien begründet, mit moralischen Argumenten oder sonstigem. Wer kühl Irrtümer zu vermeiden sucht, wird die Argumente nüchtern analysieren.

In die Kategorie der Plausibilitätsprüfung fällt auch das Sparsamkeitsprinzip – auch oft als Ockhams Rasiermesser bezeichnet:

Wenn es zwei Möglichkeiten gibt, wähle diejenige der beiden, welche mit weniger unsicheren Annahmen auskommt!

Unnötige Annahmen kann man so eliminieren. Allerdings wird dieses Sparsamkeitsprinzip oft falsch angewendet. Denn es sagt zunächst nichts über die Wahrheit des Dogmas oder der Annahme, sondern nur etwas über dessen Plausibilität im Kontext anderer Annahmen. Denn es ist keineswegs trivial zu entscheiden, ob beide Lösungsvarianten ansonsten gleichwertig wären. Ursprünglich wurde es wohl im Kontext des monotheistischen Gedankens verwendet:
Wenn man an Gott oder Götter glaubt, dann ist der Monotheismus vorzuziehen, da eine Multiplizierung von Göttern keine notwendige Erklärungskraft hat.

Aber es ist auch nicht leicht zu fragen, was denn unter mehr oder weniger kritischen Annahmen zu verstehen ist: Ist die quantitative Menge der Annahmen relevant oder deren qualitative Gewichtung?

Wenig plausibel erscheinen grundlose Behauptungen, deren Quelle offensichtlich auf reiner Erfindung beruht oder aus einer Motivation rührt, die offensichtlich nicht eine Wahrheitserkenntnis zur Grundlage hat. Als Beispiel dient hier Russels Teekanne:

Im Asteroidengürtel umkreist eine Teekanne die Sonne.

Fraglos ist dies möglich. Warum sollten mögliche Aliens nicht aus Spaß genau diesen Sachverhalt erstellt haben oder eine Teekanne als Artefakt einer möglichen Raumschiff-Havarie verblieben sein? Allerdings wurde der Satz weder aus einer begründeten Vermutung erzeugt noch aus einer Beobachtung, sondern lediglich um zu zeigen, dass etwas theoretisch mögliches dennoch unplausibel und damit unglaubwürdig sein kann.

Eine gleiche Idee liegt hinter dem Fliegenden Spaghettimonster oder dem Unsichtbaren Rosa Einhorn: Man suchte eine möglichst unplausible Behauptung, deren Möglichkeit man nicht völlig eliminieren kann, um ähnliche Behauptungen als unplausibel zu charakterisieren. Das Unsichtbare Rosa Einhorn verliert allerdings gegen das Fliegende Spaghettimonster (FSM) , denn die Begriffe ‚unsichtbar‘ und ‚rosa‘ widersprechen sich bereits in der Definition und können somit als unmöglich eliminiert werden.

Das FSM ist als Illustration der Lächerlichkeit eines jeden Gottesglaubens gedacht, in dem eine Analogie suggeriert wird. Dies trifft in der Regel allerdings nicht zu. Die Persiflage mangelt in vielerlei Hinsicht einer Vergleichbarkeit zu einem realen Gottesglauben und hat darum lediglich die Aussagekraft, dass eben jene, die das FSM als einen validen Vergleich verstehen, eine naive Vorstellung vom Gottesglauben haben und es als ihre Mission ansehen, andere von dieser Ansicht zu überzeugen.

Somit wird Plausibilität oft auch mit Erklärungskraft assoziiert. Die Idee der biologischen Evolution aus Zufall und Notwendigkeit hatte allerdings eine große Überzeugungskraft, da sie zu vielen Beobachtungssätzen zu passen scheint. Aus dem Fossilienbericht ist recht sicher von einer breiten Veränderung der Arten auszugehen. Dennoch bleibt der Grund jener Veränderung der Empirie weitgehend verborgen. Erst das theoretische Konstrukt der blinden Triebkräfte fügt der Beobachtung eine Erklärung hinzu. Mit dem Verweis auf die Erklärungskraft wird nun die Idee als real akzeptiert und als Tatsache angesehen, obwohl eine zwingend Erklärung fehlt. Es handelt sich somit um ein Dogma.

Gerade der Zufall erweist sich in näherer Betrachtung als schwer greifbar: Was ist Zufall überhaupt? Ist es die nicht zwingende Folge aus einer oder mehreren Ursachen, bzw. unverursachten Ereignissen? Oder sind es lediglich Ereignisse, dessen Ursache wir nicht verstehen und darum für weder intendiert, noch für zwingend halten? Im letzten Fall wäre eine Erklärung, die den Zufall bemüht, lediglich ein Armutszeugnis, um den Anschein einer Erklärung zu liefern – aber im Grunde nur scheinbare Lösungen zu liefern.

Gottesbeweise

Gemeinhin geht man davon aus, dass sogenannte Gottesbeweise gescheitert sind. Diese wären Versuche einer direkten Letztbegründung. Tatsächlich konnte vor allem von Immanuel Kant in seiner Kritik der reinen Vernunft Zweite (1787) auf den Seiten 297 ff. gezeigt werden, dass notwendig Zwingendes nicht vorliegt. Es handelt sich aber lediglich um die Feststellung, dass ein Anspruch eines Beweises im logischen Sinn nicht durchgehalten wird. Ohne im Einzelnen hier darauf einzugehen, handelt es sich aber zumeist um plausible Betrachtungen, die durchaus einen Gottesglauben unter Irrtumsvorbehalt begründen können.

Moral

Wenn etwas wahr ist, aber fatale moralische Konsequenzen hat, entsteht ein Konflikt: Wird man der Wahrheit folgen, wenn man dafür Böses akzeptieren muss? Viele würden das bejahen, manche nicht.

Was aber, wenn der Wahrheitsgehalt des Satzes / Dogmas keineswegs sicher ist. Wird man dann ein Dogma mit bösen Folgen akzeptieren? Sehr viel weniger würden hier noch zustimmen. Allerdings wird man selten von der Unbestreitbarkeit eines Argumentes überzeugt sein, so dass das moralische Urteil eine große Bedeutung für die Akzeptanz eines Dogmas hat.

Das moralische Grunddogma, das sich von den meisten Weltanschauungen geteilt wird, lautet:

Das Leben ist gut!

Es handelt sich hierbei weniger um eine Tatsachenbehauptung, sondern um ein Werturteil des Gewissens. Wenn man dieses akzeptiert, kann man die Wahrheits-Akzeptanz des Dogmas um dieses Kriterium erweitern: Dient es dem Leben oder ist es dem Leben feindlich?

Somit hat jedes Weltbild auch immer eine moralische Dimension, wenn aus dem System der Dogmen eine Welt konstruiert ist, der man einen moralischen Wert zumessen kann. Eine Hölle, die dem Leben widerspricht und sie verhöhnt, ist offensichtlich weit weniger gut als ein ersehnter Himmel. Die Vorstellung der realen Welt wird sich in der Regel zwischen den Extremen bewegen. Allerdings wird man sich sehr wohl eine Skala denken können, auf der sich Weltbilder zwischen den Extremen einordnen lassen.

Wohl gemerkt: Die moralische Qualität eines Weltbildes darf nicht zu Lasten des Wahrheitsanspruchs und der Prüfung eben dessen gehen. Ansonsten wäre es eher als Illusion und Wunschdenken zu bezeichnen, sich eine gute, heile Welt wider besseres Wissen zu konstruieren. Nur wenn die Wahrheitserkenntnis mehrere Deutungen zulässt, ist eine moralisch Bessere der Schlechteren vorzuziehen.

Funktion und Präferenz

Wenn ein Dogma lediglich Interessen und Vorlieben bedient, wird man es als Wunschdenken klassifizieren und dem Wahrheitsanspruch misstrauen. In der berühmten Kindergeschichte Pippi Langstumpf von Astrid Lindgren ist das Motto der Heldin:

‚Ich mache mir die Welt, so wie sie mir gefällt.‘

Das wird als phantasievolle Einstellung durchaus als positives Gegenmodell zur drögen und spießigen  Bürgerlichkeit verstanden. Auch wenn die Heldin offensichtlich in keiner realen Welt lebt und dem Leser oder Filmzuschauer deutlich wird, dass es sich um ein Märchen handelt, drückt es zugleich sehr gut die teils unbewusste Einstellung vieler Erwachsener aus, eine Traumwelt zu kultivieren. Die Prägung aus Kindertagen mag darin nur die natürliche Neigung des Menschen verstärken, die Realität zu gestalten – auch unter der Gefahr des Realitätsverlustes.  Was man aber einem Märchen noch bereitwillig zugesteht, wird als reale Lebenseinstellung scharf abgelehnt: Die Flucht aus dem realen Leben in eine Scheinwelt wird gemeinhin als moralisch verwerflich gesehen. Die Aufgabe des Wahrheitsanspruches bzw. die Selbstlüge soll vermieden werden.

Oft aber sind es keine bewussten Entscheidungen, die zu einer möglichen Scheinwelt führen. Tradierte Weltbilder oder die suggestive Kraft Dritter vermögen Menschen etwas glauben zu machen, das im Widerspruch zur Realität steht. Aber es ist eine psychische Funktion, die auch hinter diesen Momenten steht: Der Wunsch, eine gewachsene Identität zu verteidigen, oder der Wunsch nach Orientierung, die eine scheinbar plausible Weltdeutung liefert, bedient ein tiefes Verlangen. In der Tat entfalten derartige Einstellungen ein enorme Kraft. Menschen sind oft nicht bereit, derartige Überzeugungen zu hinterfragen und halten auch dann an ihnen fest, wenn starke Argumente diese widerlegen.

Dabei ist ein Eigeninteresse oder die Tradition keineswegs ein zwingender Grund, warum etwas nicht wahr sein sollte. Christen wie Ernesto Cardenal argumentieren, dass Menschen darum oft ein Gottesverlangen haben, weil sie auf Gott hin geschaffen seien. Das Verlangen nach Gott ist darum keine kulturelle Schöpfung oder eine schräge Laune der Natur oder irgend eine psychologisierende Erklärung, sondern wurzelt in der Grundverfasstheit des Menschen wie ein Wegweiser, der erst die Wahrheit erkennen lässt. Diese Deutung, wenngleich nicht zwingend, hat durchaus eine nachvollziehbare Plausibilität.

Auch mag die Neugier, das Interesse des Menschen, die Wahrheit zu erkennen, keineswegs als moralisch bedenklich denunziert werden. Es gibt also durchaus ehrenwerte Interessen, die zur Bildung eines Weltbildes beitragen, ohne den Wahrheitsanspruch zu verletzen. Im Gegenteil: Manche Menschen meinen, dass ein Eigeninteresse als Indikator zu werten sei, ein Weltbild per se abzulehnen. Das führt im Extrem zur Negation jedes Interesses und damit zu einer unmoralischen und kalten Ansicht, die keineswegs einen berechtigteren Wahrheitsanspruch behaupten kann, sondern lediglich eine dysfunktionale Variante liefert, die sich aus falschen Prämissen speist.

Wer aber nach der Wahrheit und intellektueller Redlichkeit fragt, wird sich weder Illusionen hingeben wollen, noch anderen Fehlern wie einem falsch verstandenen Ideal der Interesselosigkeit folgen wollen. Er wird seine Motive hinterfragen und die Aspekte durch Bewusstwerdung eliminieren wollen, die zu einem Verbiegen der Wahrheit führen können. Die rationale Prüfung wirkt dann wie ein Korrektiv, welches ein sich Versteigen in wahrheitsferne Positionen vermeiden soll.

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