Politische Ethik – ein Luxusproblem?

Politik im engeren Sinn kümmert sich um die Interessen der an einem Prozess beteiligten und deren Ausgleich. Dazu müssen die von einer Entscheidung betroffenen tunlichst eine Vertretung haben. Auch muss es für den Einigungsprozess und das Handeln der Prozessbeteiligten Verhaltensnormen geben, damit der Prozess funktionieren kann. Eigentlich selbstverständlich – Moral ist für den Prozess unverzichtbar. Ich benutze lieber den Begriff Moral, um konkrete Werte zu markieren als Ethik, der ich einen allgemeinen Sinn vorbehalte. Eine zweite Ebene betrifft die Moral der Entscheidungen. So können selbstverständlich moralische Maximen das Interesse der Prozessbeteiligten ausmachen oder modifizieren. Auch damit erscheint klar, dass auch eine inhaltliche moralgetriebene Politik durchaus möglich und vertretbar ist. Ist sie aber auch notwendig? Und ist hier zwischen einer persönlichen Moral und einer politischen Moral zu unterscheiden?

So sollte es in einer repräsentativen Demokratie eine moralische Pflicht sein, das die Volksvertreter an ihre Versprechen zur Wahl gebunden sind, denn daraus leitet sich auch ihr Auftrag ab. Sie haben fortan nicht mehr das Recht, ihre privaten  Ansichten durchzusetzen, so lange sie im Mandatskontext wirken, sondern als Vertreter von Interessen Dritter zu agieren. Freilich gibt es da eine Grauzone, denn das Interesse der Vertretenen ist keineswegs leicht und zweifelsfrei zu erkennen. Aber der Verdacht, dass die Erlangung eines Mandats ein Freibrief darstelle, beliebig seine eigenen Interessen zu vertreten und den Auftrag zu ignorieren, ist sicherlich nicht ethisch vertretbar.

Das Eigeninteresse des Politikers

Der Verdacht, dass hier die Moral verkommt, dass man gar nicht mehr ernsthaft erwartet, dass hier Verpflichtungen dem Wähler gegenüber bestehen, dass der Abgeordnete aber zur Loyalität zur Parteiführung verpflichtet sei, ist nahezu zur Selbstverständlichkeit geworden. Denn der Abgeordnete sieht hier die Hand, die ihn füttert. Immerhin hat sie ihm ja die Infrastruktur und den lukrativen Listenplatz beschert. Anerkennung und Wiederwahl funktioniert eigentlich auch nur in einem Peer-Group konformen Handeln. Wo aber bleibt da die Moral?

Es mag wohlfeil erscheinen, den Politiker stereotypisch als Heuchler zu identifizieren. Wer lange genug sucht, wird bei jedem Politiker etwas finden, um n in der Grauzone zu verorten. Manche treiben es ungeniert, bei anderen ist manches grenzwertig oder agar unbewusst, andere werden gerne von der Konkurrenz gerne mit Dreck beworfen. Ist es nicht aber auch eine Politikertugend, kompromissfähig zu sein, eben nicht die saubere Weste und Geradlinigkeit als das oberste Ziel zu sehen, gerade um etwas von dem zu erreichen, was ihm wirklich wichtig ist? Muss sich der Politiker um des Zieles willen nicht doch arrangieren mit der Macht?

Das Motiv des Kritikers kann nun nicht sein, im Interesse eigener politischer Macht den Gegner zu denunzieren, denn dann begibt man sich auf das Niveau der Schlammschlacht und hat Schwierigkeit als authentischer Ankläger aufzutreten, wenn man ihm das gleiche vorwerfen kann. Wo ist nun der Grad zwischen einer korrupten Selbstbedienungsmentalität und dem notwendigen Kompromiss? In wie weit ist das Eigeninteresse des Politikers legitim oder nicht?

Gerade wenn der Dritte sich eine bessere Politik wünscht, die ein Mindestmaß von Integrität erfordert,  ist ein unterschiedsloses Draufhauen auf den Politiker als Stereotyp weniger angezeigt. Denn das entlastet den wahrhaft korrupten, der sich durch bessere Politik ja nicht entlasten kann, und triffte denjenigen, der sich redlich müht im Spannungsfeld der Interessen die Spur zu wahren, denn sein Mühen wird nicht mehr goutiert. Ein Königsweg zum Urteil über Politiker kann es nicht geben. Weder darf man Persilscheine verteilen, noch Pauschalanklagen betreiben.

Die Anklage als politisches Mittel, den Meinungsgegner zu diskreditieren, ist ebenso verdächtig, denn sie fragt ja auch zuerst nach der Funktion und Nutzen des Manövers, weniger nach der Schuld. Kritik und plakative Entrüstung als Instrument der Macht kann sich kaum mit dem Attribut moralisch schmücken.

Hier ist erforderlich, Augenmaß im Einzelfall zu gewinnen. Nicht die politische Position des Verdächtigen kann den Ausschlag geben, wenn es um Anklage gegen dessen Integrität gehen soll, ebenso wenig wie das Wegschauen wenn es den eigenen Parteigenossen betrifft. Gerechtigkeit ist ein Ideal, dem zu dienen verdienstvoll sein sollte. Und darum sind auch diese Tugenden zu fördern, auch im Blick auf den Umgang mit Politikern.

Moralische Politik?

Lässt man nun aufgrund nahezu selbstverständlicher Eigenwahrnehmung von Interessen der Mandatsträger und bereits einem sprichwörtlichen Misstrauen gegen Politikerversprechen den Anspruch der Moral fallen? Mitnichten! Man ist um so moralischer geworden, wenn es um die praktische Politik  geht. Aber zum Ersten wird das Wort ‚Moral‘ durch ‚Ethik‘ ersetzt. Es klingt feiner und hat nicht den Ruf, angestaubte Traditionen anderen Menschen überzustülpen. Als würde man den erhobenen Zeigefinger durch die Wortwahl bannen können. Einer der Gründe, warum mir die Moral lieber ist, im allgemeinen Sprachgebrauch.

Dieser moralische Zeigefinger, früher mit einer Christenpflicht begründet, wird heute reflexhaft mit ‚humanitär‘ und ‚Mitmenschlicheit‘ verknüpft. Und auch die Kirchen springen auf den Wagon und heizen den Politikern kräftig ein, damit der Anspruch, selbst der größte Moralhüter zu sein, nicht in Frage gestellt wird. Wer da nicht pflichtschuldig mitzieht, gar Argumente von Eigeninteresse oder Vernunft mit ins Feld führt, kann entsprechend schnell als verdammungswürdig unethisch egoistisch und kaltherzig, entlarvt werden.

Gesinnungsethik am Beispiel neu beleuchtet

Max Weber setzte eine reine gute Absicht mit einer Gesinnungsethik gleich; Nicht die Wirkung, sondern die Absicht zählt. Dem gegenüber steht die Verantwortungsethik, die weniger nach den Motiven, als viel mehr nach den Wirkungen fragt. Um das zu illustrieren betrachten wir zwei Geschichten eines Brunnenbaus von Entwicklungshilfe-Projekten.

Im ersten Fall steht die Hilfe zur Selbsthilfe und selbstloser Motivation im Vordergrund. Örtlich kundige Männer, Wünschelrutengänger werden beauftragt, eine geeignete Stelle zu finden. Mit einfachem Gerät und fachkundiger Anleitung wird der Schacht ausgegraben, schließlich wird man tatsächlich fündig und kann mit lokal erstellbarer und wartbarer Technik einen Zugbrunnen aufbauen. Die Wasserversorgung für die Menschen und das Vieh ist gesichert.

Im zweiten Projekt kartographiert man mit modernen geologischen Methoden ein Gebiet, setzt mobiles Borgerät ein, ermittelt die zulässige Entnahmemenge von mehreren dieselmotorgetriebenen Brunnen und verkauft über Fördermittel deutsche Motoren. Einige Firmen machen ganz gute Geschäfte. Vielleicht war das eben die Idee: Tue Gutes und verdiene daran.

War nun das erste Projekt erfolgreicher, denn es war durch kein kommerzielles Eigeninteresse verunreinigt? Es förderte zwar nur die Subsistenz und führte zu keiner regionalen Entwicklung … Oder war das zweite Projekt besser, auch wenn da einige Leute gut verdienen konnten. Immerhin blühte ein ganze Region auf, und Felder zum Gemüseanbau wurden. Man könnte nun endlos diskutieren, ob die Wartung der Dieselmotoren sichergestellt wäre, ob man nicht zu viel Wasser abpumpt und katastrophale ökologische Nebenwirkungen verursacht, ob die aufblühende Wirtschaftskraft der Region mächtige bewaffnete Neuankömmlinge anzieht und viele andere Einwände. Aber die Kernfrage bleibt: Ist nun die Gesinnung, helfen zu wollen wichtig und ausreichend, oder ist der verantwortliche Umgang mit effektiven Maßnahmen die entscheidende Grundlage des Handelns?

Das Beispiel wurde bewusst ambivalent gehalten. In der Praxis ergeben sich weit öfter Situationen, in denen ‚Gut gemeint‘ offensichtlich zu ‚Schlecht gemacht‘ führt.

Gerade, wenn die Moral und Gesinnung in den Mittelpunkt der Diskussion und Begründung rückt, ist der Verdacht angezeigt, dass die Wirkungen eben weit negativer sein können, aber der hehre Anspruch eben die nüchterne Überlegung übertüncht.

Wie viel Moral muss sein?

Das Spannungsfeld wird immer wieder deutlich, wenn bei Staatsbesuchen in Ländern, in denen es um die Menschenrechte schlecht bestellt ist, die Frage nach korrektem Umgang diskutiert wird. Oder: Dürfen Waffen gebaut und exportiert werden? Wenn ja: an wen? Es lässt sich kaum verhehlen, dass man seinen moralischen Maßstab schnell von gewissen anderen Motiven überformen lässt. Ist das aber bereits an sich verwerflich? Oder ist ein gerüttelt Maß an Eigeninteresse, sei es des Politikers und viel mehr des vertretenen Volkes nicht ebenso moralisch legitim, gar geboten, denn der Vertreter muss ja die Interessen der Vertretenen verstehen.

Überall tun sich Grauzonen auf und ein gerechtes Urteil ist schwer. Aber die Reflektion über die Grundlagen des Urteils kann helfen, die gröbsten Fehler zu vermeiden und zu besseren Ergebnissen zu kommen, als von einem Gefühl getrieben irgend was zu meinen, und sich damit als besonders anfällig für Manipulation zu machen. Besonnenes Abwägen hat keine Konjunktur, bleibt aber unverzichtbar, wenn es Einem um die Moral ernst ist.

 

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