Moralische Verpflichtung und die Flüchtlingskontroverse

Angesichts des Elends in vielen Krisenregionen in der Welt erreichen uns Menschen, die in Deutschland eine sichere Wohnung oder ein besseres Leben erhoffen. Das Gebot der Nächstenliebe, dass den Hilfsbedürftigen nicht im Stich lassen soll, scheint hier ein moralische Imperativ zu setzen. Selbst der Wegfall des christlichen Glaubens, der ja gerade dieses Gebot überhaupt propagierte, führte nicht dazu, dass dieses Imperativ Fortbestand hat. Anders herum: Es lässt sich auch durch die Goldene Regel begründen, dass es eine Verpflichtung zur Hilfe von Menschen in Not gibt.

Das aber kann in einer globalisierten Welt nicht mehr Eins zu Eins umgesetzt werden, denn das übersteigt die Möglichkeiten bei weitem. Ist aber der Verweis auf begrenzte Ressourcen der Trumpf im Ärmel, der die Verpflichtung aufhebt? Wie weit reicht die Verpflichtung im Besonderen?

Vorüberlegungen … eine Rechtfertigung der Eigeninteressen

Bevor man über die Moral der Nächstenliebe elaboriert, stellt sich die Frage nach der Grundlage. Denn Hilfe und Nächstenliebe kann nur das aktiv handelnde Subjekt haben, dass eine mehr oder minder freie Entscheidung darüber treffen kann, ob es nun hilft und wenn ja, in welchem Maß. Dieses Subjekt, der Mensch, hat als lebendiges Wesen zunächst ein Eigeninteresse: Es will leben, und zwar gut leben. Es will sich erhalten und vermehren. In wie weit dies für das biologische Leben im Individuum oder für den ‚genetisch‘ bedingten Verbund geht, oder für eine kulturelle Identität, ist zunächst nicht trivial, denn es wurden nicht nur in der menschlichen Geschichte, aber auch im Tierreich Beobachtungen gemacht, die diese teils gegensätzlichen Ansätze unterstützen. Selbst wenn man nicht mit der Evolution und biologistisch argumentiert, so wird doch das Eigeninteresse in nahezu allen Weltanschauungen und Religionen zumeist implizit als gerechtfertigt angesehen und bildet die Grundlage für die Forderung, über dieses hinaus Pflichten wahrzunehmen.

Hilfeleistung wird zumeist als Leistung aus dem Überfluss gesehen: Von den Möglichkeiten über die eigene Grundsicherung hinaus kann geteilt werden. Dabei bleibt unerheblich, ob man diesen Überfluss als geschenktem, verliehenen oder erarbeiteten Wohlstand versteht. Wenn man abgeben, spenden oder Helfen kann, bedarf es der Begründung, wie diese Möglichkeit zu nutzen ist.

Christliche und säkulare Begründungen

Im christlichen Verständnis gibt auch der Arme, und der Mensch opfert sich für die Freunde … und sogar für Feinde. Dies übersteigt die Möglichkeiten der meisten Menschen, denn es entsteht ein Zielkonflikt: Das Eigeninteresse und die Verpflichtung gegen die Nahestehenden – Familie, Freunde etc. – lässt ein beliebiges Selbstopfer aus moralischen Gründen nicht zu. Wer nun aus christlichen Glaube motiviert handelt, ist auf eine nüchterne Überlegung oder auf eine spirituelle Führung angewiesen, die sich nicht auf einen emotionalen Impuls und dessen überhöhte Projektion beschränkt. Es ist aber ein Unterschied, wenn ein Christ oder Moslem mit einer Himmelshoffnung das irdische Leben für gering schätzt und dieses zu opfern bereit ist, oder wenn ein säkularer Mensch keine derartigen Hoffnungen hegt.

Auch für Menschen ohne religiösen Anspruch erscheint aber humanitäre Hilfe ein positiver Wert zu sein, für den man vieles aufgeben kann. Dies mag einerseits durch eine kulturelle Prägung durch das Christentum im Westen in Fleisch und Blut eingesickert sein. Oder aber es gibt einen moralischen absoluten Grund, der eine derartige Verpflichtung als Impuls jenseits der Kultur auslöst.

In jedem Fall aber bleibt die Frage, wie weit diese Verpflichtung reicht, und was denn überhaupt gut ist … und was nicht mehr. Verstörend bleibt der irrational moralisierende Impuls, der unreflektiert eine grenzenlose Hilfe fordert und jedwede Einschränkung oder nur Überlegungen dazu als moralisch verwerflich oder herzlos klassifiziert. Dies ist, auch wenn es sich als moralisch geriert, eben nur ein irrationaler Akt, der keineswegs moralischen Prinzipien entspringt.

Nächte und Fernste

Das Gebot: Liebe deinen Nächsten wie dich selbst, das ja von Jesus bekräftigt wurde, hat tiefen Eindruck hinterlassen. Auch wenn in der Geschichte und Gegenwart dieses allzu oft missachtet wurde, so schwebt es gewissermaßen nicht nur über den Christen und Juden, sondern beschäftigt alle möglichen Menschen. Interessant ist die Formulierung des ‚Nächsten‘. Jesus wurde gefragt, wer denn der Nächste sei, und er antwortete mit dem Gleichnis vom barmherzigen Samariter – Lukas 10,29ff.

Als Merkmal der Geschichte fiel auf, dass hier Situativ gehandelt wurde. Es ging um eine persönliche Begegnung. Der Samariter verfügte offensichtlich über die Möglichkeit der Hilfe und nutzte diese. Aber auch die beiden Anderen hätten diese Möglichkeit gehabt und nutzten sie nicht. Im deutschen Recht gibt es den Paragrafen der Unterlassenen Hilfeleistung StGb 323c. Dies wird somit auch in Gesetze gegossen.

Aber auch das bringt uns nicht weiter in der Frage, in wie weit eine Verpflichtung in der globalisierten Welt entsteht.

Bekennende Atheisten beziehen sich gelegentlich ebenso auf dieses Forderung, jedoch nicht, ohne sie entsprechend zu verändern – z.B. bei Die Zehn Angebote des evolutionären Humanismus:

2. Verhalte dich fair gegenüber deinem Nächsten und deinem Fernsten! Du wirst nicht alle Menschen lieben können, aber du solltest respektieren, dass jeder Mensch – auch der von dir ungeliebte! – das Recht hat, seine individuellen Vorstellungen von „gutem Leben (und Sterben) im Diesseits“ zu verwirklichen, sofern er dadurch nicht gegen die gleichberechtigten Interessen Anderer verstößt.

Dies weitet zum Einen die Verpflichtung auf alle Menschen aus, reduziert sie aber auf eine ‚Fairness‘, die ihrerseits der Interpretation Tür und Tor öffnet. Zum Anderen kann auch dieser Ansatz keine hinreichende Grundlage liefern, in wie weit Flüchtlingshilfe moralisch geboten ist.

Persönliches Engagement oder gesellschaftliche Verpflichtung?

Zu Recht wird man das Engagement derer loben, die hier ihre Aufgabe sehen und das Ihre aus freien Stücken dazu beitragen, Anderen zu helfen. Dies kann Anlass geben, ebenso zu handeln und Mitmenschlichkeit zu fördern. Aber Viele meinen: Persönliches Engagement ist unzureichend.

In der Politik versuch man darum, mit staatlichen Mitteln Hilfe zu organisieren und Rechtsgrundlagen dazu zu geben, dass Menschen geholfen werde. Denn Einerseits sind auch Politiker Menschen, die sich einer moralischen Pflicht gegenüber sehen. Andererseits aber entscheiden sie über die Mittel Dritter, die ihrerseits über jene Mittel nicht verfügen können, die zur Hilfe – hier: für Flüchtlinge – aufgewendet werden. Dasurch entsteht die pikante Situation, dass Menschen über ihre Steuern und Gesetze zu einer Hilfe gezwungen werden, die sie selbst möglicherweise gar nicht leisten wollen. Durch den institutionellen Akt der Hilfe wird der Steuerzahler unvermeidbarer Akteur im Geschäft der Hilfeleistung. Nicht wenige sehen ihre demokratischen Rechte dadurch beschädigt, dass eben Dritte über ihre moralischen Verpflichtungen entscheiden, oder gar ihre Pflicht durch die Zwangszahlungen abgegolten.

Helfen ja … aber wie?

Während die Unmittelbarkeit der Begegnung mit der Not die Frage oft überflüssig macht, wie denn Hilfe zu leisten wäre, so eist es gerade im Politischen und im Lebensvollzug des Nachrichtenkonsuments äußerst unklar, wie mit jener fernen Not umzugehen ist.

Sollte nun keine Verpflichtung für jene massakrierten Menschen in Dafur und Nordkorea bestehen, weil diese nicht Gegenstand der Nachrichten sind – aber gegen jene, die sich auf das Mittelmeer zur Flucht vor unerträglichen Umständen aufmachen und in See-untüchtigen Booten kentern? Verdienen jene, die es dank Geld und Schleuser geschafft haben, in Deutschland irgendwo anzukommen mehr Hilfe als die Insassen von Flüchtlingscamps in Jordanien? Reicht es, wenn man das schiere Überleben jener Menschen sichert, oder sollte Chancengleichheit mit Bundesbürgern sichergestellt werde  – weltweit?

Wer grundsätzlich die Verpflichtung zur humanitären Hilfe gerade wegen des eigenen Wohlstandes und Überfluss anerkennt, wird angesichts der knappen Mittel angesichts der Elends in der Welt auch die moralische Verpflichtung sehen, diese Mittel möglichst effizient einzusetzen. Es wäre eine Verletzung der Fairness, wenn einige Menschen besondere Hilfen bekommen, andere aber leer ausgehen. Wird hier ein nachvollziehbares Unterscheidungskriterium geliefert?

Eine völlige Gleichbehandlung aller notleidenden Menschen auf dieser Erde kann es aus praktischen Gründen nicht geben. Das aber heißt nicht, dass man damit die Verteilungsfrage und die Frage nach der Effizienz der Hilfe bereits ausgehebelt hat. Denn eine unterlassenen Hilfeleistung, die bei jenen eben nicht ankommt, weil sie durch ungerechte Verteilung versandet, ist moralisch nicht zu rechtfertigen.

Eigeninteresse, die Zweite

Um eine Sozial- und Flüchtlingspolitik zu rechtfertigen, wird zuweilen ein Eigeninteresse vorgetragen: Durch den Geburtenrückgang würde es einen Mangel an Fachkräften geben, den die sich integrierenden Flüchtlinge auffangen würden. Oder: Durch die wirtschaftlichen Anforderungen würden Arbeitsplätze im Umgang mit den Flüchtlingen geschaffen und die Wirtschaft angekurbelt.

Derartige Erklärungen passen wenig zum moralischen Ansatz, und das spiegelt sich im gesellschaftlichen Diskurs wieder. Viel mehr entsteht der Eindruck, dass Scheinrechtfrtigungen für ein irrational getriebenes Handeln gesucht werden. Aber sind diese Begründungen damit per se falsch? Wohl kaum … es müssen die Argumente geprüft werden, wobei eingangs offen ist, ob die Argumente denn zutreffend sind.

… to be continued

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