Der Begriff ‚Schuld‘ wird immer schillernder, je mehr man über ihn nachdenkt. Manche meinen, dass man ihnen Schuldgefühle einredet. Die Gesellschaft, das Über-Ich, die Eltern, die Kirche … eigentlich sind die Schuld an den Schuldgefühlen. Und tatsächlich gibt es auch krankhaft übersteigerte Schuldgefühle, die manche in die Verzweifelung treiben.
Im Zuge der Debatte über die Bestimmung des Menschen meinen nicht wenige Zeitgenossen, dass der Mensch vollständig ein Produkt seiner Umwelt sei. Dies bestimmt sein Sein und Empfinden, sein Denken und Handeln. Im Grunde sei der Mensch völlig determiniert. Er kann gar nicht anders handeln, als er handeln muss. Wie könnte er da noch schuld sein, wenn er doch hätte gar nicht anders handeln können? Was bedeutet ‚Schuld‘ dann eigentlich noch? Ist der Täter nicht viel mehr Opfer der Umstände?
Neben der wissenschaftlichen Seite – Neurologie, Neurophilosophie – gibt es eine religiöse Seite. Hier hat der Mensch einen unfreien Willen und muss das tun was der Willen Gottes, oder ein Dämon in ihm bewirkt. So weit zumindest Luther. Aber auch das ist ebenso gruselig. Die Würde des Menschen liegt m.E. in der Verantwortung für sein Handeln. Erasmus von Rotterdam stritt sich hier mit Luther – Auf Basis biblischer Argumente. Dies schließt nicht eine völlige Freiheit im Sinne einer unbedingten Handlungsoption ein, aber letztlich eine im Konkreten eingeschränkte Wahl zwischen mindestens zwei Optionen … und das tausend mal täglich.
Absolute Moral
In diesem Sinn gibt es eine moralische Verpflichtung des Menschen zum guten Handeln. Und zu entscheiden, was denn nun gut sei, und was nicht, ist ebenso Aufgabe. Eine Selbstreferentielle? Nein, denn in diesem Modell ist implizit oder explizit das zunächst externe absolute Gute. Es geht lediglich darum, das Gute auch zu erkennen und danach zu handeln. Der Mensch ist moralisch verpflichtet, dem Guten zu dienen, kann dem aber auch widersprechen. Die Schuldigkeit, die Verpflichtung würde dann verletzt, wenn eben dieser Verpflichtung widersprochen wird.
Nehmen wir ein akzeptiertes moralisches Prinzip, die Goldene Regel: Diese impliziert gleiche Rechte aller Menschen. Der Andere sollte so gut behandelt werden, wie man auch selbst behandelt werden will. Ein Bruch der Regel ist dann gegeben, wenn der Mensch einen anderen betrügt, bestiehlt oder Gewalt antut. Denn so will er selbst keineswegs behandelt werden. Der Täter belädt sich mit Schuld.
Bevor wir die Absolutheit der Moral betrachten können, ein Exkurs:
Schuldfähigkeit und Verantwortung als Voraussetzungen
Voraussetzung dafür ist, dass er die Entscheidung von zumindest zwei Handlungsoptionen hat. Er kann seinen Bedürfnissen oder seinem Gewissen folgen. Das führt zurück in das Menschenbild: Ist der Mensch eine bio-kybernetische Maschine, und das Bewusstsein ein Epiphänomen, dass die Illusion der Freiheit hegt? Dann gibt es auch keinen Grund, eine persönliche Verantwortung zu sehen. Ob nun deterministische Prägung oder der Zufall: In diesem Modell ist kein Platz für eine wahrhaft moralische Instanz.
Sieht man dagegen das Bewusstsein als substantiell, ursächlich und den Menschen der Würde gemäß als wahrhaft entscheidungsfähiges Wesen, so sind die naturalistischen Erklärungen lediglich Hilfswissenschaften, die mehr oder minder korrekt die Funktionsweise dazu aufklären. Das Interessante hieran: Keine Sicht ist aus Perspektive der Fakten zwingend. Es ist auch nicht Frage des Geschmacks, welchen Ansatz man hier zur Frage nach dem Menschen wählt, sondern ein Frage der persönlichen Erkenntnis.
Naturwissenschaft will sich von der persönlichen Erkenntnis lösen. Die objektive Realität soll schließlich aufgeklärt werden, nicht die subjektiven Ansichten dazu. Allerdings benötigt die Wissenschaft dazu Hypothesen und Modelle. Diese können zutreffend oder nicht, stimmig oder nicht sein. Sofern es aber keine absolute Erkenntnis geben kann, wird sich jeder Mensch, auch der Wissenschaftler auf bestimmte Prämissen und Modell mehr oder minder fest legen. Das inkludiert, dass jeder Mensch einem fundamentalen Irrtum anheim fallen kann, sei es in naturalistischer oder religiöser Hinsicht.
Der Ansatzpunkt des entscheidungsfähigen und verantwortlichen Menschen beruht auf Selbsterfahrung. Zwar kann nicht ausgeschlossen werden, dass hier eine systematische Selbsttäuschung vor liegt, aber ein Sein jenseits der unmittelbaren Erfahrung bedürfte starker Gründe, nicht ein mehr oder minder vages Konstrukt, das auf fragwürdigen Prämissen basiert.
Auch die Frage nach den Motiven bringt hier nicht weiter: Natürlich könnte jede Einstellung von bestimmten Motiven befeuert werden. Das gilt aber nicht nur für den humanistischen Ansatz, der die Entscheidungsfähigkeit als grundlegend ansieht, sondern auch für diejenige, die sich in der Theorie selbst entmündigen: Sich selbst als Opfer der Umstände zu verstehen ist ein Teil einer Entlastung von der Verantwortung. Es kann Schuldgefühle bekämpfen, in dem reale Schuld vorderhand als nicht-existent deklariert wird. Oder schlicht einer pessimistische Weltsicht folgend, in der negativen Deutungsvarianten per se eine höhere Glaubwürdigkeit eingeräumt wird.
Wohl gemerkt: Es geht nicht um die absolute Freiheit und Unbedingtheit der Entscheidung, sondern um die Option im konkreten Entscheidungskontext.
Kompatibilistische Sicht
Es gibt eine Reihe von Menschen, die sehen eine Willensfreiheit nicht als gegeben an: Der Mensch folgt einem deterministischen Pfad. Dennoch vertreten jene die Ansicht, dass weiterhin eine Verantwortung für sein Tun existiert – es sei mit dem Determinismus kompatibel. Leider habe ich trotz vieler versuche nicht verstanden, wie das gehen soll. Ich muss darum bei einer Erklärung passen.
Absolute Moral und deren Erkenntnis
Ausgehend von den bisher diskutierten Prämissen – Der Mensch ist schuldfähig – und der Annahme, dass er diese Schuld nicht zufällig bestimmt oder erfindet, muss die Moral an sich und die Erkenntnis dieser näher betrachtet werden.
Moral und Werte werden heute oft als subjektiv gesehen. Der Verweis auf das Absolute wird entweder als religiös verschroben oder als anmaßend angesehen. Zuweilen wird auf den naturalistischen Fehlschluss verwiesen: Aus dem Sein folgt nicht das Sollen. Dass diese Aussage aber korrekt ist, bedarf es wieder gewisser Prämissen, die implizit selbst absolut sind – aber denen man keineswegs folgen muss.
Gegen eine absolute Moral spricht die Beobachtung, dass es in moralischen Fragen oftmals keine Einigkeit gibt. Im Besonderen kulturelle Unterscheide scheinen einen allgemein gültigen tiefen Grund der Moral auszuschließen. Dies aber ist nur dann plausibel, wenn man Moral und Werte monolithisch in den detaillierten Ausprägungen allesamt als verschieden versteht. Dem ist aber nicht so. Viel mehr sind sowohl allgemein gültige Schichten und deren kulturelle und subjektive Überformungen zu erkennen. Letztlich aber bleibt jede Erkenntnis subjektiv und irrtumsanfällig:
Obwohl die Moral stets, selbst bei Subjektivisten, implizit als absolut angesehen wird und nicht als Frage persönlicher Vorlieben und des Geschmacks, bleibt die Erkenntnis des Absoluten immer persönlich und fehlbar. Es ist aber ein weiter Unterschied, ob ich einen absoluten Sachverhalt nur subjektiv und unsicher zu erkennen vermag. oder ob die Bildung jener Erkenntnis reine Konstruktion des Subjektes ist. Im ersten Fall kann ich erkennen und irren, im Zweiten nur funktional und dysfunktional konstruieren, bleibe aber stets bei einer Illusion, wenn ich es als anders als beliebige Konstruktion ansehe.
Für Kant war darum auch der moralische Gottesbeweis als Gegenstand der praktischen Vernunft der einzig gültige. Manch einer hält Kants Argument für wenig stichhaltig, denn man könne doch auch per Konvention eine Moral vereinbaren. Wenn es aber bloß Konvention sei, keine Verwurzelung im Absoluten, ist es auch weit weniger Gegenstand von Schuld, die Konvention zu missachten. Denn was im einen Fall, z.B. unter einem Nazi-Regime, als Konvention anerkannt wird, gilt unter anderen Umständen als Verbrechen. So kann weder das Verbrechen, noch die Anerkennung als unbedingt richtig erkannt werden.
Moralität wird erst dann seinem Anspruch gerecht, wenn sie etwas allgemein Verbindliches zum Ziel hat. Private Moralität ist lediglich Ausdruck und implizite Umsetzung jenes universellen Anspruchs. Es kann nicht akzeptabel sein, wenn jemand es persönlich für verwerflich hält, Kinder zu missbrauchen, aber in anderen Kulturen das für gerechtfertigt hält. Dies würde jeglichem Missbrauch Tür und Tor öffnen. Die persönliche Ablehnung des Kindesmissbrauchs wäre nur dann verwerflich und keine eigene Praxis, wenn es kein starkes derartiges Verlangen gäbe. Es ist dann also kein moralisches Urteil, sondern eine Frage der Präferenz.
Wie geht es weiter?
Wir halten nun folgenden Ergebnisse als Prämissen fest:
- Moral hat einen objektiven Grund, aber die Erkenntnis jener ist irrtumsbehaftet.
- Es gibt krankhafte Schuldgefühle, aber es gibt noch mehr echte Schuld, die Menschen auf sich laden
Das führt zur Frage: Wie gehe ich mit meiner eigenen Schuld um? Ein schönse Lehrstück lieferte der Terry Gilliam Film ‚König der Fischer‘:
Ein Radiomoderator wurde durch provozierende Gesprächsführung enorm erfolgreich. Schließlich motivierte er damit einen Hörer unbeabsichtigt zu einem Massaker in einer Bar. Dies führte zu nahezu vollständigen Absturz in Alkoholismus bis zur Suizid-Absicht.
Er wurde von einem etwas verrückten Obdachlosen gerettet. Jener hatte einen Absturz von einem geachteten Mathematik-Professor erlebt, als seine Frau eben bei diesem Massaker starb. Die sich entwickelnd Beziehung zweier gestrandeter Menschen führte zu dem Wunsch des Ex-Radiomanns, soviel wie möglich an Wiedergutmachung zu leisten – was selbstverständlich nur teilweise geschehen konnte.
Untragbare Schuld aber entsteht nicht nur, wer durch Unachtsamkeit den Tod eines Menschen verursacht, sondern bereits in kleinen Dingen. In einem unachtsamen und verletzenden Wort, im Bruch von Versprechen und vielem mehr. Oft lässt sich zerschlagenes Porzelan nicht mehr kitten.
… wird fortgesetzt …