Grundfragen oder Grundausrichtung?

Die Grundfragen des Lebens, wie sie auch Kant formulierte, empfindet Mancher als den Kern der Philosophie schlechthin:

1. Was kann ich wissen?
2. Was soll ich tun?
3. Was darf ich hoffen?
4. Was ist der Mensch?

Anderen erscheint es fruchtlos, per Frontalangriff ein hoffnungsloses Unternehmen zu starten, als ob es poetisch sei, Windmühlenflügel zu attackieren. Ein anderer Ansatz wäre die Frage der Grundausrichtung des eigenen Lebens. Ich habe sieben Motive als Grundformen der Lebensentwürfe betrachtet.

1. Ergebung ins Sosein

Es ist nicht nur ein moderner Ökologismus, wenn der Mensch die Erfüllung im Einklang mit der Natur und seinen eigenen Biologismus finden will. Die eigenen Begrenztheiten hinnehmen, die Schwächen ertragen, die Freude genießen und den Tod als Teil des Lebens akzeptieren. In diesem Sinn ist auch die soziale Ökologie, das Zusammenleben in der Gemeinschaft als die besondere Aufgabe verstehen: Wo ist mein Platz im Leben? Natürlich gehört da auch eine Teilhabe an der Vermehrung oder Erhalt einer natürliche Bestimmung, die es schlicht zu bejahen gilt. Wenn ich mich nicht täusche, ist hier eine Beziehung zu den Grundlagen der Stoa nicht fern.

2. Sich selbst neu erfinden

Das Gegenmodell der Ökologie ist die Invention. Es geht nicht mehr um den konservativen Erhalt eines komplexen Regelsystems, sondern im Schaffen von grundsätzlich Neuen, einer Rekombination von Ressourcen, die sich eben nicht von Selbst ergibt. Der Wert liegt darum auch nicht im Bewahren, sondern im Aufbruch, in der Verheißung der Chancen des Wandels. Auf persönlicher Ebene hat es vor allem mit der Nichtakzeptanz von Vorgaben zu tun. Der Erfinder will sich nicht fügen, sondern das bestehende hinter sich lassen, vielleicht gar zerstören – zumindest in seinen Restriktionen verachten. Fortschrittskritische Menschen erkennen, dass nicht jede Veränderung zum Guten gereicht, aber eine Verbesserung ist ohne Veränderung nicht zu schaffen. Der revolutionäre Erfinder trennt sich lieber von den Wurzeln als der Reformer, der in der Kontinuität einen Vorteil sieht.

Sich selbst neu erfinden, das wird als Überwindung der Fesseln eines natürlichen Determinismus gedacht, nicht selten als das Fluidum des modernen Helden.

Persönlich mag der Mensch besonders motiviert sein, der den Dissens zwischen Anspruch und Wirklichkeit besonders stark erlebt. Was soll denn jener Underdog, der seine inferiore Stellung für unerträglich ansieht, denn sonst tun? Soll sich der moralische Mensch, der ein sexuelles Begehren nach Kindern sowohl verabscheut als auch selbst erlebt, als natürlich und gegeben anerkennen? Auch ist die Erwartung des Todes und des Vergessens keineswegs so attraktiv, dass man diese klaglos in Gleichmut hinnehmen sollte. Der Mensch ist von seinem Wesen her zur Transzendenz bestimmt, zum Überschreiten natürlicher Restriktionen.

3. Hedonismus und Konsumismus

Verachtung für die Gegenwartskultur, die das Glück der Menschen in der Befriedigung seiner Triebe und Eitelkeiten ansieht, die sich an Waren und Erfolgen berauschen können, ist durchaus salonfähig geworden … während zugleich genau diesem gefrönt wird.  In der Tat erscheint dies, mehr noch als der Ökologismus, die Konsequenz der Postmoderne zu sein. Wenn alle großen Ideale vom Zahn der Zeit zermalen wurde, bedarf es eines inneren Ausgleichs, das spirituelle Kauferlebnis, dass das Vergessen zur Tugend erhebt.

Warum auch nicht? Am Besten durch mediale Verbreitung gekrönt, sich der gesellschaftlichen Akzeptanz versichernd, kann das kleine Glück doch niemanden verwehrt werden, der sich danach sehnt. Wer die unerträgliche Leichtigkeit und Leere bemängeln will, die im Ausblenden existenzieller Fragen lauert, kann sich aus diesem Modus verabschieden. Aber auch dann ist der Mensch als Ideologie-Konsument, der eben ein anderes Produkt wählt, im Bezugsrahmen gefangen. Ein schlichter Hedonismus kann zumindest die Ehrlichkeit für sich beanspruchen, nicht mehr scheinen zu wollen, als man ist.

4 Die Ewigkeitshoffnung

Ein Typus aus vergangen geglaubten Zeiten hat viele Modetrends überlebt. Eine metaphysische Einbettung des Lebens in einen Zusammenhang, der die Banalität des Biologischen als vergänglichen Schein erkennen lässt. Demnach ist ein vordergründiges Begehren lediglich die Versuchung, die von der Erkenntnis trennt. Nicht mehr Eigenes ist zu erfinden, auch nicht Bestehendes zu bewahren, dass doch vergänglich bleiben muss, sondern die Tür zu öffnen in eine Wirklichkeit, die jetzt nur erahnt wird. Auch säkulare Hoffnungen, die am Wohl der Menschheit arbeiten wollen, leisten funktional ähnliches. Der Austausch des eigenen Lebens für das höhere Ziel transzendiert jenes schon hier und jetzt und lässt als Angeld bereits nun eine Hoffnungskraft und vorgezogenes Glück wirksam werden, dass auch Entbehrungen nicht erst in der Zukunft vergilt.

5. Gerechtigkeit: Anständig bleiben

Ist biedere Bürgerlichkeit, die sich den gängigen Modellen der Lebensorientierung ignorierend fern hält, dann weniger vorzüglich? Wenn der Anstand als Ausdruck akzeptierter Werte als Lebensbezug genug ist, dann liegt darin keineswegs ein Defizit. ‚Tue Recht und scheue niemand!‘ so lautet der bescheidene Wahlspruch, der sich weder in einen revolutionären Anspruch, noch in einen überfrachteten Konservativismus vereint.

Vielmehr ist diese schlichte Grundhaltung zu gewissen Anteilen mit den anderen Grundmustern verknüpft. Vielleicht steht dieser Zug in der Tradition der Königstreue, die in der Postmoderne keine Bedeutung mehr hat. Handelt es sich um einen schalen Kompromiss oder die Fusion vieler positiver Momente, die in wenig spektakulärer Weise letztlich staatstragend die Zukunft bestimmt?

Eine leidenschaftlicheren Version der Suche nach Gerechtigkeit kann aber sehr wohl revolutionär sein. Dennoch ist es der gleiche Grundgedanke, der hier den Konservativen, wie auch den Revolutionär antreiben kann.

6. Neugier und Gestaltungswille

Sind diese Beiden wirklich zusammenzufassen? Die Neugier und Forscherdrang mag Menschen zum Reisen treiben oder in die Bibliotheken, Universitäten und Labors. Wissenschaften erzeugen eine Faszination, der man ein Leben widmen kann. Der Gestaltungswille schafft Kunst und adressiert die Politik und Gesellschaft. Aber es gibt eine deutliche Schnittmenge, die aus der Analyse und Erkenntnis zum Ändern und Gestalten führt.

7. Beziehungen und Liebe

Ein Seinsmodus, der nicht von der Sache oder dem Eigeninteresse getrieben wird, sondern das Menschsein und Leben gerade in der personalen Beziehung realisiert, lässt sich mit den anderen Kategorien nicht erfassen. In der Beziehung steht das Eigeninteresse eben hinten an; es besteht auf die Zuwendung und kann sich in Hingabe verzehren oder transzendieren. Trotz seiner Verwandschaft mit dem Ökologismus ist dieser Motivstrang deutlich geschieden. Denn hier ist kein Konzept oder Einsicht, keine normative Vorgabe, sondern die Begegnung an sich, die als das Leben erkannt wird.

Konglomerate und Schichten

Diese Motivlinien, die nicht exklusiv sein müssen, treten selten in Reinform auf, auch werden sie nicht immer bewusst vertreten, sondern schwingen in teils überlagernden Schichten mit. So mag ein ideologischer Ökologismus auf den Wunsch stoßen, im Konsum und Genuss sein Glück zu finden. Zuweilen gibt es dann Harmonisierungsversuche, oder man ignoriert in Selbstbetrug die Lebenslüge.  Oder in der Beziehung, die immer im hier und Jetzt aktualisiert werden muss, schwingt eine Ewigkeitshoffnung, die da Hier und Jetzt verachtet.

Teils widersprechen sich die Motive, aber derartige Widersprüche, oder zumindest dialektische Spannungen, werden eben nicht immer aufgelöst.

So ist es heute modern, einen gewissen Anspruch der Ökologie als in Fleisch und Blut übergangen anzusehen – ohne jedoch deren Verpflichtungen völlig zu akzeptieren. Diese werden dann mit hedonistischen Motiven überlagert und zugleich im Zuge des Individualismus mit dem Anspruch der Selbsterfindung gekrönt. Natürlich ist diese Mischung je Person unterschiedlich und selten voll reflektiert. Dieses Konglomerat aus Motiven formt die Weltanschauung, die zum Deutungsschlüssel des Lebens wird.

Weltanschauung und Ideologie

Unter Weltanschauung kann man das mehr oder minder bewusste Deutungsraster der Welt verstehen, dass sich aus tradierten Werten und Erlerntem, Erfahrenen und Reflektiertem konstituiert. Es mag als Oberbegriff über philosophische Positionen und religiösen Überzeugungen zunächst wertfrei verstanden werden. Ideologie kann als Synonym dazu die Verflechtung der Ideen und deren Bezug in einem ‚Lehrgebäude‘ betrachten. Die genannten Motivlinien haben mitunter prägenden Einfluss auf die Weltanschauung und der so verstandenen Ideologie. Ideologie ist meist der bewusste Teil der Weltanschauung. In ihr werden die Aspekte auf bewusster Ebene verknüpft.

Mit Feuerbach, Marx, der psychologischen und soziologischen Forschung gewinnt die Vorstellung, dass die Einflüsse, die zur mehr oder minder wirksamen Ausprägung von Motiven, Vorstellungen und Überzeugungen führen, keineswegs aus einem wahlfreiem oder rationalen Prozess entspringen, sondern prägenden Einflüssen unterliegen, die wesensgemäß von jenen Elementen unterscheiden werden müssen. Ideologie ist dann nicht mehr eine philosophische Disziplin, sondern eine ggf. interessengetriebene Deutungsschicht, die den Blick auf die Realität verzerrt. Der Ideologieverdacht will dann nicht mehr eine wertfreie Ansicht identifizieren, sondern eine instrumentelle Deutungsebene, die überwiegend gesellschaftlichen Mächten oder innerpsychischen Kräften dient.

‚Das Sein bestimmt das Bewusstsein‘  ist der Leitspruch des dialektischen Materialismus, den Karl Marx in Fortführung der Hegel’schen Dialektik prägte.  In diesem wird die Bedingtheit der Ansicht erklärt, und damit auch der Motive, die oben differenziert wurden. Vor allem in seiner Absolutheit bleibt dieser Ansatz deterministisch und unbefriedigend, denn jeder Erkenntnisprozess, auch der des dialektischen Materialismus, ist keine Erkenntnis der objektiven Realität mehr, sondern lediglich ein virtuelles Konstrukt, dass den Zugang zu jener Realität verbaut. Diese wird damit hinter dem Schleier der Ideologien unerkennbar. Auf sich selbst angewandt ist der dialektisch Materialismus dann nicht mehr als eine Ideologie, die ihrerseits Instrument eigener und fremder Interessen sein kann.

Andererseits ist ein Einfluss der Bedingungen wie Kultur und Tradition, Schichtzugehörigkeit und psychosoziale Befindlichkeiten auf die Ideenwelt kaum zu bestreiten. In der postmodernen Gesellschaft, in der tradierte Werte und Ansichten an prägender Kraft verlieren, sind zunehmend Medienwirkungen und gesellschaftliche Trends an dessen Stelle getreten.

Die Ansicht, die eben jene mehr oder minder starken Faktoren einem analytischen und reflektionsfähigen Geiste gegenüber stellt, der in dem Labyrinth von Ansichten und Motiven einen Ariadnefaden sucht, erscheint hier ein treffender Deutungsschlüssel zu sein. Die Empirie kann nämlich sehr wohl gruppenbezogenes Denken nachweisen, wie wohl sie gerade nicht eine umfassende Erklärung für die geistesgeschichtlichen Entwicklungen nachweist. Der Denker wird sich keineswegs als unabhängiger König und Dirigent der Faktoren verstehen, sondern demütig in seiner eigenen Bedingtheit die Elemente identifizieren, die er durch die analytische Durchdringung beeinflussen kann.

Mythen und Symbole

Damit folgt er dem Motiv der Selbsterfindung, dass sich Archetypus des Phönix folgt. Jener Mythos lässt den verbrennenden Vogel aus seiner Asche neu entstehen. Zugleich ist der Mythos ein Element des Motives der Ewigkeitshoffnung, die über die Bedingtheiten der Zeit und seiner Vergänglichkeit triumphiert. Aus diesem Gedanken wird der dialektische Materialismus nicht als geistfeindliche Bedrohung verstanden, sondern eher wie das läuternde Feuer, dass hilft, Illusionen abzustreifen und ein Wegweiser durch das Labyrinth zu sein, in dem vielleicht ein Minotaurus lauert.

Der Verweis auf antike Mythen kann als Schicht des kollektiven Unbewussten im Sinne C.G. Jungs verstanden werden, oder lediglich als Ideenensemble, auf das zur Illustration von Gedanken zurück gegriffen werden kann. Der tragische Held Odysseus, der zwar ideenreich von fragwürdiger Moralität bleibt, wird auf seiner Irrfahrt auf den Weg nach Hause vor vielfältige Probleme gestellt, die durchaus Ähnlichkeiten mit dem Labyrinth haben, dass die Aufgabe des Theseus darstellte. Ob nun Odyseues, Theseus, Phönix oder sonstige Identifikationsfiguren: Das Grundproblem des Menschen, sich dem scheinbar unlösbaren gordischen Knoten zu stellen, ist nicht als hoffnungslos im Mythos des Sisyphos aufzufassen, sondern bleibt die offene Mission, das Rätsel des Lebens zu lösen.

Und damit schließt sich der Kreis: In den Motiven, die teils bewusst entschieden sind, teils unbewusst adaptiert wurden, liegen nicht nur verhaltensbestimmende Kräfte, sondern sind zugleich Gegenstand der Veränderung, die wieder dialektisch jenem Geist unterliegen den sie geformt haben. Die Erkenntnis dieser Motive in sich selbst und Anderen mag hilfreich, vielleicht unabdingbar sein, um eben jene Herkulesaufgabe zu lösen.

2 Gedanken zu „Grundfragen oder Grundausrichtung?“

  1. „Absolutheit bleibt dieser Ansatz deterministisch und unbefriedigend, denn jeder Erkenntnisprozess, auch der des dialektischen Materialismus, ist keine Erkenntnis der objektiven Realität mehr, sondern lediglich ein virtuelles Konstrukt, dass den Zugang zu jener Realität verbaut.“

    Nur kurz:
    wenn jeder Erkenntnisprozes den Zugang zu ‚jener‘ Realität verbaut, woher kannst Du es dann wissen?

    1. Eben! Ich halte nicht zuletzt den Ansatz des dialektischen Materialismus genau darum für dysfunktional. Denn erführt in diesen performativen Widerspruch. Wenn die anderen Weltanschauungen fabrizierte Ideologie ist, dann bleibt die Frage: Warum sollt es der dialektischen Materialismus nicht sein?

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