Du sollst lieben!

Die Lehre von Jesus fokussiert sich gemäß der Evangelien auf das Doppelgebot der Liebe – hier nach Markus 12:

Welches ist das höchste Gebot von allen?
29 Jesus antwortete: Das höchste Gebot ist das: »Höre, Israel, der Herr, unser Gott, ist der Herr allein,
30 und du sollst den Herrn, deinen Gott, lieben von ganzem Herzen, von ganzer Seele, von ganzem Gemüt und mit all deiner Kraft« (5. Mose 6,4-5).
31 Das andre ist dies: »Du sollst deinen Nächsten lieben wie dich selbst« (3. Mose 19,18). Es ist kein anderes Gebot größer als diese.
Es ist kein christliche Erfindung, denn der Bezug zum Tanach ist offensichtlich. Aber was heißt das und wie ist denn die Umsetzung zu verstehen?
Manche sehen die Liebe als das höchste Ideal und messen ihr Denken und Tun an eben jener Forderung. Andere verstehen es als aktiven Imperativ – und kritisieren diesen.

Viktor E. Frankl ist einer meiner geschätztesten Autoren, aber hier hat er eine Einstellung, die ich nur schwer verdauen kann. In ‚Der Unbewusste Gott‘, Auszug in ‚Der Mensch nach der Suche nach dem Sinn‘ schreibt er auf Seite 76:

Ich kann mir aber auch nicht vorstellen, daß es sinnvoll ist, wenn eine Kirche verlangt, dass ich glaube. Ich kann doch nicht glauben wollen – ebensowenig wie ich lieben wollen, also zur Liebe mich zwingen wollen kann.

Zum Einen ist es hier keine Kirche, die irgend etwas verlangt, sondern der Pentateuch, der von Jesus im NT bekräftigt wird. Zum Anderen ist die Frage, was hier eigentlich gefordert ist. Frankl meint hier mit lieben und und glauben (vertrauen) vermutlich eine emotive Befindlichkeit im Menschen, die eben nicht dem Wollen direkt unterworfen ist. In so weit müsste man ihm recht geben. Ich kann meine Gefühle nicht beliebig beherrschen. Was dabei heraus käme, wäre wo möglich ein bizarres Schauspiel, in dem ich mich selbst und andere betrüge. Wahrhaftigkeit, eine implizite Forderung nach Wahrheit, würde mit dieser im Widerspruch stehen.

Der Disput liegt hier vor allem in der Bedeutung des Liebens. Ist die Liebe nur eine Emotion, ein Gefühl, das mich überkommt? Oder eine reale Universalie, im Sinne von ‚Gott ist die Liebe‘? Dann wäre die Teilhabe an dieser Liebe eine Gnade, die ins Göttliche reicht und der Imperativ zu lieben eine Mahnung zur Ergebung in diese göttliche Liebe. Es ist dann kein trivialer Akt des Willens mehr, sondern eine existenzielle Hinwendung in Erwartung der Erfüllung der göttlichen Verheißung. Die Bejahung des eigenen Lebens als Auftrag, eben jene Liebe zu realisieren, führt zugleich zur Erkenntnis eigener Unfähigkeit, diesen Auftrag aus eigenen Kräften zu erfüllen.

Aber dies Erkenntnis führt dann nicht in die Verzweiflung, seinem Auftrag eben nicht gerecht werden zu können, sondern in die Hoffnung auf die Verheißung, dass Gott selbst unserer Schwachheit aufhilft und uns auf diesem Wege begleitet und uns leitet. Das Liebesgebot ist der Schlüssel zum spirituellen Programm der Bibel, dass keineswegs als rein psychischer Vorgang, und damit selbstinduziert verstanden werden will, sondern als interaktiven Prozess in der Annäherung an Gott.

Aber auch weniger spirituell kann das Liebesgebot nüchtern anders als eine unerfüllbare Forderung verstanden werden. Liebe wird dann nicht als vorwiegend emotional verstanden, sondern die Emotion ist die Folge der Liebe, die oft mehr oder minder stark einsetzt. Die Liebe selbst ist dann das unbedingte Hingewandt-Sein auf das Gegenüber der Liebe. Diese kann durch natürliche Neigung – z.B. zu den Kindern – oder aber durch eine Entscheidung – zunächst auch ohne Gefühl – geschehen. Ist das Ergebnis meines Denkens – und das mag auch durchaus atheistisch sein – dass es gut ist, dem Anderen unbedingte Hilfe zu leisten, und das auch umsetze, so liebe ich. Ganz gleich, was ich dabei fühle.

So zumindest beschreibt es Jesus im Gleichnis vom barmherzigen Samariter. Jesus geht in keinem Wort auf die Gefühle des Samariters ein. Wir wissen lediglich, dass es ein Samariter – also kein ‚rechtgläubiger‘ Jude ist. Dies in die Tat umzusetzen ist bereits ein Zeichen der Liebe. Was also soll dann die Anmerkung, dass ich nicht lieben wollen kann? Ich kann sehr wohl Hilfe gewähren, wenn ich dieser Notwendigkeit begegne.

Man nennt das Hingewandt-Sein zum Anderen auch Altruismus. Im Sinne einer Selbstlosigkeit geht dies aber nicht nur über die Nächstenliebe (… wie mich selbst) hinaus, sondern nährt den Verdacht, dass es sich um eine ideologisches Mantra handelt, bei dem es eben nicht mehr um den konkreten Nächsten geht, sondern um ein Abstraktum. Genau das ist aber eine mögliche Form des Verständnisses des Liebesgebotes.

Jüngst, nicht zuletzt durch Nietzsche, wird diesem Altruismus ein verkappter Egoismus unterstellt. Der Wohltäter saugt seinen Nektar aus dem Gefühl, der Gute, der Anständige zu sein – und entlohnt sich damit selbst. Es ginge letztlich nicht um den Anderen, sondern ums eigene Gefühl oder die eigene Ideologie. Auch wenn dies mehr oder minder zutreffen mag, so könnte es ebenso ein ‚gutes‘ Gefühl der Macht bewirken, den Anderen eben verrecken zu lassen und keine Hilfeleistung zu gewähren. Warum also dennoch die Hilfeleistung? Das Argumentieren mit eigenen Gefühlen ist eine wenig stichhaltige Erklärung. Sie erklärt alles und nichts. Letztlich eine Tautologie. Natürlich gibt es auch eine Art blutleere Hilfe, eine die von Ideologie oder Gruppendruck bestimmt ist, und den Anderen gar nicht mehr wahrnimmt als Gegenüber. Von dieser Art Hilfe schreibt Paulus  in 1. Korinther 13:3

Und wenn ich alle meine Habe den Armen gäbe und meinen Leib dahingäbe, mich zu rühmen, und hätte der Liebe nicht, so wäre mir’s nichts nütze.

Hier wird nicht ausgeschlossen, dass der Hilfeleistende auch eine emotionalen Gewinn ziehen kann. Wenn sich aber die Tat in eben diesem erschöpft, den Anderen aber nicht wirklich sieht, und keine Interesse an ihm um seiner Selbst willen hat, dann handelt es sich offenbar um eine simulierte Liebe.

Ist nun die hier beschrieben Hinwendung zu Gott oder zum Nächsten eine Sache, die dem Willen unterworfen ist? Natürlich! Ich entscheide mich, ob ich hinsehen will und mich einlasse, oder ob ich wegsehe und mich verweigere. Wenn ich hinsehe, erkenne ich die Wohltaten Gottes in meinem Leben, dass Gott mich zuerst liebte … und ich kann ihm antworten, indem ich ihn wieder liebe.

Wenn ich hinsehe und sehe im anderen Menschen den, in dessen Haut auch ich stecken könnte, der ebenso wie ich denken kann, der seiner persönlichen Geschichte unterworfen ist und sich dazu verhält … dann kann ich ihn auch bejahen und ihm meine Hilfe zuteil werden lasse. Dann spielt die Stärke meiner Gefühle keine Rolle. Sie sind vielleicht blass, aber das stört jenen nicht, der eben diese Hilfe erfahren hat. Es mag sogar ein Impuls der Befriedigung geben, dass die Tat eben nicht wegen der Endorphine und dem guten Gefühl getan ist. Liebe ist nicht von Gefühlen abhängig. Gefühle können der Liebe helfen … oder sie erschweren.

Liebe ist zugleich eine Chiffre für die Beziehung schlechthin. Denn wer liebt, dem ist das Gegenüber eben nicht gleichgültig. Eine beziehungslose Liebe ist nicht denkbar. Aber ist denn jede Beziehung auch Liebe? Offensichtlich nicht, denn wir kennen ja auch Hass und Aggression.

Hass kann als emotionale Befindlichkeit auch ohne Beziehung auskommen. Ich muss den oder das Gehasste gar nicht kennen. Gerade, wenn ich den gehassten nicht sehe, ihn nicht kenne und auch nicht kennen lernen will, ist es nicht sinnvoll, von Beziehung zu sprechen. Sehe ich in dem anderen nur ein Stereotyp oder eine Projektion meiner Vorstellung, macht der Begriff Beziehung keinen Sinn.  Ist denn überhaupt Hass in einer Beziehung möglich? Ich denke ja.

Allerdings erscheint eine Hassbeziehung nur dann möglich, wenn ich den Anderen in seinem So-Sein auch wahrnehme. Hassbeziehungen können bei Verletzungen auftreten, bei Schuld, bei einem Nicht-Vergeben-Wollen. Aber auch hier ist die Wurzel eine zerstörte Liebe. Die Ursache aber bleibt die Liebe, die aber auch zerbrechen kann.

Der eigentliche Gegensatz zur Liebe ist nicht der Hass, sondern die Beziehungslosigkeit, die Gleichgültigkeit.

 

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