Wissen um die eigenen Grenzen … welche Konsequenzen?

Wir können sowohl sicher herleiten, dass menschliches Wissen immer Stückwerk bleiben muss – so hat es auch Paulus erklärt. Das aber rechtfertigt nicht, irgend etwas zu glauben und menschliches Wissen völlig zu verachten und zu ignorieren.  Einige Menschen wissen immer etwas mehr.  Wäre es dann nicht gut, den Experten zu vertrauen?

Aber warum sollten wir überhaupt jemanden vertrauen? Es könnte jener das Vertrauen missbrauchen, oder er begeht ebenso unvermeidliche Irrtümer – und wir haben uns mittels Vertrauen die eigene Kontrolle abgegeben. Also: Selbst wenn jener Experte die ultimative Wahrheit kennte, und dabei völlig aufrichtig sein Wissen mitteilen will, so könnten wir dies weder von wohlmeinenden Irrenden noch dem geschickten Betrüger unterscheiden.

Zudem gibt es in vielen Fragen oft exzellente Experten, die allerdings konträre Ansichten vertreten. Wer hat da recht? Wem sollte ich denn glauben?

In Fragen der Erkenntnis kommen wir entweder um ein blindes Vertrauen nicht herum, oder wir müssen selbst nach der Erkenntnis suchen. Also das persönliche Kalkül, die Offenbarung und die Erfahrung des Geglaubten. Dieser Weg führt unvermeidlich in die Argumentation. Bei vielen Themen ist das aber beliebig komplex, z.B. in den Diskussionen um die Klimawarnungen.

Ein Unterschied macht auch die Bedeutung des Themas für das eigene Denken: Ist es ein Randthema von geringem Interesse, so wird man mit bloßem Meinen zufrieden sein. Neue Informationen wird man leichter mit Neugier auffassen, zumal sich eigene Ansichten hier nicht verfestigt haben dürften.

Existenzielle Themen der eigenen Identität oder Themen von besonderen Interesse dürften aber auf ein mehr oder minder breites Vorwissen und mehr oder weniger starke Vorfestlegungen stoßen. Hier dürfte es sehr schwer sein,  grundlegenden Wandel durch ein gutes Argument zu erwarten.

Hintertüren-Argumente sind solche, die zunächst wie solche von Randinteresse erscheinen, sich aber dann als Hebel erweisen, um auch einen Wandel im Bereich der existenziellen Fragen zu bewirken. Das muss nicht immer schlecht oder fragwürdig sein. Vielleicht kann es eine Hilfe sein, fragwürdige und irrtümliche Ansichten aufzubrechen, um so zu einer besseren Erkenntnis zu gelangen. Es kann aber auch wie die versteckte Verführung sein, die eben argumentative Schutzmaßnahmen unterläuft.

Nun mag es Akademiker oder engagierte Laien geben, die sich selbst sachkundig machen … für mich ein Königsweg. Viele Menschen hegen aus knapper Zeit oder begrenzten kognitiven Ressourcen nur wenig Interesse, sich mit den Themen beschäftigen. Was kann man tun, wenn man sich hier zu keiner eigenen Analyse durchringt? Gibt es da Hinweise und Methoden? Was kann man einem Dritten raten, wie er weiter vorgehen soll, ohne dass hier Unredlichkeit einen Hebel hat?

Das Dilemma

Nun wird der Mensch sich entweder verschließen und in allem, was seinem Denken in grundlegenden Denken widerspricht, stereotyp abblocken. Das nennt man dann Fundamentalismus oder Dogmatismus. Meines Erachtens ist diese Haltung weder an bestimmte Lehren oder Dogmen gebunden, noch tritt diese Haltung immer klar und offen zu Tage.  Sie fällt nur bei verschrobenen Gruppen, die den eigenen Überzeugungen ferne stehen, um so stärker auf. Als Beispiel werden hier gerne die Zeugen Jehovas genannt.

Oder der Mensch ist gegenüber allem offen und lässt beliebige Argumente zu und ist bereit, seine bisherigen Ansichten über Bord zu werfen. Zunächst erscheint das wesentlich attraktiver. Darum geben viele Menschen vor,  genau das zu tun. Und die meisten werden auch selber glauben, dass es so wäre. Indes beobachten wir in realen Diskussionen immer wieder, dass auch jene, die sich selbst für gesprächsoffen halten, sich auf Vorfestlegungen zurück ziehen. Sie argwöhnen, dass das stärkere Argument lediglich ein rhetorischer Trick sei und immunisieren sich gegen dessen Kraft. Denn auch hier ist ein Gefahr offensichtlich: Wer sich von beliebigen Argumenten bequatschen lässt und so sein Ziel verliert und auf Abwege gebracht wird, hat offensichtlich etwas falsch gemacht.

Das Problem ähnelt demjenigen von Odysseus, als er eine Meerenge durchqueren musste: Auf der einen Seite Scilla, ein Strudel, der das Schiff in die Tiefe zieht, auf der anderen Seite das Ungeheuer Karybdis, dass die Mannschaft dezimiert. Einen Königsweg gibt es nicht.

So auch hier: Entweder ein Fundamentalismus, der sich gegen die Erkenntnis immunisiert und im Irrtum verharrt, oder eine Offenheit, die einem die Orientierung raubt.

Skurril sind dann nur jene, die einerseits den Fundamentalismus jener denunzieren, die eben anderer Ansicht sind, aber den eigenen Fundamentalismus nicht wahrnehmen. Es ist wie der Balken im eigenen Auge,  der nicht hindert den Splitter im Auge des Anderen zu beklagen. Vielmehr werbe ich um Verständnis für die Fundamentalisten. Nicht, weil ich jenen eine Carte Blanche, einen Freibrief zugestehen will, beliebiges zu glauben, sondern weil es Gründe gibt, warum manche so denken … und weil wesentlich mehr Menschen eine ähnliche ‚Krankheit‘ plagt.

Ich misstraue darum zumeist den Anklagen des Fundamentalismus, den oft die einen Fundamentalisten den anderen Fundamentalisten vorwerfen. Der Kniff der Ankläger ist dann, dass sie sich selbst betrügen und den eigenen Fundamentalismus weg erklären: Es sei gar keine fest Lehre, keine unveränderbare Meinung, sondern sie selbst seien ja den besseren Argumenten offen, d.h. ihren Argumenten. Das erweist sich oft aber als Illusion und Selbstbetrug.

Wer dagegen weiß, dass Fundamentalismus auch Gründe haben kann, und dass dieser als Haltung sehr viel verbreiteter ist als angenommen, wird in seinem Urteil zur Person viel milder sein. Aber das ändert nichts daran, den Fundamentalismus als Verhinderer der Erkenntnis, als Kritikimunisierungsstrategie zu geißeln.

Konsequenzen

Wenn man mir darin folgt, dass es keinen Königsweg gibt, wird man ähnlich wie Odysseus den Schaden minimieren wollen. Man wird Risiken eingehen, die einen selbst nicht unbeschadet lassen. Konkret: Man wird sich der Reflektion und der Kritik stellen, aber nicht unbegrenzt. Vor allem wird man sich über seine eigenen Vorbehalte und Blockaden nicht selbst betrügen wollen.

Wer weiß, dass er persönliche Grenzen hat, auch der Zeit und der Fähigkeiten, wird sich vor einer falschen Verfestigung von Einstellungen hüten. Denn im Laufe des Lebens neigen Menschen dazu, dass sie sich immer stärker einer Position zuwenden und sich mit ihr identifizieren. Sie suchen nach Leuten, die diese Meinung teilen und lesen Nachrichten und Texte, die in die gleiche Kerbe schlagen. Und das gilt weitgehend für jeden: Den Umweltaktivisten ebenso wie für den Kirchgänger, die politisch Rechte wie für die Mitte oder die Linke.  Keine Grundeinstellung ist vor diesen Effekten gefeit. Es liegt auf der Hand, dass eine Fixierung dann kein Problem ist, wenn man bereits vor Irrtümern sicher zu sein scheint – aber es verstellt auch die Möglichkeiten, Irrtümer zu erkennen.

Weitere Gefahren … unterschwellige Berieselung

Wir haben nun die Gefahr beachtet, dass man sich gegen Kritik immunisiert, und somit einen Irrtum nicht mehr erkennen kann wie auch die Gefahr, durch scheinbar überlegen Argumente betrogen zu werden und die Orientierung zu verlieren. Ebenso die Gefahr der Bestätigungs-Blase, in der man sich immer nur mit dem eigenen Denken beschäftigt und die Bestätigung von Anderen sucht. Im realen Leben aber gibt es eine weit akutere Gefahr:

Ohne sich dessen bewusst zu sein erlebt man durch ständige Wiederholung und den Eindruck, dass alle so denken würden, eine Glaubensüberzeugung, die letztlich durch nichts gerechtfertigt ist. Wegen des unterschwelligen Charakters fallen häufig Kontrollinstanzen und Prüfungen weg. Man konsumiert in Neugier Meinungen und Nachrichten, ohne diese für wegbestimmend zu halten. Mit der Zeit formt sich jedoch auch hier ein sich verfestigendes Bild, dass ebenso eine Scheinwelt sein kann.

Wir wissen, dass einzelne Experten irren können und auch Gruppen von Experten, eine vorherrschende Expertenmeinung und die Meinungen echter oder gefühlter Mehrheiten – absolut nichts gibt eine begründete Wahrheit oder auch nur sichere Wahrscheinlichkeit über einen Sachverhalt. Als markantes Beispiel soll die Nazizeit dienen. Auch hier waren gefühlte Mehrheiten systemtreu und haben moralische Prinzipien über Bord werfen lassen. Wenn es damals geschehen konnte … warum nicht heute und in jeder Zeit ebenso?

Kann nicht der Pluralismus und die gemäßigte bürgerliche Gesellschaft derartigen Entgleisungen Einhalt gebieten? Viele glauben dies,  aber ist eine lauwarme, weichgespülte und pragmatische Einstellung tatsächlich näher dran an der Wahrheit und an dem Guten? Ist der Zeitgeist eine Kategorie der Wahrheit?

Ich meine: Wir haben keinen Grund, das zu glauben. Auch wenn eine Gesellschaft positive Werte vertritt und es mehr Menschen ermöglicht in Frieden und Wohlstand zu leben, ist lediglich gesagt, dass sie funktional ist. Wäre aber eine funktionale Gesellschaft, die auf einer Lüge aufbaut, besser als eine gefährdete Gesellschaft, die der Wahrheit verpflichtet bleibt und darin auch die Gefahr der Dysfunktionalität beinhaltet? Ich meine nein, denn die Wahrheit wird auch zu einer funktionalen Gesellschaft führen.

Hoffnung

Bei all den Möglichkeiten, dem Irrtum anheim zu fallen und in ihm zu verharren, mag man pessimistisch annehmen, dass es kein Entrinnen aus der Irrtumsfalle gibt. Das meine ich nicht. Denn es gibt auch Gegenkräfte. Die Vernunft und die Fähigkeit, eigene Gedanken und Ansichten zu reflektieren, mögen zwar nicht unfehlbar sein, sind aber wichtige Gefährten auf dem Weg der Erkenntnis. Sie können vor manchen Irrtümern bewahren.

Orientierungspunkte

Ein Wegweiser ist für mich der Paulinische Imperativ (1.Thess 5.21):

Prüft alles, das Gute behaltet!

Das stellt die Frage, was denn das Gute sei? Ist es ausschließlich das moralische Gute? Nicht ganz, denn eine Lüge, auch wenn sie in ehrbaren Motiven erfolgt, kann nicht gut sein, und auch der Irrtum ist darum zu vermeiden. Aber es hat auch eine moralische Komponente:

Wenn es zwei Deutungsmöglichkeiten gibt, die hinsichtlich ihrer Plausibilität gleich sind, so wähle jene, die moralisch besser ist. Somit trägt das Gewissen zur Wahrheitsfindung bei. Wohl gemerkt: Eine Deutung, die zwingend plausibel ist, aber mit negativen Wertungen zu tun hat, ist keineswegs wegen einer rosigen Variante, die aber der Plausibilität mangelt, zu verwerfen.

Und was heißt Prüfung?  Das habe ich bereits in Was ist Wahrheit? erläutert …

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