Es ist nun schon über 2 Jahre her, dass ich die Artikel Wehe und Wohl des Dogmas und Prüfkriterien für Dogmen schrieb. Im Kommentarbereich fand ich jüngst einen ansonsten unkommentierten Hinweis auf einen anderen, gleich titulierten Artikel mit den Verweis auf meinen Text in dem Blog
HEIMDALL WARDA – Die das Gras wachsen hören
Dort wurde auf Thomas Metzinger verwiesen, der 2013 einen interessanten Text veröffentlichte: Spiritualität und intellektuelle Redlichkeit – Ein Versuch Der Text geht über das enge Thema des Dogmas hinaus und setzt bei der Veränderung im modernen Selbstverständnis an. Gerade am Dissens dazu entzündete sich das Verlangen nach der Klärung zwischen expliziten und impliziten Dogmen.
Doch zunächst … HEIMDALL WARDA ergänzt dort:
In der lateinisch schreibenden Philosophie verwendet man folgende gleichartige Begriffe:
decretum (Grundentscheidung),
assertio (rechtsverbindliche Erklärung bzw. versichernde Behauptung),
scitum (etwas, das als Bewusstsein vorausgesetzt ist),
placitum (etwas, das als sinnenfällig – also durch die 5 Sinne erfahren – vorausgesetzt ist) oder
primum principium (zugrundegelegter Ausgangssatz – grundlegende Annahme, auf der alle weiteren Gedanken und Schlußfolgerungen aufbauen. Ist die grundlegende Annahme, das sogenannte Axiom falsch, ist auch alles darauf Aufbauende falsch)
Das Dogma stand – als durchweg positiv besetzter Begriff – für Klarheit und Eindeutigkeit, für die unhinterfragbare Diskussions-, Lebens- oder Handlungsgrundlage.
Metzinger schreibt:
Könnte es ein modernes spirituelles Selbstverständnis geben, das den veränderten Bedingungen Rechnung trägt und mit dem (nicht nur für Philosophen wichtigen) Wunsch nach intellektueller Redlichkeit in Einklang zu bringen ist?
Diese Besprechung will den Text nun in diesem Kontext betrachten: Ist die Veränderung in Gesellschaft und Selbstverständnis dann dergestalt, dass durch die Frage nach der Spiritualität die Frage nach dem Prinzip Dogma völlig andere Antworten erfordert?
Intellektuelle Redlichkeit
Es geht hierbei klar um die Frage nach der eigenen Konsistenz des Denkens. Ist man bereit, konsequent das Eigene auch umzusetzen?
Intellektuelle Redlichkeit bedeutet, dass man einfach nicht bereit ist, sich selbst etwas in die Tasche zu lügen. Sie hat auch etwas mit sehr altmodischen Werten wie Anständigkeit, Aufrichtigkeit und Ehrlichkeit zu tun, mit einer bestimmten Form von „innerem Anstand“. Man kann vielleicht sagen: Sie ist eine sehr konservative Weise, wirklich subversiv zu sein.
Es stellt sich die Frage, was hier mit subversiv gemeint ist. Auch ein Nachschlagen führt hier nicht wirklich weiter:
Der Begriff der Subversion (lat.subversio „Umsturz“, „Zerstörung“) hat mehrere Bedeutungen. Allgemein bezieht sich der Begriff auf Vorgänge, Bestrebungen oder Darstellungen, die eine bestehende soziale Ordnung (Autoritäten, gesellschaftliche Zugehörigkeiten und Hierarchien, Ausbeutung von Gruppen, Machtkonzentrationen usw.) in Frage stellen bzw. verändern wollen.
Das irritiert, denn die intellektuelle Redlichkeit ist zunächst nicht die Frage nach Außen oder an Dritte, sondern die Reflektion des eigenen Standpunktes: Bin ich selbst über jeden Zweifel erhaben oder grundsätzlich auch korrumpierbar? Dies führt konsequent zur klaren Antwort: Natürlich bin ich selbst anfällig, mir selbst etwas in die Tasche zu lügen. Es ist nicht damit getan, diesen Wert der intellektuellen Redlichkeit als Kerntugend zu preisen, um diese dann ohne weiteres Hinterfragen für sich als selbstverständlich zu beanspruchen. Vielmehr bleibt es die beständige Aufgabe und Mahnung zu prüfen, ob ich mich selbst auf diesem Pfad der Tugend bewege, oder ob ich nicht doch der Versuchunge schleichend erlegen bin, diese hehren Ziele nicht mehr bestimmend im eigenen Denken sein zu lassen.
Zugleich aber soll in der Diskussion weder die eigene Erpressbarkeit, nämlich der Vorwurf, man folge jenem Ideal nicht, noch die stereotype Abwehrhaltung gegen derartige Kritik, der Diskurs auf eine Metaebene verlagert werden. Die Forderung nach Konsistenz in den vorgetragenen Argumenten bringt jenen Diskurs wieder von der persönlichen Ebene der Reflektion ein Stück zurück auf eine diskussionsfähige Grundlage. Damit sollte vermieden werden, mit Strohmännern und ad hominem Argumenten die Sacharbeit zu verlassen.
Genau diesem Verdacht, eine unredliche Diskussion zu führen, gibt
Metzinger auf Seite 11 Nahrung:
Intellektuelle Redlichkeit ist möglicherweise aber auch gleichzeitig genau das, was Vertreter der organisierten Religionen und Theologen aller couleur einfach nicht haben können, auch wenn sie es gerne für sich in Anspruch nehmen würden.
Der Weichmacher möglicherweise ist hier keine Entschuldigung, denn wenn jene etwas nicht haben können, dann ist einKonjunktiv fehl am Platz – dies ergibt sich nicht aus der faktischen Richtigkeit der Behauptung, sondern der inneren Logik der Aussage. Sind aber eine Gruppe von Menschen, die zusammenfassend ein Position vertreten, unter besonderer Gefahr, nur möglicherweise korrumpierbar, so stellt sich die Frage nach der Redlichkeit des Verdachts: Ist nicht möglicherweise jeder unter diesem Grundverdacht … auch man selbst? Warum dann eine diskrete Gruppe exklusiv verdächtigen und sich selbst gerade nicht zu reflektieren? Die Pauschalierung in der Gruppenbildung, die gar nicht mehr das Interesse an einer individuellen Diskurs zu haben scheint und eher ein finales Urteil transportiert.
Auf Seite 16 schreibt Menzinger ohne Weichmacher:
Und das ist es, was ich am Anfang damit meinte, dass intellektuelle Redlichkeit das ist, was Theologen und die Vertreter der organisierten Religion aller Art einfach nicht haben können.
Dies ist eine Polemik, die dem Grundgedanken der Redlichkeit widerspricht.
Intellektuelle Redlichkeit bedeutet ja gerade, dass man nicht vorgibt, etwas zu wissen oder auch nur wissen zu können, was man nicht wissen kann, dass man aber trotzdem einen bedingungslosen Willen zur Wahrheit und zur Erkenntnis besitzt, und zwar selbst dann, wenn es um Selbsterkenntnis geht, und auch dann, wenn Selbsterkenntnis einmal nicht mit schönen Gefühlen einhergeht oder der akzeptierten Lehrmeinung entspricht.
Diese Schräglastigkeit der Definition sollte alarmieren: Auf den ersten Blick erscheint die Darstellung zutreffend zu sein, aber wir erinnern uns an Odysseus und sein Fahrt zwischen Skylla und Charybdis: Die Gefahr lauert nicht nur auf einer Seite und ein Königsweg, mit dem man unbeschadet der Gefahren entgeht, ist nicht immer möglich. So auch hier: Die Vermeidungsstrategie, einer vermeintlich bedrohlichen Lehrmeinung zu entgehen ist nicht dadurch zu leisten, in dem man sich einer andern, nicht weniger problematischen Lehrmeinung anschließt. Die Suche nach Positionen, die nicht den eigenen Interessen entsprechen, ist per se auch kein qualitativ besserer Standpunkt. Denn in jüngerer Zeit findet sich genau diese irrige Positionen, das Misstrauen gegen eigene Interessen so stark zu überbetonen, dass deren Negation einen eigenen Wert zu bekommen scheinen. Das aber öffnet sich nur um so absurderen Fehlern, die durch die mehrfache Brechung immer mehr und unbemerkt die eigene Integrität verletzen. Natürlich kann dies keineswegs die intellektuelle Redlichkeit sichern, sondern sich nur gegen Selbstkritik immunisieren.
Die Einstellung, das Eigeninteresse als egoistisch und minderwertig zu denunzieren, finden wir oft in der theoretischen Beschäftigung mit der Ethik und im politischen Diskurs. Im persönlichen Lebensvollzug wird aber dem Eigeninteresse nach wie vor eine klare Priorität eingeräumt. Das führt zwangsläufig zu einer Spannung, die die intellektuelle Redlichkeit auf eine harte Probe stellt. Vor allem, wenn Heuchelei vor allem bei Dritten festgestellt wird, nicht aber bei sich selbst. Es sei denn, man versteht das Eigeninteresse, gar den Egoismus, keineswegs als moralisch minderwertig, sondern sieht in seiner Ethik einen Platz. Ayn Rand vertritt Virtue of Selfishness:
Ayn Rand rejects altruism, the view that self-sacrifice is the moral ideal. She argues that the ultimate moral value, for each human individual, is his or her own well-being. Since selfishness (as she understands it) is serious, rational, principled concern with one’s own well-being, it turns out to be a prerequisite for the attainment of the ultimate moral value. For this reason, Rand believes that selfishness is a virtue.
So weit muss man nicht gehen, aber offensichtlich ergeben sich aus dieser Pragmatik heraus weit weniger Spannungen zwischen einer idealisierten Ethik und dem praktischen Lebensvollzug.
Wissen und Gewissheit
In dem o.g. Zitat, aber auch an mehreren anderen Stellen in Metzingers Text wird die Frage nach dem Wissen gestellt: Wissen wird zumeist als
traditionell als wahre und gerechtfertigte Meinung beschrieben.
Als Wissen wird üblicherweise ein für Personen oder Gruppen verfügbarer Bestand von Fakten, Theorien und Regeln verstanden, die sich durch den größtmöglichen Grad an Gewissheit auszeichnen, so dass von ihrer Gültigkeit bzw. Wahrheit ausgegangen wird. Paradoxerweise können daher als Wissen deklarierte Sachverhaltsbeschreibungen wahr oder falsch, vollständig oder unvollständig sein. In der Erkenntnistheorie wird Wissen traditionell als wahre und gerechtfertigteAuffassung (englischjustified true belief) bestimmt.
Zugleich aber wissen wir spätestens seit Popper und dem kritischen Rationalismus, dass man die zweifelsfreie Erkenntnis der Wahrheit nicht reklamieren kann. Schon Platon zeigte in seinen Aporien die Fragwürdigkeit vermeintlichen Wissens und begründete eine Erkenntnistheorie, die nicht vermeintlich Selbstverständliches unhinterfragt akzeptiert. Auch Paulus schreibt in 1.Korinther 13
8 … und die Erkenntnis aufhören wird.9 Denn unser Wissen ist Stückwerk …
Unvollständiges Wissen kann sich durch eine andere Perspektive als fehlerhaft erweisen. So glauben wir ja einige der Fehler antiker Denker dadurch zu entlarven, dass unser Kenntnisstand durch die Wissenschaft wesentlich weiter fortgeschritten ist. Was aber sollte uns glauben lassen, dass unser aktueller Kenntnisstand, der offensichtlich aus stark lückenhaft ist, jener absoluten Wahrheit zu entsprechen?
Eine einfache Überlegung macht das deutlich: Wenn wir von der Existenz einer Realität ausgehen, die nicht von der subjektiven Ansicht abhängig ist, dann müsste sich diese mit einem endlichen Vorrat an wahren Sätzen beschreiben lassen. Diese Menge wahrer Sätze müsste sich auf die Menge der wesentlichen Sätze reduzieren lassen, die ein hinreichend klares und widerspruchsfreies Bild ergeben, die zu keinem anderen wahren Satz in Widerspruch steht. Wie groß ist nun die Menge jener bekannter Sätze in Beziehung zu jener Menge wesentlicher Sätze? Ist jenes finale Wissen bereits zu 90 % bekannt, und wir stehen in Sichtweite zur Klärung finaler Fragen? Oder sind wir eher bei einem Prozent des wesentlichen Wissens? Oder sind wir gar zur Erkenntnis gelangt, dass wir gar nicht sicher wissen können, ob ein beliebiger, für wahr gehaltener Satz unzweifelhaft wahr ist? Also wieder zurück bei Platon: Ich weiß, dass ich nicht weiß?
Popper spannte den Bogen von Platon in die Postmoderne: Der kritische Rationalismus geht davon aus, dass es finale Gewissheit nicht geben kann, aber das wir unter Vorbehalt dennoch eine pragmatisch verlässliche Überzeugung hegen dürfen. Nichts anderes ist das Grundverständnis des Begriffes Glauben, dass darum auch nicht im Gegensatz zum Begriff Wissen stehen kann, sondern sich in einem fallweise zu klärenden Verhältnis der Verlässlichkeit. Auch wenn uns das absolute Wissen verwehrt bleibt, so wollen wir dennoch die Ungewissheit minimieren und Irrtümer möglichst ausschließen. Wir suchen Erkenntnis, und das ist mehr als legitim – es ist eine dem Menschsein inhärente Verpflichtung, die sich auch aus der Tugend der intellektuellen Redlichkeit ergibt.
Erkenntnistheorie und Empirie
In der Suche nach Gewissheit hat sich die Erkenntnistheorie auf einen Methodenraum vor allem in der Wissenschaft eingeschossen. Man sucht auf die persönliche Wahrnehmung zu verzichten und die Erkenntnis zu objektivieren. Die Empirie erhält darin einen sehr hohen Stellenwert:
Empirie [ɛmpiˈʀiː][1] (von ἐμπειρία empeiría ‚Erfahrung, Erfahrungswissen‘) ist eine methodisch-systematische Sammlung von Daten. Auch die Erkenntnisse aus empirischen Daten werden manchmal kurz Empirie genannt.
In der Wissenschaftsphilosophie wird der Empirie als Erfahrung, die zu einer Hypothese führt (oder diese auch widerlegt), die Evidenz gegenübergestellt, also die unmittelbare Einsichtigkeit einer wissenschaftlichen Behauptung.
In der Naturwissenschaft ist die Empirie ein Kernelement. Ohne diese bleiben Theorien eher unzuverlässige Hypothesen. Diese Methode erwies sich als enorm erfolgreich und ist eng mit dem Naturalismus verknüpft. Aber es bleibt fraglich, in wie weit diese auch übergreifende Bedeutung hat. Bereits bei den Human- und Geisteswissenschaften wurde erkennbar, dass dieser methodische Ansatz begrenzt und teils fruchtlos blieb. Man produziert gerne eine Schein-Empirie, die einen Anspruch der Objektivität vermitteln will, aber letztlich nur ein Vehikel ist, andere Argumente zu legitimieren … oft mit zweifelhafter Praxis. Der Positivismusstreit zeigte genau dieses. Im praktischen Leben und auch in der philosophischen Metaphysik ist dieser weitgehend nutzlos. Denn die Empirie kann keine Auskunft darüber geben, ob meine Frau mich liebt, oder ob ich meine Frau liebe, ob meine Investitionsentscheidungen gut sind, ob meine Altersvorsorge ausreichend ist oder welche Berufswahl ich treffen kann.
Ebensowenig ist die Empirie als Methode geeignet, Fragen der Metaphysik zu klären, denn der Ansatz schließt Wirkzusammenhänge über das mechanisch-physikalische hinaus als Prämisse aus. Ein ontologischer Naturalismus ist darum eine dogmatische Position, die eine darüber hinaus reichende spirituelle Welt methodisch gar nicht fassen kann. Stellen wir uns vor, Zeitreisende oder Aliens landen im 17. Jahrhundert bei den damaligen Eliten ihrer Zeit und verwenden zur Telekommunikation Funkwellen. Die damaligen Zeitgenossen hatten nicht die blasseste Ahnung von einer Funk-Technologie und müssten diese Technik für Magie halten. Extrapoliert auf heute ergibt sich die Problematik der eingeschränkten naturalistischen Erkenntnismöglichkeit. Nun wäre die Funktechnologie noch recht deterministisch, die eine Erforschung auch damals grundsätzlich möglich gemacht hätte. Nicht-deterministische Phänomene, wie personale Interaktion oder einmalige Ereignisse, entziehen sich dem empirischen Ansatz vollständig.
Wenn Metzinger unkritisch die Empirie als das Kernkriterium zu Fragen der Metaphysik vorträgt liegt es im Urteil des Lesers, die als dogmatisch verengt oder als gar dümmlich zu disqualifizieren.
Fideismus
Metzinger hegt diesen Begriff als charakteristisch für den Glauben und Bezugnahme auf Dogmen schlechthin aus.
Fideismus nennt man in der Philosophie die Idee, dass es völlig legitim ist, an einer Überzeugung auch dann festzuhalten, wenn es keine guten Gründe oder Evidenzen für sie gibt, sogar angesichts überzeugender Gegenargumente. Der Fideismus ist also der reine Glaubensstandpunkt. Für den Fideisten ist es legitim, an bestimmten Überzeugungen festzuhalten, nicht nur ohne irgendwelche positiven Argumente oder Evidenzen für sie, sondern selbst angesichts starker Gegenargumente und starker empirischer Belege gegen eigene Überzeugungen. Das Interessante daran ist jetzt, dass man den Fideismus als die Verweigerung jeder ethischen Einstellung zum inneren Handeln überhaupt beschreiben kann. Er ist ein Mangel an innerem Anstand. Und das ist der klassische Standpunkt der organisierten Religion im Gegensatz zur Spiritualität.
Das riecht gewaltig nach Strohmann, denn die Einstellungen zum Glauben und Dogma sind in allen möglichen Glaubensgemeinschaften äußerst heterogen. Das Nachschlagen zum Begriff zeigt, dass dieser Begriff so auch nicht gültig zu übertragen ist:
Der Fideismus wurde durch Joseph de Maistre und Louis de Bonald begründet, dann durch Félicité de Lamennais (Essai sur l’indifférence en matière de religion I–IV, 1817–1823) fortgebildet. Ähnliches findet sich auch bei Louis Eugène Marie Bautain. Diese Theologen waren der Ansicht, dass einzige Quelle des Glaubens und deswegen auch Ursprung des religiösen Wissens eine übernatürliche Offenbarung sei.[2]
Diese Lehre, die der menschlichen Vernunft grundsätzlich misstraute, wurde in der folgenden Zeit von der katholischen Kirche bekämpft und 1838 offiziell verurteilt.
Auch wenn man diesen Ansatz für wenig überzeugend hält, ist die Charakterisierung als ‚Mangel an innerem Anstand‘ völlig unhaltbar. Denn auch wenn man dem rationalen Argument selbst eine grundsätzliche Gültigkeit bescheinigen möchte, so ist doch der Verdacht, dass es sich auch darin nur um eine Scheinargumentation, ähnlich gut fabrizierter Verschwörungstheorien, nicht völlig von der Hand zu weisen. Vor allem jene, die entweder nicht Willens oder nicht in der Lage sind, ein Argument auf Stichhaltigkeit zu prüfen und die Überzeugung von Dritten auch nicht ungeprüft übernehmen wollen, dürfen in voller moralischer Integrität jenes vermeintliche Argument auch zurück weisen. Ein Dissens in Methode und Sache ist zwar zulässig und m.E. auch geboten, rechtfertigt aber nicht jene Polemik.
Immerhin zitiert Metzinger selbst den britischen Philosophen John Locke:
„Wer glaubt, ohne einen vernünftigen Grund zum Glauben zu haben, mag in seine Einbildungen verliebt sein, aber er sucht weder die Wahrheit so, wie er sollte, noch erweist er seinem Schöpfer den schuldigen Gehorsam. Denn es ist die Absicht des Schöpfers, dass der Mensch die Erkenntnisfähigkeit, die ihm verliehen wurde, anwenden soll, um Irrtum und Täuschung zu vermeiden.“
Die Logik erfordert aber unbedingte Beachtung, wenn es um die Redlichkeit geht. Ein erkennbarer Fehlschluss verletzt eben jene:
Die intellektuelle Redlichkeit ist für Nietzsche der „Höhepunkt“ und die „letzte Tugend“ in der griechisch-christlichen Geistesgeschichte, denn sie führt zur Selbstaufhebung der religiös-moralischen Interpretation des Willens zur Wahrheit. Was genau bedeutet das? In seiner höchsten Form führt der Wille zur Wahrhaftigkeit dazu, dass man sich selbst eingestehen kann, dass es keinerlei empirische Belege für die Existenz Gottes gibt, und dass über viertausend Jahre der Philosophiegeschichte kein überzeugendes Argument für die Existenz Gottes hervorgebracht haben.
Der hier demonstrierte Fehler nennt sich non-sequitur. Denn seit Aristoteles liegt bereits ein gültiger Schluss vor. Auch wenn Kant meinte, diesen widerlegt zu haben, so ist doch der Verweis auf einen denkbaren infiniten Regress keine Widerlegung des Verweises Aristoteles auf den unbewegten Beweger. Folglich hielten viele Philosophen bis in die aktuelle Zeit dieses oder ähnliches für ein überzeugendes Argument. Kant selbst hielt den moralischen Gottesbeweis für gültig. Nun denn, es mag für Metzinger nicht überzeugend sein, aber dann ist seine Diktion unpassend und eine weitere Verletzung der Redlichkeit. Der verweis auf die Empirie zieht darum nicht, denn aus der bloßen Existenz, die empirisch sehr wohl fassbar ist, ann auf den Ursprung gefolgert werden.
Den britischen Philosophen und Mathematiker William Kingdon Clifford schätzt Metzinger sehr und zitiert diesen:
Es ist zu jeder Zeit, an jedem Ort und für jede Person falsch, etwas aufgrund unzureichender Beweise zu glauben.
Ohne nähere Begründung erscheint dieser Satz nicht nur als kaum nachvollziehbares Dogma, dass ihrerseits unzureichend begründet ist und darum zu einem performantiven Widerspruch führt, sondern widerspricht auch gerade der Definition von Glauben. Es ist auch gänzlich unpragmatisch. Warum soll ich an die Liebe meiner Frau nicht glauben – weil sie dies grundsätzlich nicht belegen kann?
In der akademischen Philosophie nennt man diese Position ganz einfach „Evidentialismus“. Das heißt, dass man nur etwas glaubt, für das man wirklich Argumente und Belege hat.
Der Grund, warum man diesen Begriff so selten in der Literatur findet, mag daran liegen, dass er vom Positivismus kaum zu unterscheiden ist. Unnötig zu erwähnen, dass der Positivismus seit langem als überholt gilt.
Dogma und Wahrheit
Der hier propagierte Ansatz zur Wahrheitstheorie ist die Suche nach der Kohärenz im Verständnis: Die Wahrheit benötigt nicht ein Dogma, das unhinterfragt bleiben muss, sondern das Dogma ist eine mehr oder minder beliebige Prämisse, die sich der Prüfung durch andere Erkenntnisse stellen muss. Auf diese Weise können untaugliche Dogen als inkonsistent und damit unglaubwürdig erkannt werden. Dogmen aber, die nicht auf diese Weise eliminiert werden können, sind zulässig. Sie müssen aber bei Existenz alternativer Dogmen, die ebensowenig eliminiert wurden, nicht geglaubt werden, sondern bleiben als intellektuell redliche Möglichkeiten. Vertretbar ist die These, dass sich widersprechende Dogmen durch den fortschreitenden Prozess der Konsistenzprüfung auflösen lassen, beziehungsweise begründete Präferenzen finden lassen. Ist dies (noch) nicht möglich, ergibt sich die Frage nach der persönlichen Entscheidung. Wenn es keine hinreichenden objektiven Kriterien gibt, eine Präferenz eines zulässigen Weltbildes über das eines anderen zulässigen Weltbildes zu stellen, ist es nicht nur legitim, ein Weltbild zur Grundlage des eigenen Denkend zu wählen- und das zumindest vorläufig.
Das behauptete Nichtentscheiden beim Fehlen zwingender Argumente als Agnostizismus wirkt nur auf den ersten Blick als die redlichere Position. Denn in der Pragmatik kann man z.B. die aus der Existenz Gottes geforderte Anbetung Gottes nicht gleichzeitig betreiben zur radikalen Ablehnung einer vermeintlich nicht-existenten Entrität. Der Agnostizismus führt dann zu einem praktizierten Atheismus oder zu einer ritualisierten, aber leeren Glaubensübung, der man aber nicht wirklich anhängt. Darum ist nur ein Entscheidung unter Irrtumsvorbehalt die Position, die man auch konsistent umsetzen kann.
Die grundsätzliche Irrtumsmöglichkeit schließt ein, dass jedes Weltbild der permanenten Prüfung anheim gestellt bleiben muss: Ergeben sich bis dahin unbekannte Gründe, jenes Weltbild und die zugrunde liegenden Dogmen zu verwerfen oder zu modifizieren, ist es gerade die Frage der Konsistenz und der intellektuellen Redlichkeit, diese Gründe auch zu berücksichtigen. Der Gläubige muss dies jedoch nicht mit Angst und Ignoranz zurückweisen: Er ist darum gläubig, weil er von der Wahrheit des Geglaubten überzeugt ist. Wenn diese Überzeugung gerechtfertigt ist, braucht er keine neue Erkenntnis zu fürchten. Sie wird das geglaubte nur bestätigen oder verbessern können. Wenn sich das Geglaubte aber als grundsätzlich als inkonsistent erweist, kann es nur zum Nutzen sein, sich der Illusion zu entschlagen.
Vor allem der schlichte Gläubige neigt allerdings zu einer Immunisierung gegen Argumente, die seinem Glauben widersprechen. Abgesehen von einem psychologischen Faktor, der dieses Verhaltensmuster in allen möglichen Kontexten erkennt, nicht nur in Fragen der Weltanschauung, ist es durchaus rational, sich nicht auf Argumentationen unbesehen einzulassen, von denen nicht im vorhinein klar ist, ob diese auf Wahrheit, Irrtum oder gar einem Betrugsversuch beruhen. Man könnte es gar für eine Form der Überheblichkeit halten, einem jeden zuzuhören und die eigene Urteilskraft für hinreichend zu halten, um Irrtümer auszuschließen. Allerdings bleibt die so gerechtfertigte Abschottung – die temporal zulässig sein kann – eine Form der Ignoranz, die zumindest den Grundlagen des Christentums widerspricht.
Wahrheit ist darum weiterhin ein anstrebenswürdiges Ideal. Ein Dogma steht zunächst in einem unbekannten Verhältnis zur Wahrheit. Um als Doga anerkannt zu werden, muss es für wahr gehalten werden. Eine Konsistenzprüfung kann dies nicht verifizieren, aber ggf. falsifizieren.
Implizite und explizite Dogmen
Ein Dogma gilt als Lehrsatz selbstverständlich explizit … zunächst zumindest. Was ist aber mit Überzeugungen, die unbewusst bleiben? Die sich gegen eine Explizierung und Versprachlichung wehren? Wird die Gefahr der Dogmatisierung dadurch gebannt, in dem man zu jenen Überzeugungen behauptet, man könne sie nicht explizieren? Oder … man habe einfach nicht jene Überzeugungen? Die Gefahr der Leugnung eigener Überzeugungen erweist sich im Gegenteil als besonders problematisch. In dem man diese bestreitet, sind sie auch nicht im Stande der Prüfbarkeit. Durch die Hintertür können sie fortan Leben und Denken bestimmen und müssen sich dafür nicht rechtfertigen. Sie sind der GAU der Aufklärung.
Wärend explizite Dogmen transparent, geprüft und ggf. verworfen werden können, sind jene verleugneten Überzeugungen von der Kritik ausgenommen. Aber es wäre ja ebenso möglich, dass Dritte einem ein implizites Dogma andichten, dass faktisch nicht besteht. Diese falsche Zuweisung ist weder grundsätzlich auszuschließen, wie auch die Nichtexistenz von impliziten Dogmen, deren man sich nicht bewusst ist. Erst der Prozess der selbstkritischen Analyse kann hier Licht ins Dunkel bringen. Dies aber erfordert einen Prozess der bewussten Auseinandersetzung mit der Prüfung von vermeintlichen Selbstverständlichkeiten. In einigen Fällen können aus geäußerten Sätzen recht sicher auf Überzeugungen geschlossen werden. Gerade beim Text von Metzinger fällt das auf.
Metzinger beginnt mit einem bedenklichen Dogma, das er anscheinend selbst nicht als solches erkennt:
In der äußeren Welt ist die Menschheit durch den Klimawandel mit einer neuen und in ihrer Geschichte bisher einzigartigen Bedrohung konfrontiert. Während diese Zeilen geschrieben werden ist diese objektive Gefahr sinnlich noch kaum wahrnehmbar.
Wenn diese Gefahr weder sinnlich, noch durch ander objektive Fakten wahrnehmbar ist, dann müsste sich der Autor fragen, wieso diese Gefahr objektiv sei. Immerhin ist unbestreitbar, dass sich das Klima stets wandelte und das der Mensch die Folgen von Naturkatastrophen nicht völlig eliminieren konnte. Objektiv sind die Maßnahmen, diese zu begrenzen nur dadurch von begrenzter Wirkung, da zugleich durch das Bevölkerungswachstum die Zahl potentieller Opfer sich ungleich erhöhte. Zugleich aber trägt jeder Mensch, ob zu Zeiten Moses, Jesus Christus oder heute, die Erwartung des eigenen Todes, die einen jeden auf kurz oder lang ereilt. In wie fern da nun das moderne Dogma vom angeblich menschengemachten Klimawandel eine Relevanz für unser Thema hat, bleibt unklar. Denn selbst wenn auch durch die globale Entwicklung jener Klimawandel wesentlich betrieben würde und sich dieser als wahrhaft schädlich erweisen würde – was sämtlich äußerst fragwürdig ist – so wäre doch der individuelle Anteil derartig marginal, dass eine schuldhafte Verstrickung schlicht absurd wäre. Selbst unter jener Annahme wäre eine vermutete katastrophale Entwicklung kaum anders als ein Meteoriteneinschlag oder Mega-Vulkanausbruch einzuschätzen. Darum erscheint das Beschwören einer ‚objektiven Gefahr‘ hier bereits tief in einem Dogma verstrickt.
Tatsächlich gibt es immense Herausforderungen, die die Problemlösungskompetenz der Menschheit zu überfordern scheinen. Weltweite Krisen, Bürgerkriege und Autokratien und Herrschaft anonymer globaler Eliten, ideologische begründete Spannungen uvm. werden unter Anderem angetrieben von einem globalen Bevölkerungswachstum, während unsere Kultur einschließlich aller ihrer Errungenschaften mangels Nachwuch zu verschwinden droht. Die Weltwirtschaft, die Einkommen erwirtschaftet und somit trotz des Wachstums noch immer die Grundbedürfnisse vieler Menschen befriedigen kann, ist in vielen Parametern fragil und die Visionen eines anhaltenden globalen Crashs erscheint da weit stärker begründet. Dennoch fixiert sich Metzinger auf den Klimawandel und meint dazu:
Meine Prognose ist, dass wir uns in den kommenden Jahrzehnten zunehmend als scheiternde Wesen erleben werden, die auf kollektiver Ebene hartnäckig wider besseres Wissen handeln – als Wesen, die aus psychologischen Gründen und auch unter großem Zeitdruck zu wirksamem gemeinschaftlichen Handeln und der notwendigen politischen Willensbildung einfach nicht fähig sind. Das kollektive Selbstbild der Gattung Homo sapiens wird immer stärker auch das eines in evolutionär entstandenen Mechanismen der Selbsttäuschung gefangenen Opfers des eigenen Verhaltens werden, das Bild einer natürlich entstandenen Klasse kognitiver Systeme, die aus Gründen ihrer eigenen geistigen Struktur auf bestimmte Herausforderungen einfach nicht adäquat reagieren können …
Aus dieser Perspektive spricht ein implizites Weltbild, dass keinen Gott als den Weltenlauf steuernd erkennt, sondern von einer blinden Evolution betrieben unkritisch als faktisch ausgeht. Auf diesem Hintergrund erscheint die Frage nach einer Spiritualität seltsam: Welche geistige Besinnung sollte ein evolutionär entwickeltes Tier über eine schöne Illusion hinaus antreiben dürfen?
Unsere Theorien über uns selbst ändern sich, insbesondere das Bild unseres eigenen Geistes. Ich habe diesen zweiten, parallel verlaufenden Vorgang an anderer Stelle die „naturalistische Wende im Menschenbild“1 genannt: Genetik, kognitive Neurowissenschaft, evolutionäre Psychologie und die moderne Philosophie des Geistes liefern uns schrittweise ein neues Bild von uns selbst, ein immer genaueres theoretisches Verständnis auch der eben erwähnten geistigen Tiefenstruktur, ihrer neuronalen Grundlage und ihrer biologischen Geschichte.
Ist es nicht dagegen so, dass zu allen Zeiten gewisse Megatrends existierten, die den Mitgliedern der relevanten Gesellschaften gerade mittels nicht hinterfragter Dogmen eine Überzeugung einer vermeintlicher Realität vermittelte? Bis weit in die Neuzeit war dies von einem Schöpfungs- und Gottesglauben getriebenes Verständnis, dass auch durch die aufkommende Naturwissenschaft zunächst nicht in Frage gestellt wurde. In der Postmoderne ist man sich der Grenzen der Erkenntnisfähigkeit des Menschen einerseits immer stärker bewusst geworden. Dies schließt ein, dass die Wissenschaften keine belastbaren Erkenntnisse zu den Grundfragen leisten konnten, aber durch einen dogmatischen Naturalismus einen Deutungstrend lieferte. Man verwechselte schlicht die unbestrittenen Erfolge von Naturwissenschaft und Technik mit objektiver Erkenntnis der letzten Dinge und glaubte felsenfest, dass einige Trends in den westlichen Gesellschaften globale Gültigkeit haben, während die Entwicklungen in anderen Gesellschaften gegenläufig waren, und auch jene Trends unter den westlichen Eliten, durch einen desillusionierten Pragmatismus der Postmoderne in Melange mit esoterischen Bewegungen weder eine demographische Legitimation erhielt, noch erkenntnistheoretisch hinreichend fundiert ist. Es bleibt der unkritischer Dünkel jener Elite, der sich auch Metzinger zughörig fühlt uns damit anscheinend die Postmoderne zu überwinden glaubt.
Dahinter stehen offensichtlich unhinterfragte Überzeugungen, die mit Fug und Recht als de facto – Dogmen identifiziert werden können, auch wenn diese meist weniger explizit formuliert werden, aber zugleich bedeutungsschwangere Wirksamkeit entfalten. In diese reiht sich die Erzählung von den von Freud postulierten Kränkungen der Menschheit auch bei Metzinger ein:
Subjektiv wird sie zunächst von vielen als eine weitere Bedrohung erlebt, als eine mögliche Kränkung und eine neue Gefahr für die Integrität unserer Innenwelt.
Aber auch ein methodischer Verweis verursacht bei mir ein Übelkeitsgefühl:
Die folgenden Überlegungen bewegen sich sowohl in historischer als
auch in systematischer Hinsicht notgedrungen unterhalb des Niveaus der akademischen Philosophie. Der Begriff der „Spiritualität“ zum Beispiel hat eine jahrhundertelange Geschichte in Philosophie und Theologie, und auch meine kurzen Bemerkungen zum Ideal der „intellektuellen Redlichkeit“ ignorieren nicht nur seine historische Tiefendimension, sondern liegen weit unter dem begrifflichen Auflösungsvermögen etwa der modernen Philosophie des Geistes oder der aktuellen Erkenntnistheorie.
Ein akademische Philosophie, de sich nicht mehr konsistent in einfachen Texten wiedergeben ließe, hätte ihre Relevanz verloren. Sie wäre nur noch ein Glasperlenspiel in einem Elfenbeinturm. Dagegen müssen auch populäre Darstellungen, die ein breites Publikum adressiert und notwendig vereinfacht, sich in Konsistenz zu Erkenntnissen auf allen Ebenen bewegen. Tun sie das nicht, ist es nichts weiter als Scharlatanerie und entschuldigen auch keine Falschdarstellungen als notwendige Vereinfachungen. Denn auch Vereinfachung sind in ihrer Zuspitzung nicht notwendig falsch, und rechtfertigen keine gegensätzlichen Aussagen zur Redlichkeit, sondern regen lediglich zu einer Vertiefung an.
Wenn Metzinger von säkularisierten Spiritualität schreibt, bleibt es dennoch von Interesse zu verstehen, was er damit meint. Er nennt dann 3 Thesen:
[1] Das Gegenteil von Religion ist nicht Wissenschaft, sondern Spiritualität.
[2] Das ethische Prinzip der intellektuellen Redlichkeit kann man als einen Sonderfall der spirituellen Einstellung beschreiben.
[3] Die wissenschaftliche und die spirituelle Einstellung entstehen in ihren Reinformen aus derselben normativen Grundidee.
Es gilt, dies weiter zu verstehen, denn diese Thesen erschließen sich nicht aus sich selbst.
Spritualität
In der westlichen Philosophiegeschichte besitzt der lateinische Begriff spiritualitas drei Hauptbedeutungen.
Erstens gibt es so etwas wie eine rechtlich-kulturelle Bedeutung – die Gesamtheit der spiritualia im Gegensatz zu den bloß zeitlichen Institutionen, den temporalia; spiritualia wären demnach kirchliche Ämter, Verwaltung der Sakramente, Rechtsprechung, Kultstätten und Gegenstände, geweihte Personen wie Geistliche und Ordensleute.
Ein zweites Bedeutungselement ist der frühe Begriff der religiösen Spiritualität – hier bezieht sich das auf verschiedene Aspekte des christlichen Lebens und der Gegensatz ist die carnalitas, die Fleischlichkeit.
Drittens gibt es eine philosophische Bedeutung von Spiritualität, die die Seins- und Erkenntnisweise der immateriellen Wesen bezeichnet, und die der corporalitas und materialitas entgegengesetzt wird.
Metzinger geht offensichtlich von der dritten Bedeutung aus:
Die interessante Tatsache ist nämlich, dass sich in den westlichen Ländern nach dem Ende des Zweiten Weltkriegs eine Art spirituelle Gegenkultur etabliert hat, die von Menschen getragen wird, die weit abseits der Kirchen und der organisierten Religion einer spirituellen Praxis nachgehen.
Auch hier bleibt unklar, was Metzinger mit organisierter Religion meint. Denn die Großkirchen sind weder homogen, noch haben sie in ihrem organisatorischen Verständnis viel mit Freikirchen gemeinsam. Gleichwohl finden sich auch innerhalb und außerhalb von der RKK und EKD eine Vielzahl von Bewegungen, die durchaus dem Verständnis von Spiritualität entsprechen und darum auch nicht notwendig im Gegensatz zur Kirchenorganisation stehen muss, sondern lediglich eine andere Dimension darstellt. Aber auch charismatische Gemeinden sind organisiert. Die Betonung auf jene Aspekt von Spirtualität, die sich explizit von den Kirchen distanziert, erscheint als eine mehr oder minder willkürliche Präferenz. Der Autor konzentriert sich stärker auf meditative Praktiken:
Typisch für viele dieser Ansätze ist die Zielvorstellung, dass eine regelmäßige und streng formale Praxis als Grundlage einer schrittweisen Transformation des Alltagslebens dienen soll. Dies liefert uns bereits ein erstes, definierendes Merkmal: In den aktuellen, lebendigen Erscheinungsformen von Spiritualität geht es primär um Praxis und nicht so sehr um Theorie, um eine bestimmte Form des inneren Handelns und nicht um Frömmigkeit oder darum, dogmatisch an etwas Bestimmtes zu glauben.
So weit es nur um eine Übung und Disziplin geht, die eine Form von Wohlbefinden verursachen soll, aber von Inhalten völlig befreit ist, kann bezweifelt werden, dass das Wort Spiritualität hier angemessen ist. Man kann aber eher vermuten, dass Metzinger einen Etikettenschwindel betreibt oder aufsitzt: Denn oftmals werden implizite und weit weniger explizite Inhalte inkorporiert, die sich genau darum der intellektuellen Diskussion verweigern, da sie nicht mehr expliziert werden. Spiritualität wäre in diesem Sinn irgendwas zwischen einer funktionalen Psycho-Technik und einem anti-aufklärerischen Selbstverständnis. Allerdings ist dies keineswegs notwendig so. Warum sollte ein expliziter Glaube nicht in Harmonie zu einer spirituellen Praxis stehen? Ein expliziter Glaube ist gerade darum, weil er die intellektuelle Prüfung und Diskussion nicht scheut, auch nicht notwendig anti-intellektuell.
Selbst die oft verpönte Quelle Wikipedia weiß hierzu wesentliche Aspekte zu klären:
Spiritualität (von lat. spiritus ,Geist, Hauch‘ bzw. spiro ,ich atme‘ – wie altgriechisch ψύχω bzw. ψυχή, siehe Psyche) bedeutet im weitesten Sinne „Geistigkeit“ und bezeichnet eine auf Geistiges aller Art oder im engeren Sinn auf Geistliches in spezifisch religiösem Sinn ausgerichtete Haltung.
Spiritualität im spezifisch religiösen Sinn steht für die Vorstellung einer geistigen Verbindung zum Transzendenten, dem Jenseits oder der Unendlichkeit. Während Religiosität die Ehrfurcht vor der Ordnung und Vielfalt in der Welt und die Empfindung einer transzendenten Wirklichkeit meint,[1] beinhaltet (religiöse) Spiritualität zusätzlich die bewusste Hinwendung und aktive Praktizierung einer als richtig angesehenen Religion oder Weltanschauung.
Dies passt wenig zur Darstellung Metzingers, der im Weiteren einerseits einen strikten Naturalismus beschwört, andererseits eine inhaltliche Bindung der spirituellen Übung zu Inhalten bestreitet und auch den Buddhismus positiv konnotiert, ohne den Lehrcharakter genau dieses Denkens zu bestätigen. Es scheint, als wolle Metzinger eine Quadratur des Kreises: Einerseits einen unkritischen Naturalismus, der die Existenz von Geistigem, das unabhängig von der Physik sei, scharf zurückweist, andererseits eine ’spirituelle‘ Übung, die Selbsterkenntnis sucht. Das dies zu unauflösbaren Widersprüchen führt, will er nicht einräumen, stattdessen aber auf die Verdunkelung durch Entsprachlichung lösen.
Für die Frage nach der Möglichkeit einer säkularisierten Spiritualität bedeutet dies, … dass ganz bestimmte veränderte Bewusstseinszustände eine andere Art von Erkenntnis transportieren, die nichts mit Sprache, Theorien oder rationalen Argumenten zu tun hat.
Was soll das heißen? Wie würden sich diese Zustände, so sie sich denn der Sprache und Theorien entziehen, von einem Drogenrausch unterscheiden? Ist Erkenntnis ein gültiger Begriff in diesem Kontext?
Spiritualität ist eine epistemische Einstellung, der unbedingte Wille zum Wissen, nämlich zu einer existentiellen Form von Selbsterkenntnis jenseits aller Dogmen und Theorien. … Einmal gibt es die Suche nach direkter Erfahrung, zum Beispiel in einer systematischen Meditationspraxis.
Wem dieser Ansatz hier zu gruselig und anti-intellektualistisch ist, der sich unkritisch einflüssen und denkweisen öffnet, die nicht mehr geprüft werden, gar in ihrer Wirksamkeit bestritten werden, dem sei versichert, dass er mit diesen Vorbehalten nicht allein ist.
Gibt es ein Leben nach dem Tod?
Auf Seite 23 behandelt Metzinger diese Frage auf einem Niveau, dass den schlichten Gläubigen möglicherweise überfordert, den Intellektuellen aber zugleich als allzu naiv erscheinen lässt.
Sind Geist und Körper nicht in Wirklichkeit vielleicht doch zwei ontologisch autonome Entitäten, die auch unabhängig voneinander existieren könnten? Moderne Theorien über Selbsttäuschung und die Evolution der Religion haben keine direkte Relevanz für die Frage nach der Existenz Gottes, denn all das könnte wahr sein und Gott könnte trotzdem existieren: Die metaphysische Grundfrage wird durch diese Theorien nicht berührt.
Die Zielrichtung dieser Frage bleibt unklar. Dem schlichten Christen ist dies alles herzlich egal. Er hegt lediglich das Vertrauen in die Auferstehung, die von Jesus im NT bezeugt wurde. Eine weitere Klärung erscheint unnötig und eher irreführend.
Der Intellektuelle und Naturwissenschaftler fragt aber nach der Definition von Leben und Existenz – gerade im Hinblick auf eine raumzeitliche Konkretisierung. Denn Ewigkeit überwindet notwendig die Zeitlichkeit als per Definition limitierenden Faktor. In diesem Sinn wäre die Ewigkeit allein schon dadurch konstituiert, dass eben die temporale Existenz in dem überzeitlichen Kontext eingebettet wäre. Denn seit Einstein und Hawkings ist der Zeitfluss keineswegs selbstverständlich und Existenz auch nicht an diesen Fluss gebunden. Allerdings schreibt Metzinger nichts dazu und liefert darum notwendig unbefriedigende Ergebnisse:
Die analoge Frage wäre also jetzt, was heute die richtige begriffliche Interpretation der wissenschaftlichen Daten zum Verhältnis zwischen Gehirn und Bewusstsein ist. Gegeben die Erkenntnisse der modernen Hirnforschung – was ist das vernünftigste, intellektuell redlichste Modell für die Leib-Seele-Beziehung? Auf begrifflicher Ebene ist es so, dass in der aktuellen Philosophie des Geistes der Substanzdualismus seit langem eine Position ist, die nur noch extrem wenige Vertreter hat.
Fakt ist vielmehr, dass es trotz umfassender Forschung magere Ergebnisse zu der Verbindung zwischen Gehirnzuständen und Bewusstseinszuständen gibt. Wenn die Neuro-Forschung naturwissenschaft sein will, kann sie nur den naturalistischen Methodensatz verwenden. Diese Prämissen erwiesen sich bislang nicht erfolgreich in der Aufklärung der Sachzusammenhang und kann dies genau auch grundsätzlich nicht sein, fall die Ansicht der das naturalistische Modell transzendiert. Darum gibt es auch zu Vernunft und Redlichkeit kein Komperativ geben kann Die Anzahl der Forscher, die auf Basis gleicher Prämissen arbeiten, sagen nichts zu der Frage, ob diese Grundannahmen hier zutreffend sind. Sie bilden durch die schiere Menge, die im Kontext einer professionellen Beauftragung rein keine gültige Version: Warum sollte ein Wissenschaftler der von Amts wegen keinen Spielraum hat, die Methoden jenseits des Naturwissenschaften zu verwenden, ein höheres Wissen reklamieren kann, wenn sich diese als wahr erweisen sollte.