Phämomenologie der Erfahrung

Ronald D. Laing wählte 1967 den Titel The Politics of Experience, der nicht zu Unrecht von Suhrkamp in Deutsch unter Phämomenologie der Erfahrung erschien. Verglichen mit den Klassikern gilt das fraglos als moderner Text. Als wissenschaftlicher Text wäre er mit seinen 50 Jahren bereits fragwürdig. Als philosophischer Text ist er allemal aktuell, denn Laing beschäftigt sich, ähnlich wie Victor Frankl, keineswegs ausschließlich mit psychologisch-wissenschaftlichen Fragestellungen, sondern dringt zu Grundfragen der Existenz schlechthin durch. Wer sich darauf einlässt, erfährt einen Perpektivwechesel … besser: Ich erfuhr einen Perspektivwechesel:

Selbst Fakten werden zu Fiktionen, wenn >die Fakten< nicht adequat gesehen werden. Wir brauchen weniger Theorien als vielmehr Erfahrung, die Quelle der Theorie ist. (S.11)

Mit dieser Eröffnung steckt Laing bereits ab, dass es nicht um eine reine Sachbeziehung des Textes geht, sondern dass den Leser als Gegenüber in einen reflektiven Prozess einbezieht. Klassische Wissenschaften sehen den forschenden Menschen als ein von Außen stehenden, der einen Sachverhalt zu ergründen versucht. Aber das geht oft nicht. Bereits Heisenberg zeigte in der Unschärferelation den Einbezug des Betrachters in den Wirklichkeitsprozess. Um so mehr gilt dies für das Selbstverständnis und dialogische Interaktion. Ich kann grundsätzlich mich selbst nicht als Objekt der Untersuchung ansehen. Der Reflektionsprozess ist nur in einer reduzierenden Metapher ein objektives Spiegelbild. Immer bleibe ich als Beteiligter und veränderter im Prozess, zugleich ein Werdender.

Auch in der Interaktion der Begegnung zerrinnt die Objektivität als eine grundsätzlich unerreichbare Fata Morgana. Aber Laing will keineswegs eine Klassifikation als Subjektivität, die irgendwo noch den Deutungsfilm eines Schlüssels einer vermeintlichen Realität dieser Subjektivität eine Kategorisierung zuweist. Der Schlüssel zum Verständnis ist hier die Phänomenologie – ganz im Sinn von Edmund Husserl. Die Grundidee ist hier, nicht mit einem vorgebildeten Weltbild die Erfahrungen zu kontextualisieren, deuten und katalogisieren, sondern die Unmittelbarkeit der Erfahrung als Solche als Chance zu verstehen, vorgefertigten Deutungsrastern zu entkommen und wahrhaft einerseits Realitätserkenntnis zu aktualisieren und zugleich sich selbst in einem ein Werdensprozess zu verstehen.

Wenn hier von Unmittelbarkeit gesprochen wird, ist dies nicht mit der Unbedingtheit (die hier nicht vorliegt) zu verwechseln. Denn natürlich ist die Erfahrung durch Kontext, Bildungsstand, Intentionen u.v.m. bedingt. Die Unmittelbarkeit beschreibt vielmehr die aktuelle Direketheit, die entgegen aller Faktenfeststellungen, Reflektionen und Spekulationen direkt auf die Existenzebene des Menschen zielt. Dadurch erhält die Erfahrung eine besondere Überzeugungskraft hinsichtlich der Realitätserkenntnis.

Zweifel kommen dagegen auf, wenn wir von der Manipulierbarkeit der Erfahrung wissen: Die Erfahrung an sich ist kein Garant der Realitätserkenntnis, aber ein Bezweifeln jener unmittelbaren Erfahrung öffnet ebenso der Täuschung Tür und Tor. Es gibt keinen Königsweg, um die existenzielle Unsicherheit besiegen zu können – keinen Fixpunkt, um die Welt aus den Angeln zu heben.

Die Relation von Erfahrung zu Verhalten ist nicht die von >innerlich< zu >äußerlich<. Meine Erfahrung ist nicht in meinem Kopf. (S.15)

Dies ist ein Aufbegehren gegen konventionelle Betrachtungsweisen:

Die Unterscheidung zwischen  >äußerlich< und >innerlich< geht gewöhnlich zurück auf die Unterscheidung zwischen Verhalten und Erfahrung – manchmal jedoch auf gewisse Erfahrungen, die man für >innerlich< hält im Gegensatz zu anderen, die >äußerlich< sind. Genauer gesagt: dies ist eine Unterscheidung zwischen verschiedenen Modalitäten der Erfahrung , nämlich zwischen Wahrnehmung (als äußerlich) im Gegensatz zu Vorstellung (als innerlich). Doch Wahrnehmung, Vorstellung Phantasie, Spinnerei, Träume, Erinnerungen sind einfach verschiedene Modalitäten von Erfahrung, keine  >innerlicher< oder >äußerlicher< als andere. (S.14)

Der kritische Leser mag nun fragen: Ist das nicht auch nur ein Deutungsraster? Wenn es nun eben die Wirklichkeit als gemeinsamer Grund existiert, in dem wir als Subjekte hineingeworfen sind, dann wird diese Unterscheidung doch nicht einfach weggewischt, in dem man ein anderes Deutungsraster darüber legt. Allerdings ist es eine hilfreiche Übung, und sei es – for the sake of argument -: Ein Sich-Einlassen auf diese Sicht kann tatsächlich den verfestigten Horizont erweitern.

Weniger herausfordernd, die eigene Ansicht auf den Kopf zu stellen, kommt Rüdiger Bubner in ‚Ästhetische Erfahrung‘ (1989) zu ähnlichen Ansätzen und leitet diese durch den Rückgriff auf die Philosophiegeschichte her, hier nach Kant:

,,Der diskursive Verstand muß viele Arbeiten zu der Auflösung und wiederum der Zusammensetzung seiner Begriffe nach Prinzipien verwenden. . ., statt dessen eine intellektuelle Anschauung den Gegenstand unmittelbar und auf einmal fassen und darstellen würde. – Wer sich also im Besitz der letzteren zu sein dünkt, wird auf den ersteren mit Verachtung herabsehen; und umgekehrt ist die Gemächlichkeit eines solchen Vernunftgebrauchs eine starke Verleitung, ein dergleichen Anschauungsvermögen dreist anzunehmen, imgleichen eine darauf gegründete Philosophie bestens zu empfehlen.“ S.53

Bubner rekuriert weiter auf Fichte

Ganz konsequent faßt Fichte die intellektuelle Anschauung als die Weise, wie das sich selbst beschränkende Subjekt sich als ein solches gegenwärtig wird. Die vom Subjekt eigenhändig vorgenommene Selbstbeschränkung, die die endliche Welterkenntnis erst konstituiert, muß als Tat des Subjekts noch vom Subjekt erfaßt werden können. Das Subjekt, das sich als sich selbst beschränkendes zum Gegenstand nimmt, hat es nur mit sich zu tun, obwohl es gerade so seine Ausrichtung auf ein Objekt sich erst ermöglicht. S.54

Bubner zitiert Fichte weiter:

„Dieses dem Philosophen angemutete Anschauen seiner selbst im Vollziehen des Aktes, wodurch ihm das Ich entsteht, nenne ich intellektuelle Anschauung. Sie ist das unmittelbare Bewußtsein, daß ich handle, und was ich handle: sie ist das, wodurch ich etwas weiß, weil ich es tue.

Laing ist hier weniger logisch durchdringend, sondern setzt einen Kontrapunkt in der Unmittelbarkeit eben jener Erfahrung. Genau das beschreibt Hermann Hesse im Steppenwolf : Der gealterte Erzähler, dem das Leben in seinen theoretischen Betrachtungen durch die Finger lief, ließ sich auf die Unmittelbarkeit der Erfahrung ein. Schillernd wie die Versuchung änderte er den Blickwinkel, um sein Leben durch eine neue Brille zu sehen.

So auch hier: Wer vor dem reflektiv-intellektuellen Ansatz Kants, Fichtes und Bubners zurück schreckt und statt dessen lieber Laings und Hesses Unmittelbarkeit der Erfahrung sucht, folgt vielleicht einer Disposition und Präferenz, unterscheidet sich aber weit weniger von jenem anderen. Denn auch er lässt sich auf das Lesen und die Konfrontation mit fremden Gedanken ein. Wer weder Laing, Hesse. Frankl, Kant, Fichte, Bubner oder andere liest, mag gerade wegen der Unmittelbarkeit der Erfahrung vielleicht ein wahreres Leben ergreifen. Er wird auch dies hier nicht lesen.

Zugleich aber besteht die Gefahr, sich eben leben zu lassen. Vielfältige Einflüsse der Gesellschaft, das Verlangen nach Anerkennung, Erfolg, Macht, Liebe und Sinnlichkeit können Menschen so sehr in ihren Bann ziehen, dass es ein falsches Leben ist, ein vergebliches Leben unter Betäubung, dass das Entscheidende versäumt. Es ist dann nicht mehr die Unmittelbarkeit des Lebens selbst in der Erfahrung, sondern das Gefangen-sein in einer Scheinwelt, die Andere für jenen aufbauten.

Dies ist zwar nicht notwendig der Fall, und Literatur, Reflektion und Philosophie sind auch nicht die einzigen Heilswege, jener Gefahr zu entgehen. Sondern sie sollten als Leiter dienen, manche Fallstricke zu umgehen. Um es auf eine einfache Formel zu bringen:

Wer der Reflektion fähig ist, sollte diese auch mit Bedacht gebrauchen – darüber aber die Unmittelbarkeit der Erfahrung eben nicht vergessen.

Vom wahren und vom falschen Leben

Im letzten Absatz war plötzlich vom falschen Leben die Rede. Doch nach welchen Kriterien ist das Leben falsch? Ist nicht das stille Glück biederer Bürgerlichkeit der Verzweiflung des stets reflektierenden Philosophen vorzuziehen? Oder die Ekstase und der früh endende Drogenrausch als das jahrzehntelange Erdulden einer Tretmühle? Die Frage nach der Unmittelbarkeit der Erfahrung weist über sich hinaus auf das, was wirklich zählt, also der sinngebenden Einbettung in das Leben. Zunächst meint Phänomenologie eben nicht, zuerst nach dem Sinn zu fragen. Aber im zweiten Schritt sehr wohl. Denn die rohe Erfahrung, so sie denn durchaus der vollen und ungefilterten Wahrnehmung bedarf, ist kein Ende in sich selbst.

Die Erfahrung bedarf der Transzendenz. Nicht im Sinne eines orthodoxen Gottesglaubens, sondern im Kant’schen Sinn des steten Übersteigens des Bezugsrahmens. Eine Erfahrung, die auch in der Retrospektive unverarbeitet bleibt, wird sich kaum vom Drogenrausch unterscheiden, der allein um der sinnentleerten Erfahrung willen gesucht wird.

Ein Weg, dieser Unmittelbarkeit auf die Spur zu kommen, zeigt sich in dem Werk Kierkegaards, der gerade aus der Unmittelbarkeit den Impuls zog zum Sich-Einlassen auf die eigene Existenz. Einen anderen, ähnlichen Ansatz vertritt Martin Buber in seiner Dialogphilosophie: Gerade im Sich-Einlassen auf die Begegnung, auf das Du im hier und jetzt, findet das Leben statt. Ohne diese hier und jetzt, das In-Beziehung-Treten, wird das Leben leer und erstarrte Hülle. Buber hätte sicher nie von Zombies gesprochen, aber so habe ich den Gegensatz verstanden.

Natürlich ist und bleibt es das Privileg eines jeden Menschen, sich selbst seine Ziele im Leben zu suchen. Das gehört zu seiner unverbrüchlichen Würde. Falsche Leben wäre in diesem Sinne jenes Leben, das nicht den selbstgewählten Zielen folgt.

Ich für meinen Teil will eben jenes volle Leben, auch wenn es weh tut, anstelle einer dumpfen Betäubung. Dies kann allerdings ebenso die Ekstase, wie auch das stille bescheidene Glück einschließen. Das Kriterium ist dann nicht die Stärke der Erfahrung, sondern die Einbettung in den Sinn.

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