Die Welle und die Identität

Gerade sah ich den Film Die Welle von 2008. Gedacht war wohl, dass man die Psychologie und Verführbarkeit des Menschen demonstrieren wollte. Das Ende vorhersehbar: Es musste in einem Fiasko enden, der demonstrierte Faschismus als ganz schlimm entlarvt. Heraus kam aber etwas anderes. Nur wer ideologische Scheuklappen trägt, erkennt nicht das gesellschaftlich – politische Problem:

Der Entstehung der Gemengelage wurde hinreichend Raum gewidmet: Es gibt in der Postmoderne massive Defizite, die sich in einer problematischen Jugendkultur zeigte: Die Missstände, die als Auslöser der Bewegung genutzt wurden, waren real! Die Problempersönlichkeit des Tim Stoltefuss wurde bereits im Ausgangs-Setup als gefährdete Person vorgestellt. Natürlich gibt es die auch im normalen Leben, und natürlich stellen diese in einer faschistoiden Gesellschaft besondere Gefahren her.

Aber aus pädagogischer Sicht reicht es nicht aus, jenen Weg als eben grundfalsch und total abzulehnen darzustellen, als ob es nur die Alternative zwischen einer trostlosen Postmoderne und einem gespenstischen Faschismus gäbe. Die Frage des Tim Stoltefuss in der Abschlussversammlung, dass doch nicht alles schlecht gewesen sei, und ob denn auf dieser Basis keine Reform möglich sei, die eben die Gefahren vermeidet, antwortete Rainer Wenger kompromisslos ablehnend, dass es da keinen Weg gäbe. Aber diese Antwort bleibt fragwürdig.

Der bekennende Antifaschist mit dem Motto ‚Wehret den Anfängen‘ wird der Position Rainer Wengers unbedingt zustimmen und in dem demonstrierten Ereignissen, samt Suizid, einen Beleg für die Richtigkeit dieser Position entdecken. Ich sehe das weit differenzierter. Auch wenn es eine letztlich fiktive Geschichte war, kann man wiederkehrende Muster auch in der Realität erkennen. Dass hier zugespitzt wurde, ist lediglich ein dramaturgischer Kniff, aber das reale Problem bleibt: Tim war bereits anfangs in einem tiefen Loch der Isolation gefangen. Das Licht, dass er in der Welle sah, gab ihm Hoffnung. Als diese alternativlos zerschlagen wurde, brach für ihn die Welt zusammen.

Das Problem des Tim Stoltefuss ist weder ein rein persönliches, noch eines des Faschismus, sondern ein Gesellschaftliches der Postmoderne: Die aktuelle Gesellschaft bietet keine hinreichenden Entwicklungschancen für Außenseiter. Es lässt die Menschen in ihrer Verzweiflung allein, die entweder sich einem gewissen Konformitätsdruck beugen und dennoch zu irgendwie funktionierenden, unglücklichen Mitgliedern der Gesellschaft werden, eine kriminelle oder Drogenkarriere ausüben, oder eben Suizid begehen. Ich denke nicht, dass man diese Situation mit einem Schulter-zucken abtun kann.

Der Ansatz der Welle sollte demonstriert werden als kein Lösungsweg. Übrig blieb die Situation vorher. Die Wahl zwischen zwei schlechten Alternativen. Natürlich drängt sich die Frage auf: Wie sollte denn Gesellschaft und individuelles Glück aussehen?

Identität und Selbstverständnis

Ohne Antworten auf dies Frage vertrocknet die Kritik an den faschistoiden Lösungsansätzen. Ich würde hier nicht bei Schockeffekten und Gefahren ansetzen, die letztlich im Dilemma bleiben, sondern würde erneut die Frage nach der Identität stellen:

Was treibt die Beteiligten des Films / des Romans, die ja in gewisser Hinsicht die Gesellschaft abbilden will? Ist es ein gefährliches Verlangen nach Gemeinschaft? Eine genetisch pathologischen Hang zum Faschismus, bei dem man nur auf bestimmte Knöpfe drücken muss? Ist der Pluralismus der Postmoderne denn wirklich das leuchtende Gegenmodell, dass seine Strahlkraft nur aufgrund der Gefahren erhält, die in diesem Experiment demonstriert wurden?

Ausschließen kann man hier eine ’neue-völkische‘ Deutung, dass es ein spezifisch deutsches Phänomen sei, bezogen auf die grausige Vergangenheit. Das Ursprungs-Experiment wurde in den USA veranstaltet, the Land of the Free. Ferner wollen wir uns hier bei dem implizit unterlegten Menschenbild ansetzen:

Die jungen Menschen wirkten durchaus selbstbewusst. Sie formulierten ihre Wünsche und Nöte nachvollziehbar. Da war der Wunsch nach Anerkennung, nach Spaß, nach dem Sich-selbst-Finden, Orientierung, Liebe, Macht und die Angst vor Repressalien. Ist das der individualisierte Mensch? Wie sollte für jenen eine optimale Gesellschaft aussehen? Vielleicht doch nicht so, dass randständige Individuen unter der Schutzlosigkeit und mangelnder Anerkennung leiden.

Was ist aber mit Gegenbildern zur individualisierten postmodernen Identität?

Auch heute finden wir mehrere Narrative, die sich teils überlappen, teils exklusiv gegenüberstehen :

  • Christliches Selbstverständnis, dass der Mensch als Geschöpf Gottes auf dem Wege in die große Gemeinschaft der Ewigkeit sei, die Erde ein Stück Schule und Prüfung.
  • Glücksritter-Mentalität: Der persönliche Erfolg pfeift letztlich auf Gesellschaft, sondern verfolgt individuelle Ziele – so wie Grimmelshausen Simplicissimus. In den Wechselfällen des Lebens gilt es, sich eben freizuschwimmen. Das ist nicht notwendig unmoralisch und rücksichtslos, aber versteht Moral als notfalls dehnbaren Rahmen.
  • Hedonistische Orientierung: Ziel ist es, gute Erlebnisse zu sammeln. Das persönliche Wohlsein hat Priorität – ganz gleich ob im kurzperspektivischen Drogenrausch, oder im körperbetonten Wellness und Gesundheitstrend.
  • Konservatives Lebensbild: Durch Einbindung in eine Zivilgesellschaft gilt es, seinen Platz in dieser zu finden und auszufüllen. Hier gilt es Trends zu folgen, Abweichendes und Extreme zu meiden.
  • Links-moralisierender Modus: Der Mensch ist als Teil der globalen Gesellschaft für die Fortentwicklung jener verantwortlich. Das Gemeinwohl und soziale Gerechtigkeit hat zentrale Bedeutung, an dem sich das Verhalten auszurichten habe.
  • National-kulturelle Identität: Der Mensch versteht sich als Teil einer spezifischen Gesellschaft oder  Nation: Seine Aufgabe ist zu allererst nicht, Menschen in der Ferne zu beglücken, sondern sich für den Erhalt und Entwicklung des lokalen Gemeinwesens – des Volkes – einzusetzen. Kultur und Geschichte wird als identitätsstiftende Qualität angesehen.

Mir erscheint es, dass die zum Teil divergierenden Selbstverständnisse auf jeweils erlebte Bedürfnislagen treffen und zu einer jeweils politischen Orientierung führen. Selten wird dabei gerade jenes Selbstverständnis reflektiert, sondern implizit als Teilnehmer der ‚Welle‘ oder in deren Gegenposition aktualisiert. Ideologiebildung ist zum Teil ein Prozess der Sozialisation und gesellschaftlichen Prägung, zum Teil aber auch der Reflektion auf unterschiedlichen Analyseniveaus. Weder ist es hinreichend, rein analytisch-deskriptiv die Trends und Strömungen der Zeit zu erfassen, noch rein synthetisch ein Modell implizit oder explizit zu propagieren, welches die Realität verachtet. In der Reflektion hat der Mensch die Möglichkeit, seine eigene Einstellung zu erkennen und zu gestalten, was für ihn Priorität hat.

Der Film ‚Die Welle‘ stellte in diesem komplexen, existentiell berührenden Szenario eine Alternative zum Gelebt-Werden vor, das aber neue und andere Schrecken offenbarte. Es ist zu kurz gesprungen, den Handlungsraum auf ein Dilemma einfach zu verkürzen. Das aber tat der Lehrer – Herr Wenger – da er in seiner eigenen Ideologie gefangen war und damit das Fiasko auslöste.

Es wurde die Frage nach der Kontrolle der Bewegung gestellt, und das diese eben entgleitet und Eigendynamik entfaltet, gleich wie der Flaschengeist, der dem Eigner eben nicht mehr untertan ist, oder dem Zauberlehrling, der sich auf Kräfte einlässt, die er nicht beherrscht.

 

Was kann man besser machen?

 

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