Das Scheitern des Diskurses um die Leitkultur

Als Bassam Tibi 1996 den Begriff einführte, meinte er etwas nahezu Zwingendes in seinem Aufsatz Multikultureller Werte-Relativismus und Werte-Verlust.

Für Tibi basiert die europäische Leitkultur auf westlichliberalen Wertevorstellungen:

„Die Werte für die erwünschte Leitkultur müssen der kulturellen Moderne entspringen, und sie heißen: DemokratieLaizismusAufklärungMenschenrechte und Zivilgesellschaft.“ wie er in seinem 1998 veröffentlichten Buch Europa ohne Identität? Die Krise der multikulturellen Gesellschaft schrieb.[1]

Die Notwendigkeit einer Leitkultur in Deutschland begründet Tibi damit, dass hier Identität durch Ethnizität definiert sei und dass Deutschland als Kulturnation Einwanderern keine Identität bieten könne. Wenn die Deutschen die Einwanderer in ihre Kulturnation integrieren wollten, müssten sie eine Leitkultur definieren: „Zu jeder Identität gehört eine Leitkultur!“

Dieser Gedanke drängt sich auf und ist dahin gehend angelegt, einen Konsens zu suchen. Ein beachtlicher Versuch, hier einen Diskurs zur Ausgestaltung des Offensichtlichen voran zu treiben. Aber bereits kurz darauf brach ein Sturm aus einer wortreichen Diskursverweigerung hervor, der bis heute andauert und auch kein erkennbares Ende der Grabenkämpfe erwarten läßt. Das jüngste Beispiel dazu liefert der Verriss von Marcus Ermler zu LEITKULTUR, IDENTITÄT, PATRIOTISMUS
Ein Positionspapier der AfD-Fraktion im Thüringer Landtag als Beitrag zur Debatte um die deutsche Leitkultur.

Ohne der Versuchung zu erliegen, einen polemischen Beitrag in den Ring zu werfen, will dieser Text dem ursprünglichen Anliegen auf der Suche nach dem Konsens folgen, auch wenn das bisherige Scheitern dazu wenig erfolgversprechend zu sein scheint.

Kurz der Rückblick über die letzten 20 Jahre: Der Versuch, den Begriff Tibis umzudeuten als ein Ausdruck einer assimilierenden Deutschtümelei war mehr oder minder stark bei Kritikern wie auch Verfechtern fortan im Vordergrund. Lange galt dem berechtigte Anliegen kaum eine Aufmerksamkeit. Zu sehr war es den Teilnehmern der öffentlichen Auseinandersetzung um Polemik gegangen, um sich dem eigentlichen Thema zu nähern. Die Unfähigkeit zu einem scharfen Diskurs, der aber das Ziel eines Konsens nicht aus den Augen verlieren will und sich mit Abgrenzungen und Grabenkämpfen begnügt, ist zutiefst schmerzhaft und ein Armutszeugnis. Die Akteure schwanken zwischen destruktiver Ächtung jedes vernünftigen Gedankens zum Thema und dem Versuch einer Vereinnahmung des Ansatzes für fragwürdige Setzungen.

Offensichtlich dominierten jene, die Diskussion unterbinden wollten, ohne zu einer konstruktiven Meinungsbildung beizutragen, aber damit war weder das Thema noch der Anlass gelöst, sondern es schwelte weiter, was sich auch im Erstarken der Neuen Rechten und der Grabenbildung in der deutschen Gesellschaft zeigte. Aber auch der Vorwurf an Neurechte und Konservative, dass sie ihre mehr oder minder naiven und unreflektierten Gefühle ausdrücken, anstelle einen konsensorientierten Diskurs suchten, ist nicht unbegründet.

Zu den Ursprüngen: Bassam Tibi

Bevor wir die aktuellen Beiträge betrachten soll die Zwischenbilanz einer missglückten deutschen Debatte von Bassam Tibi selbst betrachtet werden in Leitkultur als Wertekonsens

Wie jeder Mensch eine personale Identität hat, so besitzt auch jede Großgruppe eine kollektive Identität.

Mit dem von mir geprägten Begriff einer europäischen (nicht deutschen) Leitkultur als demokratischer, laizistischer sowie an der zivilisatorischen Identität Europas orientierter Wertekonsens zwischen Deutschen und Einwanderern habe ich als syrischer Migrant versucht, eine Diskussion über Rahmenbedingungen von Migration und Integration auszulösen [1] . Der Anspruch dabei ist ein doppelter: Wir integrierten Migranten wollen mitreden und nicht länger dulden, dass bestimmte Deutsche als unser Vormund auftreten; ferner gilt es, die Diskussion endlich in rationale Bahnen zu lenken.

Anstelle eines Applauses oder der konstruktiven Kritik, dass darin auch möglicherweise eine Art der Entmündigung jener Deutscher verstanden werden sollte, die weder als Vormund noch als Mitbestimmer den Diskurs bereichern sollten, wurde dieses Kernanliegen eben nicht diskutiert. Natürlich kann man fragen, ob der Bezugsrahmen einer europäischen Leitkultur sinnvoll ist, da Europa sich eigentlich nie als homogener Kulturraum begriff. Die Nationen pflegten stets jeweils unterscheidbare Identitäten, die nicht nur durch die unterschiedlichen Sprachen ihr Ausdruck fand. Auch jene, die heute eine europäische Einheit beschwören, stehen unter dem Verdacht, dass sie eher einen hegemonialen Anspruch eigenen Denkens verbrämen, anstelle sich einem wahrhaft pluralem Ziel unterordnen zu wollen. Oder aber, sie meinen ein unverbundenes Nebeneinander. Dagegen aber steht das Beschwören der Wertegemeinschaft, die die EU angeblich sei.  Sie sprechen von Europa, meinen aber ihre Vorstellung und Visionen, in der Andersdenkenden bestenfalls eine marginalisierte Randstellung zugebilligt wird. Es wird von jenen, die eine nationale Identität für sich als grundlegend verstehen, erwartet, dass sie sich der Vision jenes Europa unterzuordnen haben.

Tibi verrät damit seinen eigenen Ansatz ein Stück weit, der auf der Suche nach dem Konsens allen Diskursteilnehmern das Recht einräumen muss, ohne a priori Setzungen an diesem Diskurs zu arbeiten. Wollen wir ihn positiv verstehen, ist die Ablehnung des Deutschen als Grundlage der Leitkultur keineswegs als Vorgabe, sondern als ergebnisoffener Vorschlag zu verstehen.

Vielleicht aber meint er hier folgendes: Gedacht als konzentrische Kreise hätte das Deutschtum die Rolle einer Ethnie, also nicht der Verbund von Ethnien, wie manche sie verstehen würden. Sie wäre dann nur eine Ausprägung einer Kultur, die sich in eine Gemeinschaftskultur als Leitkultur eingliedert. Dies aber setzt voraus, dass es jene europäische Kultur als Identifikationsraum tatsächlich gibt. Natürlich gibt es auch jene glühenden Europäer, die in der EU die Überwindung eines Nationalstaates sehen, aber mehr noch gibt es die Skeptiker, die die EU eher als Zweckgemeinschaft wollen, ohne ihre staatliche Souveränität dafür zu opfern.

Ohne es klar zu nennen, kann man aber sehr wohl einen weiterführenden Gedanken herleiten. Eine nationale Kultur, mit einer Vielfalt kann in Toto keine Leitkultur sein, da dies eine Assimilation erzwingen würde, die gerade nicht erwünscht ist. Leitkultur ist eher der Kernbestand der Werte einer Kultur, die sich zur Integration weiterer Kulturen und traditionen eignet. Eine deutsche Leitkultur kann auch fremde Kulturen umfassen und ihnen Raum geben, ohne dass die deutsche Kultur damit ihrer spezifischen Ausprägung beraubt wird. Das Tragische an der Debatte und seinem Scheitern liegt vielleicht nur an dem Mangel der Unterscheidung zwischen Kultur und Leitkultur.

Zunächst sei jedoch eine Selbstverständlichkeit für diese Diskussion erwähnt: Eine ethnische Identität kann nicht erworben werden, beispielsweise kann ein Türke nicht Kurde oder ein Deutscher kein Araber werden [2] . Aber eine zivilisatorische, an Werten als leitkulturellem Leitfaden orientierte Identität – z. B. die Identität des Citoyen im Sinne der Aufklärung – kann erworben werden. So kann ich als Araber, wenn die Definition des Begriffes „deutsch“ „entethnisiert“ wird, in der Bestimmung als Wahldeutscher ein Verfassungspatriot (im Sinne von Sternberger und Habermas), jedoch ethnisch kein Deutscher werden.

Tibi hat hier einen fragwürdigen ethnischen Begriff, der ins schicksalhafte reicht und letztlich Gemeinsamkeiten mit rechten Strömungen aufweist. Ein alternatives Verständnis ist eine gewollte Assimilation durchaus ein Identitätswechsel. Ab wann sind polnische Einwanderer zu Deutschen ohne wenn und aber geworden? In der zweiten Generation? Später? Oder mit der offensichtlichen Adaption der neuen Kultur in der ersten Generation? Wenn es aber offensichtlich ein abweichendes Verständnis von Begriffen kommt ist es spätestens an der Zeit, deren allgemeine Bedeutung nachzuschlagen.

Ethnie ? Volk?

Ethnie oder ethnische Gruppe (von altgriechisch ἔθνος éthnos „[fremdes] Volk, Volkszugehörige“) ist ein in den Sozialwissenschaften (insbesondere der Ethnologie) verwendeter Begriff. Er bezeichnet eine abgrenzbare soziale Gruppe, der aufgrund ihres intuitiven Selbstverständnisses und Gemeinschaftsgefühls eine
Gruppenidentität als Volksgruppe zuerkannt wird. Grundlage dieser Ethnizität können gemeinsame Eigenbezeichnung, Sprache, Abstammung, Wirtschaftsordnung, Geschichte, Kultur, Religion oder Verbindung zu einem bestimmten Gebiet sein.[1][2]

Eine Ethnie muss keine gemeinsame Abstammungsgruppe sein (familienübergreifend), die Zugehörigkeit vererbt sich weiter (familienumfassend) und es muss keine eindeutigen Grenzziehungen geben (Zugehörigkeit zu mehreren Ethnien möglich).[3] Der geschichtliche, soziale und kulturelle Vorgang der Entstehung einer Ethnie wird als Ethnogenese bezeichnet.

Dies ist und bleibt unscharf. Wichtig ist jedoch die identitätstiftende Eigenschaft. Existiert nun die Ethnie durch das  Gemeinschaftsempfinden, und hört sie auf, wenn dieses Empfinden nicht mehr existiert? Wie weit ein intuitives Selbstverständnis oder ein reflektiertes Selbstverständnis hier Grundlage sein kann, bleibt angesichts des breiten Spektrums des Empfindens weit offen: Was dem Einem als intuitiv und selbstverständlich erscheint, deckt sich in keiner Weise mit dem Empfinden und Intuition eines Anderen. Kann man jenes Empfinden per Entscheidung oder per Indoktrination abtrainieren? … vermutlich ja, wenn auch nicht in jedem Fall. Hört dann die Ethnie auf zu existieren? Gibt es so was wie eine ’natürliche‘ Ethnie, wenn sich doch die Grenzen nicht scharf definieren lassen?

Warum kann ich nicht im vollen Sinne US-Amerikaner werden, wenn ich mich mit dieser Nation identifiziere und die Rechtslage genau das ermöglichen würde? Natürlich wäre es nicht immer sinnvoll, seine Herkunft zu verleugnen, Traditionen aufzugeben und jegliche Folklore zu verdammen. Was aber trennt mich dann ‚ethnisch‘ von jenen US-Amerikanern? Die US-Amerikaner sind bekannt als Neubildung eines Mischvolkes unterschiedlicher Wurzeln, die aber sehr intensiv das Thema der gemeinsamen Identität behandelten. Welche Ethnizität hätten sie dann? Genetisch kann man zumeist keine Homogenität feststellen, da nicht nur in Amerika, sondern auch in Europa und vielen anderen Teilen der Welt eine mehr oder minder starke Durchmischung vorliegt.

Was ist mit jenen, die auf Demonstrationen skandieren ‚Nie, nie, nie wieder Deutschland‘ – sind jene noch Deutsche, die ihre Identität durch ihre Ablehnung der Geschichte gewinnen? Oder sind sie durch die negative Identifikation mit der Herkunftsnation zu Europäern oder Weltbürgern geworden, ohne zugleich Deutsche mehr zu sein?  Oder bleiben sie wider Willen schicksalhaft Deutsche, freilich mit zur Tugend verklärtem Selbsthass?

Ich weigere mich darum, hier eine ethnische Differenzierung – mit oder ohne Verweis auf Phäno- oder Genotyp – vorzunehmen. Konkret: Der Begriff ‚Deutscher‘ wird nicht exklusiv verstanden, auch nicht ‚ethnisch‘, da es an einer trennscharfen Definition mangelt. Identität hat viel mehr mit dem Selbstverständnis und Werten zu tun: Wenn ich mich mit dem deutschen Volk assoziiere, bin ich mir stets bewusst, dass dieses eben nicht homogen ist oder sich auf einen willkürlich gewählten Wertekanon reduzieren ließe. Andererseits ist die Unschärfe kein Grund, den Begriff völlig zu verwerfen, da er in der Regel dennoch für Viele bedeutsam und identitätsstiftend ist. Wenn ich aber in eine innere Emigration gehe und mich eben nicht mehr als Teil jenes Volkes verstehe – mit all seinen Errungenschaften und Verbrechen – dann höre ich auf, Deutscher zu sein. Deutsch sein, oder Araber oder Franzose ist kein unabänderliches Schicksal. Die Herkunft kann man zwar nicht ändern, aber die Selbstidentifikation sehr wohl. Deutscher zu sein heißt anders herum aber auch nicht, alles gut zu heißen oder zu verteidigen, was mit Deutschland verbunden ist. Bin ich darum auch automatisch Europäer? Auch dann, wenn mir die Gemeinsamkeit Europas wenig greifbar erscheint?

Wenn Sachen, Pfälzer und Bayern zusammen sind, wird ihnen ihre kulturellen Verschiedenheiten sehr bewusst sein. Eine werden möglicherweise bezweifeln, ob es überhaupt eine gemeinschaftliche deutsche Kultur gibt, aber sie werden sehr wohl auch viele Gemeinsamkeiten feststellen können. Man kann darum sehr wohl eine Identität als Sachse und als Deutscher zugleich pflegen.

Seltsam mutet da der in jüngerer Zeit wiederholt vorgetragener Vorwurf, dass sich Migranten nicht vollständig akzeptiert fühlten. Ihnen schlagen zuweilen Ressentiments oder offener Rassismus entgegen. Abgesehen davon, dass man natürlich auch als Deutscher nicht voraussetzen kann, dass alle Anderen sie respektieren, und immer wieder auch Ressentiments unterschiedlicher Art begegnen, ist natürlich eine pauschale Ablehnung oder Ausgrenzung aufgrund des Erscheinungsbildes scharf abzulehnen.

Wie aber verstehen sich jene, die dies Kritik vortragen? Verstehen sie sich als (Wahl-)Deutsche, die von Mit-Deutschen unkorrekt behandelt werden? Oder pflegen sie eine migrantische Identität, die sich vom Deutsch-Sein distanziert? Würden sie im letzten Fall nicht dann sogar jene bestätigen, die das Deutsch-Sein jener bezweifelt? Wer Differenzierungen nach einer vermeintlichen Ethnizität gar selbst betreibt, muss sich nicht wundern, wenn er nach eben jenen fragwürdigen Maßstäben beurteilt wird.

Zudem beobachten wir gerade im öffentlichen Diskurs, dass gerade jene Volkszugehörigkeit Dritter in Frage gestellt wird. Gibt es wahre Schotten und die Anderen? Ausgehend vom Selbstverständnis als Identifikationskriterium erscheint es zweifelhaft, einem Dritten jene Volkszugehörigkeit abzusprechen, wenn er diese selbst aber so empfindet. Diese Empfindung darf allerdings hinterfragt werden, ob sie nur vorgeblich ist oder von einer tiefen Überzeugung und gute Gründe hat.

Darüber hinaus gibt es objektive Kriterien wie die Staatsbürgerschaft. Diese erweisen sich aber ebensowenig hinreichend. Während im Normalfall Staatsbürgerschaft und Selbstempfinden oft zwei Seiten einer Medaille sind, gibt es doch gerade bei Zugewanderten eine oft demonstrierte Abgrenzung von Deutschen und dem Deutsch-Sein, auch wenn der Passbesitz sie als Deutsche ausweist. Hier ist dann eher von einer Identitätsstörung auszugehen oder eine Missachtung jenes Volkes, deren Staatsbürgerschaft gewährt wurde – möglicherweise allein um diverse rechtliche Vorteile zu nutzen ohne Bezug zum Selbstverständnis. Durch die Existenz derartiger Befindlichkeiten wird jedoch das Selbstverständnis jener, die als im Lande geboren sind, oder in voller Entscheidung Deutsche geworden sind, nicht angetastet. Lediglich jene, die sich selbst ausgrenzen, haben dieses Problem.

Zur Illustration mögen zwei Schicksale gegenüber gestellt sein: Ein Kind aus einer Migrantenfamilie wird in Deutschland geboren und mit türkischer Identität sozialisiert. Er lebt in einer Parallelkultur und verachtet das, was er als deutsch identifiziert. Natürlich erhält er den deutschen Pass, lernt die deutsche Sprache wie die Muttersprache … aber ist er Deutscher, wenn er so nicht empfindet, sondern nur als Türke in Deutschland lebt? Die andere Person ist ein anerkannter Asylant. Er  hat sich wegen der Verfolgung von seiner Herkunftskultur abgenabelt und das, was er als deutsch erkennt, zu schätzen und lieben gelernt, somit nimmt er die neue Identität an, auch wenn er weder den deutschen Pass besitzt, noch die Sprache akzentfrei beherrscht.

Bassam Tibi scheint aber unter Ethnie noch etwas Anderes als Nation zu halten. Am Beispiel Amerika sieht er seine Vorstellung der Leitkultur realisiert, aber geht von mehreren Ethnien aus. Dies sei ihm zugestanden, ich weiß dann lediglich nicht mehr, was dann Ethnie ist. Wenn sich der Hispanic zugleich als Amerikaner identifiziert … welche kulturelle Relevanz über die Folklore hinaus hat es dann?

Konstruierte Identitäten sind sowohl in klassischen Einwanderungsländern (USA, Kanada und Australien) erforderlich als auch in Ländern der „Dritten Welt“, die nach der Entkolonialisierung eine ethnisch gemischte Bevölkerung haben (z. B. Nigeria mit ca. 60 Ethnien oder Senegal mit 13 Ethnien). In den USA ist die übergeordnete und von allen geteilte Identität des Amerikaners: „color blind, ethnicity blind, religion blind“; sie basiert auf der Bejahung der Werte der American constitution und des American way of life [6] . In den USA gibt es kulturelle Vielfalt im Rahmen des gesellschaftlichen Pluralismus [7]stets mit Wertekonsens – im Gegensatz zum Multi-Kulturalismus, der Wertebeliebigkeit kulturrelativistisch propagiert, also keine Leitkultur zulässt und somit zur „Disuniting of America“ beitragen würde [8] .

Wieso Tibi aber nach Amerika schaut, während doch die Bildung der deutschen Nation als gewachsene ‚Multiethnizität‘ ein viel lebendigeres Anschauungsmaterial liefert, bleibt unklar

Ob Tibis Ethnien-Verständnis Dritten nachvollziehbar bleibt oder nicht, so ist mir auch die Unterscheidung zur ‚konstruierten‘ Identität eher unverständlich. Vielleicht ist der Unterschied zwischen einer unreflektierten Emotion, die sich vor allem aus der Sozialisation und kulturellen Tradierung speist, und einer reflektierten Entscheidung im sittlichen Sinn gemeint. Diese könnte aber auch in Ablehnung oder Akzeptanz zu einer Herkunft stehen und bedarf nicht zwingend einer besonderen Konstruktion. Mit unbewussten Einstellungen und der Reflektion verhält es sich aber eher in einem Übergangsbereich ohne scharfe Grenzen.

Integration erfordert, in der Lage zu sein, eine Identität zu geben. Zu jeder Identität gehört eine Leitkultur!

So verstanden ist der gesellschaftliche Zusammenhalt, ja die Funktionsfähigkeit der Gesellschaft von eben jener Leitkultur abhängig, die über partikularistisches, subkulturellem und individualistischem Selbstverständnis hinaus eine gemeinsame Plattform ergibt, die überhaupt erst die Kommunikation ermöglicht.

Tibi schreibt nun, nachdem er seinen Vorschlag kurz  umrissen hat:

Als in Deutschland lebender Einwanderer und Muslim möchte ich mit meinem Konzept einer europäischen Leitkultur (oder auch europäischen Identität) für Deutschland eine Grundlage zum friedlichen Miteinander, nicht Nebeneinander, zwischen Einwanderern und Deutschen schaffen. Diese Grundlage ist kulturpluralistisch [14] , nicht multikulturalistisch.

Tibi sieht eine zähe Diskussion, die allerdings durchaus positive Früchte trägt. Allerdings bezweifele ich, dass die Reichweite jener Öffnung umfassend ist, sondern sich jeweil auf begrenzte Kreise beschränkt.

Das Problem der – oft beabsichtigten – Missverständnisse fängt damit an, dass Deutsche sich eine Leitkultur sowie die hierzu gehörige eigene kulturelle Identität versagen. Es wird unterstellt, dass Leitkultur von einer homogenen Bevölkerung ausgeht und eine „Unter-/Überordnung in der Beziehung zu den Fremden“ beinhaltet. Das ist nicht korrekt. Es ist eine in allen anderen Demokratien selbstverständliche Tatsache, dass ein Gemeinwesen – gleich, ob monokulturell oder kulturell vielfältig – einen Konsens über Werte und Normen als eine Art innere Hausordnung benötigt.

Zu erwähnen ist allerdings, dass es DIE Deutschen so nicht gibt, die auch zu dieser Frage eine homogene Meinung hätten. Allerdings vermute ich, dass Tibi die führenden Meinungsmacher mit seiner Charakterisierung treffend beschrieb. Diese hätten natürlich gerne die Deutungshoheit, aber zum Glück repräsentieren sie eben nicht das Volk in seiner Gesamtheit. Auch scheint er hier nicht zwischen Kultur und Leitkultur zu unterscheiden.

Tibi beschreibt diese Einstellungen und Wirrnisse treffend:

Diejenigen, die eine Leitkultur als Klammer zwischen Deutschen und Einwanderern ablehnen, verweisen auf die Gesetze und meinen, deren Befolgung durch Einwanderer sei ausreichend. Dies wäre praktisch eine Gleichsetzung von Verfassungspatriotismus (Sternberger und Habermas) mit einem „BGB-Patriotismus“. Das ist natürlich sehr skurril. Anlässlich einer Debatte im niederländischen Leiden zu einem Projekt über Islam und islamische Migranten in Europa [18] sagte ein anwesender Fundamentalist: „Solange Muslime in der Minderheit sind, befolgen sie europäische Gesetze, aber man kann von ihnen nicht verlangen, den Geist dieser Gesetze zu akzeptieren.“

Tibi ist völlig beizupflichten und seiner Analyse zu loben, wenn er schreibt:

Wenn Deutsche erkennen, dass ein demokratisch stabiles und funktionsfähiges Gemeinwesen sich nicht in einem Land entfalten kann, welches sich seine eigene Identität verbietet und durch zunehmende Migration ohne Leitkultur zu einem multikulturellen, d. h. wertebeliebigen – im Gegensatz zu kulturell vielfältigem – Siedlungsgebiet zerfällt, werden sie einsehen, dass eine Leitkultur im Sinne eines Wertekonsenses als Klammer zwischen ihnen und den Migranten benötigt wird. Es ist nun an der Zeit, diese Debatte ernsthaft zu führen und hierbei zwischen demokratischen und undemokratischen Werten und nicht etwa zwischen „Sauerkraut“ und „Knoblauch“ zu unterscheiden [19] .

Tibi berichtet allerdings, wie der Begriff im parteipolitischen Gezänk instrumentalisiert wurde, und das die Diskutanten das Anliegen der Konsenssuche häufig gar nicht verstanden. Und das, obwohl Tibi sich redlich mühte, die Probleme und Notwendigkeiten klar herauszustellen:

Im Kontrast dazu erkennt in einer Verbandsdemokratie eine Gewerkschaft etwa des DGB oder die Evangelische Kirche die Werte des Grundgesetzes an; in einer islamischen Parallelgesellschaft hingegen – das weiß ich als Muslim – herrschen andere Werte. Ein Ziel der Islamisten ist, die Schari’a, die sich zum Grundgesetz wie Feuer zu Wasser verhält, gelten zu lassen. Das ist kein kultureller Pluralismus, sondern der Sieg der Wertebeliebigkeit.

Die Inhalte macht Tibi nun an diesen Begriffen fest, die aber nicht als starr und exklusiv verstanden werden können:

Eben weil die vor allem aus der europäischen Aufklärung hervorgegangene kulturelle Moderne keinen ethnischen Charakter hat, ist sie dazu geeignet, kulturübergreifende Gültigkeit zu erlangen. Eine europäische Leitkultur muss daher auf den Werten der kulturellen Moderne basieren und konsensuell für Deutsche und Migranten als Plattform für ein Miteinander gelten. Das ist die Alternative zu wertebeliebigen Parallelgesellschaften. Eine solche Leitkultur besitzt – stark zusammengefasst – folgende Inhalte: das Primat der Vernunft vor religiöser Offenbarung, d. h. vor der Geltung absoluter Wahrheiten; individuelle Menschenrechte (also nicht Gruppenrechte), zu denen im besonderen Maße die Glaubensfreiheit zu zählen ist; säkulare, auf der Trennung von Religion und Politik basierende Demokratie; allseitig anerkannten Pluralismus sowie ebenso gegenseitig geltende Toleranz, die bei der rationalen Bewältigung von kulturellen Unterschieden hilft. Die Geltung und Anerkennung dieser Werte macht die Substanz der Zivilgesellschaft aus.

Die Frage bleibt aber eine methodische, keine ausschließlich inhaltliche: Ein Werteraster, der den Konsens sucht, kann letztlich nicht als Vorgabe von Einzelnen eingebracht werden, sondern erfordern eine Öffnung und Bandbreite, die es den Mitgliedern einer pluralen Gesellschaft ermöglicht, sich selbst mit dieser zu identifizieren. Wie kann hier aber eine konstruktive Mitwirkung an dem Wertekanon funktionieren? Wo muss eine Ab- und Ausgrenzung erfolgen? Dieser Diskurs könnte bestenfalls zur Klärung beitragen und genau jene Leitkultur etablieren.

Der Diskurs aber verläuft schleppend und scheitert allzu häufig. Die Gründe sind vielfältig. Neben einem offensichtlichen Verständnisproblem sind die Diskursteilnehmer aber oftmals von einer jeweils eigenen Sicht eingenommen, dass man an dem Zustandekommen eines echten Diskurs deutliche Zweifel hegen muss. Die Frage bleibt, ob sie jeweils nur ihre Position einfach verbreiten wollen, oder ob sie nach einem Konsens suchen.

Das Positionspapier des Björn Höcke

Wie eingangs genannt  liefert das 72-seiten starke Papier

LEITKULTUR, IDENTITÄT, PATRIOTISMUS
Ein Positionspapier der AfD-Fraktion im Thüringer Landtag als Beitrag zur Debatte um die deutsche Leitkultur

den Anlass zu einer Kritik der Superlative. Auch wenn die Fraktion insgesamt mit 8 Personen als Autor genannt wird, so wird doch vor allem Björn Höcke als Vorsitzender und Verantwortlicher wahrgenommen. Im Folgenden wird dies als Positionstext referenziert. Bevor wir auf die Kritik eingehen sehen wir zunächst den unverstellten Blick auf das Dokument, das ausdrücklich sich auch auf Tibi bezieht:

Die Frage, welche Aspekte und Bestandteile unserer Kultur
unentbehrlich für unser Zusammenleben sind, steht hinter
der Debatte um die „Leitkultur“.

Dies ist allerdings ein etwas anderer Ansatz als der von Tibi. Hier geht es weniger darum, wie sich Menschen unterschiedlicher Herkunft zu einem Miteinander finden können, sondern zunächst eine eigene Identität zu entwickeln. Es klingte eine Unterscheidung zwischen Kultur und Leitkultur an, wird aber nicht klar ausformuliert. Allerdings wird Tibi sehr gründlich rezipiert und sein Ansatz aufgegriffen. Den Fortgang der Debatte, bzw. dessen Scheitern wird so beschrieben:

Im Übrigen seien das Grundgesetz und ein entsprechender
Verfassungspatriotismus ausreichende Grundlagen des friedlichen Zusammenlebens. Um der Kritik Nachdruck zu verleihen, wurde sie sogleich mit dem Vorwurf verbunden, der Begriff der Leitkultur lasse völkisches oder nationalistisches Gedankengut und dergleichen mitschwingen, was schon bei einem oberflächlichen Blick nicht nur auf Bassam Tibis einschlägige Texte völlig abwegig ist. Indes verfehlte die Diffamierungskampagne nicht ihre Wirkung: Die Debatte um den Begriff kam bald zum Erliegen.

Allerdings gab es wiederholt neue Anläufe, das Thema fortzuführen. Aus dem Jahr 2005:

Lammert verwies in seinem eigenen Beitrag darauf, dass die rechtliche Verfassung nicht losgelöst von der Kultur betrachtet werden könne. „Kultur“, so schrieb er, „ist die Voraussetzung einer Verfassung. Letztere setzt in rechtliche Ansprüche und Verpflichtungen um, was historisch und kulturell gewachsen ist. Bestand und Wirkungsmacht können Rechte folglich nur haben, wenn ihre kulturellen Grundlagen nicht erodieren“.

„Insofern ist jede Kultur, die sich selbst ernst nimmt, eine Leitkultur. Leitkultur bedeutet ja nicht, […] anderen Ländern deutsche Kultur aufzudrängen, sondern unseren Erfahrungen, Überzeugungen und Prinzipien im eigenen Land Geltung zu sichern.
Diese Vereinbarung über gemeinsame Grundwerte ist auch
die notwendige Substanz für den Erwerb der Staatsangehörigkeit. Die Staatsangehörigkeit ist nicht Vorleistung für Integration, vielmehr ist umgekehrt Integration die Voraussetzung zum Erwerb der Staatsangehörigkeit“.

Dagegen wird die scharfe Ablehnung des Konzeptes seiten der Linken als Angriff auf die eigene Identität wahrgenommen.

Der Bundesinnenminister Thomas de Maiziere warf 2017 einen Beitrag ein:

Zu den angeführten Aspekten der deutschen Leitkultur zählen demnach beispielsweise bestimmte Tugenden wie die Leistungsorientierung, bestimmte eingelebte Konzepte wie etwa dasjenige der Bildung oder auch soziale Gewohnheiten. Zu letzteren führt er aus, dass wir auf sie Wert legten „nicht weil sie Inhalt, sondern weil sie Ausdruck einer bestimmten Haltung sind: Wir sagen unseren Namen. Wir geben uns zur Begrüßung die Hand. Bei Demonstrationen haben wir ein Vermummungsverbot. ‚Gesicht zeigen‘ – das ist Ausdruck unseren […] Miteinanders. […] Wir zeigen unser Gesicht. Wir sind nicht Burka“.

Die übliche Polemik ließ keine Konsensbildung zu Begriff und Identität zu. Grund genug, um sich nicht vom politischen Gegner die Agenda bestimmen zu lassen. Der Positionstext hält die Notwendigkeit des Diskurses fest:

Die Politik des Relativismus und des Multikulturalismus führe letztlich zu einem unverbundenen Nebeneinander von Parallelgesellschaften, denen es an gemeinsamen Bezugspunkten für das allgemeine Zusammenleben
mangelt. Die Fragmentierung der Gesellschaft führe zur Erosion des Rechts, zur Verschärfung sozialer Konflikte und zum Anstieg von Gewalt. Um diesen negativen Entwicklungen zu begegnen sei es notwendig, sich der Gehalte des verbindlichen Konsenses zu vergewissern, der die Grundlage gesamtgesellschaftlichen Zusammenlebens darstellt. Es gehe um das „Unverhandelbare“, wie de Maiziere das nannte.

Diskursverweigerung und Grundfragen

Man müsste zwei Ebenen eines Diskurses unterscheiden:

  1. Ist das Thema von Relevanz – gibt es überhaupt ein Thema und Anlass?
  2. Wie sind die Kontroversen in dessen Ausgestaltung?

Die Schwierigkeit und Scheitern liegt darin, dass man bereits zu dem ersten Punkt keinen Konsens hat. Ob man den exklusiven Verweis auf das Grundgesetz nun als einen inhaltlichen Beitrag sehen will, oder ob dies faktisch eine Diskursverweigerung ist, ist vor allem davon abhängig, wie sehr diese Argument seitens der Diskursteilnehmer behandelt wird. Sind die Diskursbegeherenden bereit diesen Vorschlag ernsthaft zu prüfen? Dies scheint tatsächlich gegeben, wie auch bei Tibi und Lammert diskutiert. Seitens der Gegner sehe ich keine Bereitschaft, diesen Faden ernsthaft aufzugreifen und die Argumente jener Konservativer überhaupt wahrzunehmen. In dem hier diskutierten Positionspapier wird dies aufgegriffen:

Ganz richtig wurde hierfür zuerst auf zweierlei verwiesen,
nämlich (a) auf die Verfassung als Grundlage des öffentlichen
Zusammenlebens sowie (b) auf einen bestimmten Kanon verbindlicher Werte.

Konkret ist aber die Verfassung alleine unzureichend und zu abstrakt:

Wie die der Verfassung entsprechende öffentliche Ordnung konkret aussieht und wie sie die Gesellschaft mitgestaltet, wird erst im Alltag des Verfassungslebens, in der Verfassungswirklichkeit sichtbar. Und diese Wirklichkeit verweist über die rechtlichen Regelungen der Verfassung weit hinaus in die Geschichte des konkreten Staatswesens und in die Gesellschaft mit ihrer Kultur.

Ferner kann die Verfassung auch nicht als absoluter Maßstab dienen, denn:

Die Verfassung selbst ist insoweit eine geschichtlich geprägte Form. Das bedeutet auch, dass sich der Sinn verfassungsrechtlicher Normen mit den Umständen verändern kann. Wie dieser Wandel jeweils zu verstehen ist und welche Folgen er hat, ist indes eine Frage der verfassungsrechtlichen Interpretation und der politischen Auseinandersetzung.

Damit ist die Notwendigkeit eines Diskurses der Grundfragen auch dann unabdingbar, wenn man unterschiedliche Ansichten zu den vorgetragenen Thesen hat. Natürlich bliebe es möglich, auch daraufhin argumentativ zu antworten, aber mir ist eine derartige Diskussion nicht bekannt. Es ist somit den Diskursverweigerern anzulasten, dass sie sich selbst ausgrenzen. Dies ist allerdings keine harte Trennung, sondern Hoffnung und Einladung, dass jene ihre Diskursverweigerung aufgeben.

Nicht die Schärfe des Arguments oder der Gebrauch von Polemik ist hier der Grund, sondern die Nichtanerkennung zwingender Gründe, also plakative Ignoranz. Angesichts dieses Befundes lohnt es nicht, jenen nachzulaufen, die einen Konsens angesichts eines belegten gemeinsamen Anlasses grundsätzlich nicht wollen. Sie haben sich selbst ausgeschlossen. Offen bleibt der Diskurs aber weiter den Kritikern, die sich konstruktiv daran beteiligen wollen. Die Existenz von Diskursverweigerern ist zwar bedauerlich, aber man kann ihnen kein argumentfreies Vetorecht zugestehen.

Denn die Verfassung muss ausgelegt werden, und dies tun konkrete Personen (z.B. Verfassungsrichter), die ein bestimmtes Sprachverständnis, einen bestimmten Bildungshorizont, eine Lebenserfahrung im Kontext ihres Volkes etc. mitbringen. All dies aber ist nicht Verfassungstext enthalten, sondern bringt diesen erst in konkreten Entscheidungen und Handlungen zum Leben.

Auslegung heißt aber nicht, dass diese stets zu einem Konsens führt. Gerade im Wesen des Diskurses konkretisiert sich – wenngleich unscharf – ein Verständnis innerhalb einer zu akzeptierenden Bandbreite, die inhaltlich nicht vollständig geteilt wird.

Verfassungspatriotismus und Werte

Der Begriff Verfassungspatriotismus wurde vom Politikwissenschaftler Dolf Sternberger (1907-1989) eingeführt:

Für Sternberger stand der Verfassungspatriotismus also keineswegs im Gegensatz zur Nation oder zum nationalen Patriotismus und sollte diese auch nicht ersetzen. Erst der politisch linke Philosoph Jürgen Habermas (* 1929) deutete das Konzept des Verfassungspatriotismus in der Weise um, dass es sich gegen Nation und Nationalstaatlichkeit wendet. Für Habermas soll der Verfassungspatriotismus das Nationale überwinden und eine postnationale Identität für eine multikulturelle Gesellschaft liefern.

Es bleibt dann aber unklar, was Verfassungspatriotismus ohne nationale Identität eigentlich soll. Wenn sich ein Staatsbürger nicht als Deutscher identifiziert, aber die Verfassung als Grundlage des Zusammenlebens akzeptiert … ist das dann Verfassungspatriotismus? Ist der Begriff ‚Patriotismus‘ dann nicht völlig widersinnig verwendet? Der Positionstext hält darum zu recht fest:

So unentbehrlich mithin ein Verfassungspatriotismus als
Grundlage des öffentlichen Zusammenlebens sein mag, er ist
hierfür bei weitem nicht ausreichend.

Es ist also keineswegs so, dass der Begriff per se schlecht sei, oder gar abgelehnt würde, auch wenn er unterschiedlich gedeutet werden kann, sondern die Diskussion so nicht beenden kann.

Dies führt dann aber zu den Inhalten, mit denen der erforderliche Wertekonsens erreicht werden soll. Es geht darum, nicht nur Begriffe in den Raum zu werfen:

Zugleich liegt auf der Hand, dass Werte ganz verschieden interpretiert und verstanden werden können und insoweit Gefahr laufen, zu – oft beliebigen – „Leerformeln“ zu verkommen.

Werte bleiben stets unscharfe Kristallisationspunkte, die sich nicht formalisieren lassen, im Gegensatz zu kodifizierten Recht, das auf die Werte Bezug nimmt. Werte, so wichtig sie als Grundlage des Rechts auch sein mögen, lassen sich nicht anders als durch den Prozess der Kodifizierung und Rechtsentwicklung zu verbindlichen Grundlagen führen.

Daher ist es auch höchst problematisch, wenn Werte gegen das Recht ausgespielt oder Werte über das Recht gestellt werden.

Tatsächlich gibt es heute entsprechende Tendenzen im
politischen und staatlichen Leben, Tendenzen, die eine Moralisierung von Recht und Staat bedeuten, und die letztlich die Rechtsstaatlichkeit aushebeln und den Verfassungsstaat in ein autoritäres Gesinnungsregime verwandeln.

Der wieder aktuell gewordene Begriff der ‚Haltung‘, was offenbar für die politisch korrekte Gesinnung steht, scheint vermehrt als Referenz anerkannt zu werden, der auch das kodifizierte Recht in so einer Tendenz auslegt, das hier sehr wohl von Rechtsbeugung gesprochen werden muss.

Jeglicher moralische Fanatismus – sei es der Fanatismus der Gerechtigkeit, der Nächstenliebe, der Fernstenliebe, der Demokratie oder welcher Fanatismus auch immer – führt geradewegs zur Missachtung nicht nur anderer Werte, sondern vor allem auch des Rechts und der Freiheit.

Dies erweist sich leider als allzu wahr und weist auf die Dialektik der Werte: Einerseits wird vor dem Gebrauch von Worthülsen und Unverbindlichkeit  zu recht gewarnt und erkennt die innere Logik der Werte an, die eine unbedingte Beachtung erfordern. Andererseits ist jedes auch noch so gut gemeintes Engagement stets in Gefahr, gerade durch die Einseitigkeit verletzend zu wirken und sich damit selbst zu entwerten. Einen goldenen Mittelweg scheint es nicht zu geben, sondern die Spannung bleibt bestehen.

Der Rekurs auf die entsprechenden Werteformeln dient nicht etwa der sachlichen Diskussion oder der Stiftung von Gemeinsamkeit, sondern vor allem dazu, abweichende Meinungen, Skepsis oder Kritik zu diskreditieren bzw. mundtot zu machen und die Vertreter anderer Auffassungen auszugrenzen. Allen diesen Formeln ist gemeinsam, dass sie strittige politische oder rechtliche Zusammenhänge moralisieren, sie dabei auf ein Gut/Böse-Schema reduzieren und für sich selbst jeweils beanspruchen, die Seite des Guten zu repräsentieren. Auf diese Weise führt die Praxis des öffentlichen Diskurses und der politischen Auseinandersetzung in eine antipluralistische Nötigung zum Konsens und zum Konformismus – eben dies ist die ideologische Logik der „politischen Korrektheit“ und ihrer Sprachdiktate.

Aus Sicht derer, die hier ‚Haltung‘ zeigen, ist der Impetus des Guten zu eigen. Sie vertreten ihre Überzeugung, dass es eben jenen Werten, die sie als richtig erkannt haben, zur Durchsetzung zu verhelfen. Die Wahl der Mittel erscheint erst jenen für äußerst dubios, wenn sie in einer gewissen Distanz zu jenem Anliegen stehen. Man spricht dem Meinungsgegner ab, ebenso respektable Werte zu vertreten, sondern unterstellt jenem minderwertige Interessen oder eine Verblendung, die ohne nähere Prüfung und Diskussion a priori scharf abzulehnen sei.

Der Positionstext erläutert die Umdeutung der Werte am konkreten Beispiel:

Offenheit meint im üblichen Verständnis Ehrlichkeit oder Aufgeschlossenheit und Unvoreingenommenheit. Die Protagonisten der Offenheit im heutigen politischen Diskurs meinen gerade dies aber nicht. Sie verstehen unter der Forderung der Offenheit in erster Linie kritiklose Hinnahme aller politischen und sonstigen Entscheidungen oder Vorgänge, die eine Aushöhlung unseres Selbstverständnisses und deutscher Selbstverständlichkeiten intendieren und die auf einen radikalen Umbau der deutschen Gesellschaft im Sinne des Multikulturalismus abzielen. Die Forderung von Offenheit bedeutet heute vor allem die Forderung, Masseneinwanderung zu befürworten und Staatsgrenzen, jedenfalls die deutschen Staatsgrenzen, abzuschaffen („Weltoffenheit“).

Es ist zu befürchten, dass diese Darstellung allzu korrekt ist: Mit dem positiven Begriff der ‚Offenheit‘ wird eine assoziative Zustimmung suggeriert, damit aber letztlich problematische Inhalte völlig anderer Ausrichtung transportiert.

In einem anderen Fall wird die Spannung thematisiert:

Die heutige Rede von „Vielfalt“ meint aber diesen Pluralismus gerade nicht, sondern wirft ihm im Gegenteil und absurderweise vor, „monokulturell“ zu sein. Die demgegenüber geforderte „Vielfalt“ meint also die Beseitigung der angestammten und vertrauten Vielfalt und deren Ersetzung durch möglichst viele nicht historisch ansässige, sondern von außen kommende Gruppen.

Diese Behauptung ist in sich sowohl berechtigt, als auch missverständlich. Tatsächlich ist die Charakterisierung jener, die bunte Vielfalt propagieren, die traditionelle Vielfalt aber als monokulturell diffamieren, korrekt. Eine erweiterte Vielfalt, die aber auch die historisch nicht ansässigen Gruppen umfasst, wird darum aber nicht negativ oder zwangsläufig eine Ersetzung der traditionellen Vielfalt. Hier klingen Ängste der Verdrängung und Missachtung an, die aber einer differenzierten Betrachtung bedürften.

Das Wesen der Werte ist allerdings schwer greifbar: Wo kommen diese her? Sind sie spontane Eingebungen? Oder Ergebnisse eines Diskurses? Ein gesellschaftlicher Wandel, der durch … was angetrieben wird? Sind es Entscheidungsprozesse oder ideologische Tradierung? Gar das, was im Kern ‚Kultur‘ ausmacht?

Offensichtlich sind Werte eben nicht monokausal herzuleiten, sondern in einem Prozess, in dem historische Tradierung in der individuellen Sozialisation, wie auch im gesellschaftlichen Tradierungsprozess durch aktuelle Einflüsse modifiziert werden. Die bewusste Entscheidung kann hier dominierenden Einfluss gewinnen, oder auch durch dessen Fehlen den sonstigen Einflüssen untergeordnet werden. Ein Wertediskurs kann wertbildend, wertzerstörend oder wertmodifizierend sein. Das Fehlen eines Diskurses öffnet sich unbewussten Entwicklungen, und das scheint weitaus gefährlicher zu sein, gleich einem steuerlosen Schiff auf einem Ozean.

Werte und Leitkultur im Diskurs

In diesem Sinn kann der Wert der Offenheit und Vielfalt noch immer positiv anerkannt werden, bei unkritischer Adaption allerdings droht eine Entwertung durch Beliebigkeit. Vor Allem, wenn eine verbindende Basis fehlt oder ihrerseits abgelehnt wird und gar die Gleichheit von Allem und Allen propagiert werden. Eine Unterscheidung von Gut und Böse ist dann im Kern unmöglich und wird ersetzt durch eine unreflektierte Ausgrenzung von Meinungsgegnern. Bassam Tibi war das völlig klar und darum suchte er einen Konsens in einer Leitkultur. Das Positionspapier setzt dort an und fragt nach den praktischen Grundlagen der Werte.

Erst im Kontext einer eingespielten Praxis vermögen Werte eine Orientierung im Zusammenleben zu geben. Mithin verweisen auch die Werte, auf die wir uns zur Klärung unseres Selbstverständnisses berufen, auf diejenige Kultur und Lebensweise, in denen diese Werte gelebt werden.

Die Werte als solche bleiben aber Abstraktionen von höchster
Allgemeinheit und insofern besonders ideologieanfällig.

Dies ist offensichtlich eine zutreffende Betrachtung, aber wir müssen hier betonen, dass einerseits erst eine gewisse gesellschaftliche Verbreitung die Wirksamkeit entfalten kann, aber eine Homogenität nicht zu erwarten ist. Die Konkretisierung muss darum in einer mittleren Dimension erfolgen, die das Individuum und die Peer-Groups und Subkulturen übersteigen, aber  sich nicht in völlig anonymen und nicht mehr greifbaren Suprastrukturen verlieren. Die Einbindung in einem historischen Kontext kann nicht beliebig konstruiert werden, sondern erfordert ein rekurrieren auf eine gewachsene Identität. Diese wird vom Positionspapier im Nationalstaat verortet, der mehr oder minder der Kristallisationspunkt jener Wertekultur auch darum darstellt, weil er gesetzgebender Souverän ist.

So richtig es daher ist, wenn im Zusammenhang der Leitkulturdebatte von den gemeinsamen Werten, insbesondere von den europäischen oder westlichen Werten gesprochen wird, so sehr gewinnen diese Werte Leben und Wirklichkeit doch erst in der Vermittlung durch die konkrete kulturelle Praxis, das entsprechende kollektive Selbstverständnis und im Rahmen der jeweiligen Verfassungs- und Rechtsordnung. Die gemeinsamen europäischen Werte, auf die in der Diskussion rekurriert wird, prägen sich in national vermittelten Gestalten aus.

Wie sehr dieses Verständnis auch von den Mitgliedsländern der EU unterschiedlich ausgeprägt sind, kann man in vielen Aspekten des öffentlichen Lebens wahrnehmen, z.B. im Aufbau der jeweiligen Organisationen. Bei jedem Grenzübertritt allen diese Unterschiede im gewachsenen Lebensverständnis auf. Wer in Aachen die Grenze zu den Niederlanden überquert findet in einer nahezu zusammengewachsenen Stadt ein plötzlich anderes Lebensgefühl, das sich zunächst an Kleinigkeiten im Straßenbild festmacht, die abstrakten Kategorieen fern sind. Deren Unterschiede nicht wahrnehmen zu wollen und die jeweiligen Identitäten zu ignorieren, die hier ihren Ausdruck finden, erscheint höchst unpassend und keinesfalls einer Vielfalt verpflichtet. Identität macht sich nicht immer nur in hehren Werten fest, sondern auch in jener gewachsenen Praxis.

Migranten haben darum ein inhärentes Problem der Identität. Sind sie ihrer eigenen Herkunft dauerhaft verpflichtet, gar schicksalhaft gebunden? Oder finden sie als Verpflanzte eine neue Identität in einer nicht-angestammten Leitkultur? Beispiele geglückter Integration weisen entweder noch den Raum einer folkloristischen Traditionspflege auf, die identitätsstiftend ist, aber die nicht an einem absoluten Werte-Konservativismus gebunden ist. Andere positive Beispiele liegen in der sogenannten Assimilierung: Der Migrant akzeptiert seine neue Heimat als gewählte Identität, in der er gar keine Gegenposition aufrecht erhalten will. Traditionspflege wird dann bedeutungslos. Beide Varianten verhindern kein sozialverträgliches Lebensglück, wenn die aufnehmende Gesellschaft jene migrantischen Identitäten in gleicher Weise akzeptiert. Ein Hineindrängen in eine folkloristische Identität ohne Möglichkeit der Assimilation schafft dagegen eine Ausgrenzung, die eben den Migranten nicht als vollwertiges und selbstbestimmtes Mitglied der Gesellschaft anerkennt. Ebenso wird ein Druck zur Assimilation als Belastung des eigenen Selbstverständnisses zu recht abgelehnt.

In vielen Fällen entsteht aber der Eindruck, dass sich starke Subkulturen herausbilden, die sich wenig von den Herkunftsländern unterscheiden. Teilweise wird die neue Umgebungs-Kultur radikal abgelehnt und verachtet. Das ein derartiges Verhältnis, sofern es denn eine kritische Masse übersteigt, zu gewaltigen Problemen führt, liegt auf der Hand. Hier sollte ein klarer Konsens bestehen, dass dies nicht ohne weiteres akzeptiert werden kann und mit wirksamen Maßnahmen begegnet werden muss.

Da es sich aber nicht nur um individuelle Einstellungen und Empfinden handelt, sondern die gesellschaftliche Relevanz im Fokus liegt, ist diese näher zu betrachten:

Kollektive Identität

So sind zwar sowohl der Verfassungspatriotismus als auch die gemeinsamen Werte für das öffentliche Zusammenleben unentbehrlich. Doch mit Blick auf die Frage nach der Grundlage des gesamtgesellschaftlichen Zusammenlebens weisen beide über sich hinaus auf das kollektive Selbstverständnis mit seiner Geschichte, seinen Prägungen, Traditionen und Institutionen, kurz gesagt: auf die kollektive Identität.

Das Positionspapier hält fest, dass jene unscharf bleibt und keinen Kanon an Kriterien, die völlig adaptiert werden müssen, sondern sich eher als Additiv verstehen.

Was die deutsche Identität ausmacht, lässt sich nicht in einer Liste erschöpfend aufzählen. Sehr wohl aber hat diese Identität eine Vielzahl von „Trägern“ oder „Verkörperungen“, durch die die Identität repräsentiert wird. Von allergrößter Bedeutung ist dabei die deutsche Sprache als identitätsbildender Faktor. Was sodann die deutsche Identität ausmacht, manifestiert sich in geographischen Orten und historischen Daten, in Bauwerken und Denkmälern, in Bildern, Emblemen und Symbolen, in literarischen Werken, in Liedern und Gedichten, in repräsentativen Personen, in Traditionen, in Festen und nicht zuletzt in mythischen Erzählungen sowie in der besonderen Ausprägung bestimmter Tugenden, in denen sich die Eigentümlichkeiten des Nationalcharakters zeigen. In alledem kommt die deutsche Seele zum Ausdruck, spiegeln sich Mentalität, Sichtweisen, Wahrnehmungen und Gefühle, die das prägen, was uns als Gemeinschaft ausmacht.

Gerade eine derartige Liste, die nicht zuerst nach der Integration von Migranten fragt, sondern sich auf eine Selbstidentifikation bezieht, muss man zwischen Leitkultur und Kultur unterscheiden. Leitkultur will der gemeinsame Nenner von Werten sein, der eine Möglichkeit der Integration liefern muss. Ein kulturelles Selbstverständnis wird damit nicht exklusiv festgelegt. Deutsche Kultur und Identifikation kann und muss darüber hinaus  gehen. So ist der Bezug zu Ort und Geschichte, zu Tugenden und Mythos keineswegs in gleicher Weise für alle Deutschen verpflichtend, behält aber eine überlappende identitätsstiftende Wirkung, an der auch Migranten per Adaption partizipieren können. Dies aber ist im Kontrast den deutlich enger gezogenen Konsens der Leitkultur eben nicht verpflichtend.

Positiv verstanden will der Positiostext zur Identifikation des Wesenskerns in unterschiedlichen Ausprägungen beitragen, aber Kritiker werden hier gerade einen verpflichtenden Kanon erkennen, der zur Ausgrenzung jeer führt, die hier nicht partizipieren können oder wollen. Sie riechen Kitsch und Deutschtümelei. Damit tun sie aber dem Text unrecht, denn er betont gerade, hier kein scharfer Kanon sein zu wollen. Dem Positionstext ist vorzuwerfen, diesen erwartbar kritischen Ansatz nicht klarer argumentativ zu begegnen.

Interessant ist hier die Erläuterung zu einem eher missverständlichen Begriff im Positionstext auf S.30 f:

Mythos

Die aufgezählten Erinnerungsorte, Vorgänge, Symbole oder Daten nehmen oft den Charakter von „Mythen“ an. Ein Mythos in diesem Sinne ist nicht etwa eine falsche, märchen- oder gar lügenhafte Vorstellung, die beispielsweise durch wissenschaftliche Forschung „widerlegt“ werden könnte. Vielmehr ist ein Mythos eine Erzählung, deren Funktion gerade in der Identitätsstiftung und in der Integration von Gemeinschaft besteht, die als solche allerdings kritisiert und sogar „dekonstruiert“ werden kann. Ein solcher Mythos hat stets einen „wahren Kern“, knüpft an eine konkrete Begebenheit, ein Ereignis, einen Ort oder einen Begriff, ja selbst an wissenschaftliche Konzepte an. Dementsprechend ist beispielsweise vom „Mythos Wirtschaftswunder“, vom „Mythos Trümmerfrauen“, vom „Mythos 1968“ oder vom „Mythos Weimar“ die Rede.

Dies ist beachtlich, denn die Unschärfe und identitätsstiftende Wirkung erinnert an den Begriff Ethnie. Die verbindende Erzählung lässt kaum das Eine vom Anderen trennen. Dies wird auch in der Identität Israels deutlich, die sich im Kern auf Abraham, Moses und den Auszug aus Ägyptenland, die Wüstenwanderung und die Landnahme des verheißenen Landes bezieht. Historiker bezweifeln allerdings massiv dessen realhistorischen Gehalt. Am populärsten wird in ‚Keine Posaunen vor Jericho‘ von Israel Finkelstein und Neil A. Silberman dies erläutert. Ohne in eine inhaltliche Diskussion zu den dort gemachten Aussagen zu befeuern: Ändert sich durch eine möglicherweise völlig andere Realhistorie irgend etwas am Selbstverständnis des Gründungsmythos? Es ist ein Fakt, dass die Erzählung wirkmächtig genau dieses Volk formte. Die Frage, ob sich die Geschichte genau so, ähnlich oder überhaupt nicht stattfand, bleibt darin zweitrangig. 

Auch wenn derartige Erzählungen klar wirksam kulturstiftend sind, so sind sie doch nicht Teil der Leitkultur, die lediglich das Verbindende unter pluralen Kulturen erklärt.

Kultureller Erfolg

Das Streben von Individuen und Gemeinschaften noch einem Ziel, wie Wohlstand, Zufriedenheit, Lebensglück, Extase, Gerechtigkeit, Gleichverteilung, Stolz, Ruhm, Macht, Kunst oder ähnliches ist sicher nicht unter allen Völkern gleich verteilt. Auch werden diese Werte in gleicher Prioritätenfolge bewertet. Eine Schlüsselstellung hat sicher aber der wirtschaftliche Erfolg, denn damit lassen sich viele Ziele leichter verwirklichen. Wenn es denn etwas mehr zu verteilen gibt, ist es besser als die Armut gleich zu verteilen. Sicher mag kulturelle Schönheit oder Lebensglück nicht stark damit korrelieren, aber summarische strebt gerade das Prekariat diverser Kulturen in den Bereich der wirtschaftlich erfolgreichsten Kulturen.

Aber wie kommt es, dass einige Kulturen ungleich erfolgreicher sind als andere? Es ist weder der materiellen Grundausstattung an Ressourcen, noch völlig aus geschichtlich akkumulierten Kapital, dass ggf. zu Unrecht erworben wurde, sondern offensichtlich diverser Faktoren faktoren geschuldet, die wohl sämtlichst einen kulturellen Bezug haben. Einige der Erfolgsfaktoren nennt der Positionstext:

Zu den Tugenden, die unsere kollektive Identität ausmachen, gehören beispielsweise die Liebe zu Genauigkeit und Präzision, Fleiß, Ordnungsliebe, Leistungsbereitschaft oder Pünktlichkeit. Diese Eigenschaften gibt es selbstredend auch bei anderen Völkern, doch werden sie den Deutschen gerade von anderen als besonders charakteristisch zugeschrieben. Es sind diese Tugenden, die auch hinter den Leistungen des weltweit geachteten deutschen Handwerks oder der deutschen Ingenieurskunst und allgemein der deutschen Wertarbeit stehen. Diese erfahren als Qualitätsmarken auch heute weltweite Achtung und Bewunderung („Made in Germany“). Hier wird erkennbar, dass die kollektive Identität auch die Basis dessen bildet, was als das „soziale Kapital“ einer Gemeinschaft bezeichnet wird. Mit dem Begriff des sozialen Kapitals sind Merkmale des sozialen Lebens gemeint, die die Kooperation der Menschen befördern bzw. durch die Beteiligte gemeinsame Ziele besser oder effektiver erreichen können.

Man mag die Leitkultur von den sonstigen Spezifika einer Kultur trennen. In der Anerkennung und Förderung erfogsgebender Tugenden und Leistungen sind wir im Grenzbereich zwischen einer spezifischen Kultur und der Leitkultur. Zu integrierende Kulturen, die unter dem Dach der Leitkultur ihren Platz finden sollen, gehört auch eine vergleichbarer wirtschaftlicher Erfolg. Denn sollten inländische Subkulturen zu einem deutlichen Unterschied hinsichtlich des wirtschaftlichen Erfolgs kommen, gar eine Schere sich immer weiter öffnet, so können die daraus resultierenden Spannungen kritisch bis staatsgefährdend werden. Es empfiehlt sich folglich für die migrierenden Menschen, sich an jenen Erfolgsfaktoren zu orientieren.

Uneindeutigkeit von Kultur und Identität als Aufgabe

Der Positionstext bleibt bei der Suche nach dem kern kollektiver Identität sich der Unschärfe bewusst – Seite 34

Die Ambivalenz und Uneindeutigkeit, die den repräsentierenden Daten, Orten, Symbolen etc. eignet, verweist darauf, dass die kollektive Identität immer wieder zum Gegenstand der öffentlichen Reflexion und Auseinandersetzung zu machen und darin zu aktualisieren ist. Auf diesem Wege erfolgt die kollektive Selbstvergewisserung im Wandel der Zeit.

Gerade darum bedarf es einer beständigen Aufgabe, die eigene Identität stets zu prüfen und zu hinterfragen. Sowohl die Suche nach dem Konsens als kollektive Verbindung, als auch die selbstkritische Prüfung kann darin nie als abgeschlossen gelten. Auch sind diese nicht immer von Harmonie geprägt:

Die Dimensionen der Identität stehen keineswegs immer in einem harmonischen Verhältnis zueinander. Vielmehr kennen wir Spannungen und Konflikte innerhalb der Identität, die sich bis zu Identitätskrisen auswachsen können. Das gilt auch für die kollektive Identität, die an unterschiedliche, oft konfligierende und bisweilen einander widersprechende Erinnerungen und Erinnerungsträger anknüpft. Dementsprechend differieren auch die Bewertungen einzelner Aspekte der kollektiven Identität: Eine kollektive Identität enthält sowohl positiv als auch negativ bewertete Bestandteile.

Der Positionstext will darum keineswegs eine Geschichtsklitterei und Revisionismus, die sich eine Identität aus einem gesuchten Wunschbild zimmert, sondern eine ehrliche und differenzierte Auseinandersetzung:

Für die Deutschen ist es insbesondere die Zeit des Nationalsozialismus, die einen Schatten auf die kollektive Identität wirft. Zweifellos ist das Verhältnis zum Nationalsozialismus Bestandteil der deutschen Identität geworden.

In der Folge aber wird aus dieser alles überschattenden Marke des Geschichtsverständnis eine politisch-ideologische Waffe:

So laufen wir heute gerade in Deutschland Gefahr, unter dem alles verdunkelnden Schatten des Dritten Reiches zu einem geschichtslosen Volk zu werden, das für die Regierenden so lange bequem ist, als es mit einem breiten Konsumangebot zufriedengestellt werden kann. Derart domestizierte Bürger sind unseren Regierenden willkommen, denn solche Bürger lassen sich leichter manipulieren.

Diese Deutung nimmt eine politische Wertung des Geschichtsverständnis vor, die sicher breiter kontrovers diskutiert werden kann. Für mich ist es aber ein klarer und zulässiger Beitrag, der nicht zwingend zum Konsens führen muss.

Indes ist die Geschichtslosigkeit, die der Manipulation und Zerstörung der Identität Tür und Tor öffnet, ein allgemeineres Phänomen in den westlichen Gesellschaften.

Der Aspekt der Geschichte ist darum für die angestammte Identität von großer bedeutung. Die Leitkultur, die als integratives Band auch für Migranten bedeutsam ist, kann hier nicht identitätsstiftend sein, denn Migranten sehen es nicht als ihre Geschichte. Sie können aber die Identität der Kultur, in die sie migrieren, eher verstehen und erkennen, wenn sie den geschichtlichen Rahmen kennenlernen und sich selbst dazu ein Verhältnis bilden: Wollen sie Deutsche werden und sich damit auch in die kollektive Erinnerung eingliedern, auch wenn es nicht ihre persönliche Herkunft ist? Oder wollen sie selbst ihre migrantische Identität pflegen, sich in Distanz zur neuen Umgebungskultur stellen und somit eben ihre Rolle als Distanzierte aufrecht erhalten? Zumindest ein Respekt vor jener Kultur, die neue Heimat werden soll, erscheint hier als zwingende Voraussetzung.

Einschub: Frau Özoguz und die Integration

Unter dieser Perspektive wird deutlich, dass das Zitat von Aydan Özoguz, der Integrationsbeauftragten der Bundesregierung mit deren Feststellung: „… eine spezifisch deutsche Kultur ist, jenseits der Sprache, schlicht nicht identifizierbar.“ … eher verstörend ist und nicht von dem Respekt zeugt, den man erwarten kann. Verschärft wird diese Irritation durch das Amt, das Frau Özoguz bekleidet. Wie kann man dann von einfachen Migranten erwarten, jenen Respekt vor der hier vorherrschenden Kultur zu haben, wenn selbst die Repräsentanten des Staates für nicht-existent erklären? Worin sollten sie sich integrieren? Es ist darum erforderlich, den Kontext von Özoguz Behauptung anzusehen:

Schon historisch haben eher regionale Kulturen, haben Einwanderung und Vielfalt unsere Geschichte geprägt. Globalisierung und Pluralisierung von Lebenswelten führen zu einer weiteren Vervielfältigung von Vielfalt.

Dies ist fraglos richtig. Aber daraus folgt lediglich dass eine Deutsche Kultur nicht monolithisch ist – was wohl auch keiner behauptet. Aus dem Zusammenwachsen unterschiedlicher deutscher Länder bildete sich faktisch aber gerade eine Leitkultur heraus, die das Gemeinsame der regionalen Kultur erkennt. Das ist dann eher ein Affront in der Pauschalität zu behaupten:

Konkrete Leitkultur-Vorschläge verkommen zu lächerlichen Klischees übers Deutschsein

Natürlich kann man bei der Suche nach der Ausprägung jener Identität auch aussagen finden, die man für falsch oder wenig hilfreich empfindet. Eine pauschaler Rundschlag kommt aber eher einer Diskursverweigerung gleich. Frau Özoguz äußert sich ablehnend gegenüber einer verbindenden Basis des Zusammenlebens:

Diese kulturelle Vielfalt ist auch anstrengend, aber sie macht die Stärke unserer Nation als eine offene Gesellschaft aus. Die Beschwörung einer Leitkultur schafft dagegen nicht Gemeinsamkeit, sondern grenzt aus.

Was bedeutet hier Nation und Gesellschaft, wenn eine verbindende Grundlage abgelehnt wird? Dies ist hier schlicht nicht erkennbar. Die Behauptung der Ausgrenzung zeigt eher ein irreführende Unverständnis des Begriffs, der nach über 20 Jahren Begriffsgeschichte und Diskussionen verwundert bei einer Amtsträgerin.

Auch Einwanderern kann man keine Anpassung an eine vermeintlich tradierte Mehrheitskultur per se verordnen, noch unterstellen, dass sie Nachhilfeunterricht benötigen, weil sie außerhalb unseres Wertesystems stünden. Oder wollten wir ernsthaft behaupten, das Leistungsprinzip gebe es nur in Deutschland, nur wir sähen Bildung als Wert?

Wie kann es zu derartigen Behauptungen kommen, die eine Mischung aus Stohmann-Argument und absurden Unterstellungen sind: Leitkultur will Integration unter einem verbindenden Dach, und eine derartige Anpassung muss auch gefordert werden. Dies aber beinhaltet keinen Zwang zur Aufgabe eigener Identität und Tradition. Wie sonst soll eine offene Gesellschaft funktionieren, die nicht in viele Parallelkulturen zerfällt? Worin soll sich ein Migrant integrieren?

Seltsamer Weise beantwortet Özoguz diese implizite Frage gerade im Sinn einer gerade noch zurückgewiesenen Leitkultur:

Hat unsere Verfassung also keine Erwartungen, keine Zumutungen an ihre Bürgerinnen und Bürger, eingewandert oder einheimisch? Doch, aber sie liefert uns kein kulturelles, sondern ein politisches Leitbild. Sie gibt eine politische Kultur vor, die allen zugänglich ist und zugemutet werden kann und muss. In diesem Sinn können und müssen sich natürlich auch Eingewanderte in die politische Kultur einleben, ein geschichtliches Verständnis von der neuen Heimat und deren Verfassungsprinzipien entwickeln, Respekt haben vor einer lebendigen Streitkultur, die auf Widerspruch, Meinungsvielfalt und Verständigung setzt.

Özoguz scheint heir ein äußerst seltsames Verständnis von Kultur, dass sie anscheinend für irgendwie nachvollziehbar hält, aber im Gegensatz zu einer politischen Kultur steht. Kann es sein, dass Özugus mit dem Begriff ‚politische Kultur‘ weitgehend das selbe meint wie Leitkultur im Sinne Tibis? Was soll dann der Begriffswirrwarr?

Unter einer lebendigen Streitkultur verstehe ich einen klaren, auch scharfen Disput, der auch Polemik nicht per se ausschließt. Allerdings schließt er aus, dass ohne Anerkennung der gegnerischen Argumente eine konstruktive Diskussion möglich ist. Frau Özoguz scheint dieser gar nicht wahrzunehmen der ernst zu nehmen. Vielmehr scheint sie an diesen vorbei irgend was zu behaupten, dass kaum noch verständlich ist, zumal sie dann dem Ansatz von weitgehend den Ansatz Tibis folgt.

Entsprechend schreibt sie:

Mein Vorschlag: Ein Gesellschaftsvertrag mit den Werten des Grundgesetzes als Fundament und gleichen Chancen auf Teilhabe als Ziel.

Genauso erwarten wir aber auch von jeder und jedem die klar erkennbare Anstrengung, teilhaben zu wollen und sich einzubringen. So betrachtet müssen wir uns dann nicht über eine kulturelle, sondern über eine politische Handlungslinie verständigen. Damit wir unser gemeinsames Ziel erreichen, dass sich jeder und jede zugehörig fühlen kann, unabhängig von der Herkunft.

Ein derartiger Beitrag läuft letztlich auf eine ähnliche Ziellinie wie auch Tibis Ansatz der Leitkultur heraus, die aber in ihrer verwirrenden Begriffspolemik eher destruktiv und wenig zielführend wirkt. Kern darin ist das kaum nachvollziehbare Kulturverständnis von Frau Özoguz. Dies liefert so keine Orientierung gerade für Migranten, sondern ein unbestimmtes Zielbild, dass sich einem Konsens verweigert. Wozu soll sich hier irgend jemand zugehörig fühlen?

Es entsteht der Eindruck, dass Frau Özoguz ohne eine nachvollziehbare Konkretisierung die Begriffs- und Deutungshoheit erreichen will.

Deutschland in Europa

Ab Seite 38 bemüht sich der Positionstext um eine Bestimmung deutscher Kultur im Verhältnis zu Europa. Kultur wird nicht als exklusiver, gar monolithischer Begriff verstanden, sondern jeweils als Ebene einer Struktur gesehen.

Die deutsche Kultur ist dementsprechend ein Teil der europäischen Kultur, die in Deutschland eine ganz spezifische Ausprägung erfahren hat – nicht anders als in Italien, Polen oder der Schweiz.

Aber auch die Bestimmung jener Charakteristik wird keinesfalls von allen Deutschen geteilt und will das auch gar nicht.

Es liegt auf der Hand, dass sich nicht jeder Einzelne mit allen Elementen der deutschen Identität identifiziert. Das wäre auch unmöglich. So mag nicht jeder Bratwurst oder hört gerne die Opern des Richard Wagner. Tatsächlich finden sich von manchen der Elemente, die unsere nationale Identität prägen, oft nur noch blasse Spuren im breiteren Bewusstsein der Menschen. Beispielsweise kennen heute selbst Abiturienten Goethe oder Schiller bisweilen nur noch vom Hörensagen.

Diese Unschärfe, die hier auch klar adressiert wir, ist aber Gegenstand, an der sich eine ablehnende Diskussion entzündete. Der Positionstext schlägt darum eine Konkretisierung vor.

Entscheidend bleibt aber: Die Elemente der deutschen Identität haben eine Präsenz im öffentlichen Raum, sind selbstverständliche Bezugs- und Anknüpfungspunkte nicht nur in der Bildung, im Kulturleben oder in der Politik unseres Landes, sondern auch in privaten wie gesellschaftlichen Foren (etwa im Vereinsleben). Vor diesem Hintergrund wird deutlich, dass die Identität der Pflege bedarf. Vor allem in den Schulen und den Bildungseinrichtungen muss die Förderung einer lebendigen Vermittlung der identitätsprägenden Inhalte unserer Kultur und Geschichte wieder zur pädagogischen Leitlinie werden.

Allerdings wird hier weniger der Ansatz der Leitkultur als Dach der Integration gesucht, sondern eine Rückbesinnung auf ein traditionelles Kulturverständnis. Es bleibt legitim in einer Zeit, in der dieses Verständnis stets hinterfragt wird, muss aber von der Funktion einer Leitkultur getrennt betrachtet werden. Für Menschen anderer Herkunft kann dies als Identifikationsangebot – wenngleich auch in selbstbestimmbarer Distanz – verstanden werden. Widersinnig erscheint eine verpflichtende Adaption von nationalen Spezifika. Werden dagegen jene prägenden Elemente pauschal zurückgewiesen, entsteht eine Schwächung jener Kultur, deren Pflege für viele ein Anliegen ist.

Entgegen der Ansicht, die Verfasser würden einer Identitätsbestimmung von oben steuern oder verordnen wollen, sagt der Text:

Der Versuch, Identität und Identitätsbildung per staatlicher Entscheidung in eine bestimmte Richtung zu nötigen, bestimmte Elemente der Identität zu unterdrücken oder aus politischen Motiven heraus neue Identitätselemente aufzunötigen oder bestimmte neue kulturelle Verhaltensweisen- oder Sichtweisen zu erzwingen, weckt den Verdacht ideologischer Manipulation und hat meist Züge autoritärer Herrschaftspraxis. Hierher gehören nicht zuletzt die Versuche der Sprachsteuerung im Sinne der „politischen Korrektheit“. Sie verfolgt das Programm, den Menschen eine „neue Identität“ aufzunötigen – und zwar eine solche, die mit der Zerstörung der Identität unserer Herkunft einhergeht. Das ist die Intention des Programms der Multikulturalisierung.

Offensichtlich lehnen die Verfasser das Konzept der Steuerung grundsätzlich ab, nicht nur die konkreten de facto Versuche, genau das zu erreichen. Es wird stärker an einem konservativem Verständnis des kulturellen Erbes angesetzt, dass der Beliebigkeit, ideologischen Umdeutung und politischer Instrumentalisierung wehrt.

Da dieser Text die übliche Länge bereits übersteigt, aber der Positionstext noch nicht umfassend behandelt wurde, geschweige der Kritik von Ermeler diskutiert wurde,  wird er in dem Folgeartikel Leitkultur, Nation und Patriotismus fortgesetzt.

 

4 Gedanken zu „Das Scheitern des Diskurses um die Leitkultur“

  1. Mir fällt zunächst auf ( und mir fehlt ) daß ich zwischen „Sein“ und „Wollen“ dringend unterscheiden möchte. Wandere ich aus, in eine fremde Kultur, ja, dann werde ich vielleicht niemals „richtig dazugehören“. Meine weiße Haut, der andersartige Körperbau, die Muttersprache ( die im neuen Land zu einem heftigen Akzent führen kann ), dazu viele „Kleinigkeiten“ werden mich „auf ewig“ fremd sein lassen in diesem Land. ABER – ich kann versuchen, das zu kompensieren durch einen immensen Willen „so zu tun“, als ob ich ein dort Eingeborener wäre: die Meinungen annnehmen ( soweit vertretbar ), die dortigen Überlieferungen kennenlernen, wertschätzen und dann selber weitergeben. Kurz: die mir zunächst fremde Leitkultur verinnerlichen und leben. Mit meinem Wollen ersetze ich all das was meinem Sein an Integration fehlt. Dies insoweit nur als „Vorbemerkung“.

    1. So ähnlich denke ich auch, aber ich sehe es weit weniger dramatisch. Es erfordert keinen immensen Willen, auch keine vollständige Angleichung. Vielmehr könnte ich mir die Geschichte eines Berliners in der bayrischen Provinz vorstellen: Die Einheimischen werden in kritisch beäugen und ihn als Fremden ansehen. Er aber macht unverdrossen am Gemeinschaftsleben mit, auch wenn er die Ressentiments wahrnimmt. Irgendwann kommen dann die Dörfler und sprechen ihn eher kameradschaftlich an: „Koam, Saupreiß, mach‘ schoa mit“ – was erwartet man mehr? … und da macht es dann wenig Unterschied, ob es nun wirklich ein Berliner, ein Nigerianer oder ein Vietnamese ist. Wer sich einbringen will, muss natürlich mit Vorbehalten rechnen, und es braucht meist ein dickes Fell, dieses Phase zu überstehen. Dann aber, und da bin ich sehr zuversichtlich, wird es mit der Akzeptanz fast überall in Deutschland auch funktionieren.
      Wer aber auf sein Anders-Sein Wert legt, gar eine Ignoranz oder Verachtung gegen die Einheimischen zeigt, muss sich nicht wundern, wenn er keine Akzeptanz erfährt.
      Ein Beispiel ist für mich auch Imad Karim, der zwar noch erkennbar anders spricht als ein Eingeborener, aber sich völlig mit der Kultur und dem Land seiner Wahl identifiziert.

      1. Volle Zustimmung zu Martin Landvoigt am 26.11.18 – und mehr: ZITAT „Die Einheimischen werden ihn kritisch beäugen und ihn als Fremden ansehen. Er aber macht unverdrossen am Gemeinschaftsleben mit, auch wenn er die Ressentiments wahrnimmt“. Der „neutrale“ Leser könnte hier immerhin ein negatives Verhalten „erkennen“, welches danach – gottseidank – überwunden werden kann. Ich persönlich sehe aber in der im Zitat beschriebenen Haltung eher etwas Positives. Der Fremde wird zunächst für WÜRDIG gehalten, daß man genau hinschaut. „Was bist du denn für einer, was denkst du denn so? Meinst du, ich könnte dich irgendwann lieb gewinnen? Werde ich dir vertrauen können?“ Diese Haltung ist mir hundertmal lieber als eine uninteressierte Liberalität a la „mach doch was du willst, mir ist das alles egal. Und wenn mir etwas nicht egal sein sollte, dann werde ich mich hüten, irgendetwas zu sagen. Ich bin doch kein Rassist, sondern ein Gutmensch“. Die gutmenschliche Haltung erweist sich bei genauerem Hinsehen als lieblos, interesselos und chancenlos hinsichtlich einer ( eigentlich fast immer möglichen ) echten Integration. Daran ändert auch die andere gutmenschliche Variante nichts, das kritiklose „Schwärmen“ für alles exotische und andersartige, was von dem „Neuen“ ausgeht. Es ist ganz im Gegenteil unzulänglich, dumm und im Kern unmenschlich.

        1. Ich sehe das ähnlich. Vorurteile, Ressentiments oder gar Fremdenhass wird aber nicht immer überwunden, sondern kann sich auch über Generationen festsetzen. So waren ja auch oft deutsche Migranten. Aus dem Osten sind mir Berichte zugetragen worden, dass diese auch in der 3 und 4. Generation noch immer als die Deutschen galten, selbst wenn sie deutsches Kulturgut und Sprache gar nicht pflegten. Das wäre dann die dunkle Seite jener Ressentiments, die aber bis zu einem bestimmten Punkt nicht so exklusiv wirken. Darum wäre es auch meine Zielvorstellung, dass man Fremde zunächst in kritischer Distanz sieht, aber mit dem Ziel der vollen Integration. Das aber erfordert auch einiges seitens der Migranten.

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