Leitkultur, Nation und Patriotismus

Im ersten Teil des Aufsatzes – Das Scheitern des Diskurses um die Leitkultur – wurde die Herleitung und Bedeutung des Begriffs der Leitkultur nachgezeichnet  – wie sie Bassam Tibi seit 1996 wiederholt erklärte: Sie ist das verbindende Glied, dass sich aus einem pluralem kulturellem Schmelztiegel keine auseinanderdriftende Parallelkulturen entwickeln und damit Staat und öffentliche Ordnung gefährden, sondern eine buntes Bild auf eine gemeinsame Basis stellen. Leitkultur kann damit die jeweiligen migrantischen Kulturen nicht vereinnahmen, gar zwangs-assimilieren, sondern bietet Raum sowohl für eigenes, als auch für das Andere. Damit ist die Leitkultur zwangsläufig von der angestammten Identität der Bürger zu unterscheiden, die hierin auch die Rolle des Eigenen sehen, das in Dialog mit der migrantischen tritt. Leitkultur ist also jener Schirm, der die unterschiedlichen Kulturen überspannt.

Der Hauptteil ist darin die Diskussion zu
LEITKULTUR, IDENTITÄT, PATRIOTISMUS
Ein Positionspapier der AfD-Fraktion im Thüringer Landtag als Beitrag zur Debatte um die deutsche Leitkultur. Auch kritische Stimmen kamen zu Wort: Danach folgt die Kritik  Für Höcke, Volk und Vaterland von Marcus Ermler .  Zunächst aber wird  der Ausgangstext mit Kapitel 5. Nation und Patriotismus ab Seite 42 fortgesetzt.

[Die Nation] stellt das entscheidende Prinzip der Politik moderner Gesellschaften dar, das den demokratischen Verfassungsstaat tragen und vermitteln kann. Diese Einsicht wird von denjenigen ignoriert, die heute einer unkritischen Befürwortung der Globalisierung (Globalismus) frönen.

Gerade heutzutage ist dies keineswegs mehr selbstverständlich, sondern bedarf der Erklärung. Warum sollte gerade die Nation dieser zentralen Rolle zukommen? Immerhin gibt es unterschiedliche Traditionen … manche mögen gar von unterschiedlichen Ethnien sprechen, wenn sie Bayern mit Sachsen oder Pfälzern vergleichen. Die moderne Nation hat sich aber als Gemeinschaft und rechtsgebender Souverän herausgebildet, die in unterschiedlichen Staaten jeweils eine eigene Ausprägung und Identität erzeugte. Auch wenn Kultur und kollektive Identität nicht monolithisch oder klar definiert verstehen lassen, sondern eher als ein unscharfe Struktur, so ist doch die Nation die zwingende Voraussetzung für eine demokratische Verfassung. Dieser Staat wird durch das Staatsvolk und Verfassung konstituiert. Alternativen dazu wecken erst recht Misstrauen vor Herrschaftsstrukturen, die sich der Kontrolle des Volkes entziehen.

Das Wort von der ‚Überwindung des Nationalstaats‘ geistert durch die öffentliche Diskussion.  Gemeint damit ist eine Ablösung einer Identität, die sich auf die Nation bezieht. Damit einher geht natürlich auch eine Aufgabe nationaler Souveränität, wie auch in Bereichen EU-Recht bereits deutsches Recht bricht. Überwindung des Nationalstaats bedeutet daher in der Konsequenz eine völlige Auflösung nationalem Rechts. Der Glaube, das man selbst allerdings sehr wohl das Gute vertrete, ist dabei eine Selbstverständlichkeit. Die Vorstellung, dass man allerdings mit der Abgabe der nationalen Souveränität aber seinen Einfluss auch schmälert, scheint jenen fern:  Was aber, wenn in dem künftigen Souverän EU auf einmal Salvigni, Orban, Le Pen und Kurz die tonangebenden Leute seien und die heutigen linksorientierten Führer in der Opposition? Aber sie hätten mit der Aufgabe der nationalen Souveränität weitgehend selbst entmachtet, um wirkungsvoll ihre Überzeugungen zu vertreten. Es läge darin im Interesse eines Jeden, ob nun links- oder rechts-orientiert, die eigenen Gestaltungsmöglichkeiten zu sichern und dieser These zur Auflösung des Nationalstaats  mit Skepsis zu begegnen. Es sei denn, man ist von der Moralität der Mehrheit überzeugt. Dabei hätte man seit 1933 wissen müssen, dass die Demokratie kein sicherer Schutz gegen den Totalitarismus leisten kann.

Eine andere Vision der Entgleisung zeigt der Roman ‚Unterwerfung‘ von  Michel Houellebecq : Hier wird die demokratische Machtübernahme einer muslimischen Bruderschaft beschrieben. Hier ging es zwar ’nur‘ um Frankreiche, aber ein noch größeres Gebilde wie die EU würde sich ebenso anfällig erweisen. 

Mit der Liebe zum Vaterland ist die gerade auch gefühlsmäßige Bindung an die Gehalte und Symbole der eigenen Nation gemeint, das Sich-heimisch-fühlen im Eigenen der nationalen Identität. Aus diesem Patriotismus heraus speist sich der Bürgersinn, der sich in der gelebten Bejahung der gemeinsamen öffentlichen Ordnung niederschlägt und insoweit auch den Verfassungspatriotismus motiviert und die Demokratie lebendig erhält. Ein solcher Patriotismus muss weder unkritisch noch gefühlsduselig sein, er bedeutet auch nicht ein Herabsehen auf andere Völker und Lebensweisen.

Die gefühlsmäßige Komponente ist weder zwingend – eine kühle Bejahung kann ähnliche Wirkung entfalten -, noch entwertet sie den intellektuellen Zugang zum Konzept. Von entscheidender Wichtigkeit ist darin aber die Klärung, dass eigene Vaterlandsliebe keineswegs eine negative Einstellung zum Anderen und Fremden beinhaltet, sondern sich durchaus im Respekt vor dem Migranten und Nachbarn ausdrücken kann.

Durch die Ähnlichkeiten der Begriffe und des zum Teil gewollten Missverständnisses ist wichtig, das Verständnis auch klar zu benennen.

Die Menschheit ist nicht die globale Gesamtheit aller gerade
lebenden Individuen, sondern sie begegnet in der Vielzahl der
historischen Völker und Kulturen, in denen sich die Individuen
entfalten und entwickeln.

Menschheit, bzw. der Mensch als generisch gemeintes Wesen in seiner Vielgestalt, wird oft missverstanden als enges und exklusives Verständnis einzelner Kulturen.  Die Vielgestalt des Menschen ist aber bereits im biblischen Schöpfungsgeschichte angelegt:

  1. Mose 1,27: Und Gott schuf den Menschen zu seinem Bilde, zum Bilde Gottes schuf er ihn; und schuf sie als Mann und Frau.

Auch der Name Adam steht weniger für das Individuum, sondern generisch für den Menschen schlechthin, der hier nicht uniform, sondern in Vielgestalt verstanden wird.

Nach Johann Gottfried Herder (1744-1803), einem Vordenker des Nationalgedankens, bilden die Vielzahl und Vielfalt der Völker das Bauprinzip der einen Menschheit. Herder erkannte in der Perspektive dieser Vorstellung auch, dass jede Nation sich in ihrer Eigenart soll entfalten dürfen, dass aber dieses Recht allen Völkern gleichermaßen zusteht. Daher sollte kein Volk für sich in Anspruch nehmen, anderen Völkern die eigene Lebensweise aufzwingen oder sich in die Lebensweise eines anderen Volkes einmischen zu dürfen. Es ist dieser Gedanke, der auch hinter dem seit der Französischen Revolution anerkannten Prinzip der nationalen Selbstbestimmung steht. Dieses Prinzip ist zentral für das moderne Völkerrecht; seine Missachtung hat immer wieder zu Konflikten und Unfrieden geführt.

In diesem Sinn ist Patriotismus und Nationalstaat keineswegs die Ursache von Krieg und Konflikten, sondern ein Weg diese Konflikte möglichst zivilisiert beizulegen. Auch wenn dies nicht immer funktionierte. Natürlich gibt es auch das Zerrbild des Nationalismus, der das Eigene als den Anderen nicht nur als überlegen ansieht, sondern daraus auch erweiterte Rechte gegen die Anderen beansprucht oder gar die Anderen verachtet. Aber es ist weder notwendig, aus Patriotismus so zu denken, noch ist es zulässig. Denn gerade das eigene Volk muss sich mit Nachbarn in fruchtbarer Weise zusammen leben, Handel treiben und sich in Not unterstützen. Darum wäre es unpatriotisch, Positionen zu vertreten, die mit Fug und Recht eine gute Nachbarschaft erschweren.

Im Gegensatz zu den Nationalisten, die die eigene Nation überhöhen, missachten die Globalisten das Recht auf Selbstbestimmung der Völker.

Die immer komplexer werdenden Gesellschaften, die sich einem raschen Wandel und dem Druck der Globalisierungsprozesse ausgesetzt sehen, werden politisch nur dann weiterhin integrationsfähig bleiben, wenn sie sich ihres „Wir“, ihrer Identität und ihrer Leitkultur versichern, aus denen sich der kollektive Wille zum Zusammenleben speist.

Hier sind wir beim Kerngedanken der Leitkultur, auch wenn hier nicht, anders als bei Tibi, auch stats das Migrantische eine zentrale Rolle wahrnimmt.

Der Angriff auf unsere Identität

… erfolgt aus verschiedenen Richtungen, mit unterschiedlichen Motivationen und Begründungen und einer großen Bandbreite von Instrumenten.

Die Verfasser verstehen ab Seite 46 die Bedrohung des Selbstverständnisses. Es folgen Beispiele:

Eine Ende 2015 bekanntgewordene Studie der UNO (Abteilung Bevölkerungsfragen) befasst sich mit der sogenannten „Bestandserhaltungsmigration“. Vor dem Hintergrund von Bestandsaufnahmen und Prognosen zur Bevölkerungsentwicklung in acht Industrieländern bzw. Europas und der EU legt die Studie nahe, dass die Politik jener Länder genötigt sei, die Zuwanderung von Abermillionen Ausländern bis zum Jahr 2050 zu betreiben. Diese „Bestandserhaltungsmigration“ könne den Bevölkerungsrückgang, das Schrumpfen des Anteils von Erwerbsfähigen an der Gesamtbevölkerung sowie die gesellschaftliche Überalterung ausgleichen

Hier ist das Thema der nationalen Identität offensichtlich nicht im Fokus. Wie aber sollte eine derartige Migration folgenlos für die eigene Identität sein, wenn sich nicht nur einzelne Migranten Teil des Gemeinwesens werden, sondern bereit wegen der Anzahl und der Ausprägung der jeweiligen  spezifischer Kultur eine scharfe Segregation erfolgt?

Die Studie arbeitet mit einer Reihe unausgesprochener Vor­annahmen, die überaus problematisch bzw. von vornherein falsch sind. Zum Beispiel wird unterstellt, dass der gesellschaftliche Wohlstand nur bei einer konstanten Bevölkerungsgröße erhalten werden könne, dass Masseneinwanderung Einwanderung von qualifizierten Erwerbsfähigen bedeute oder dass die Bevölkerungsgröße als solche irgendwie ein „Zweck an sich“ sei. All dies wird in der Studie selbst allerdings nicht diskutiert. Stattdessen wird das Bild einer Bedrohung sozialstaatlicher Errungenschaften durch den Bevölkerungsrückgang und die Überalterung der Gesellschaften jener Industrieländer gezeichnet, die nur mittels Masseneinwanderung abgewendet werden könne.

Das Problem ist offensichtlich, dass eine vollumfängliche Integration in das Erwerbsleben einer hoch entwickelten Kultur eben nicht einfach zu erwarten ist. Werden Migranten nicht dauerhaft und vollumfänglich in den Erwerbsprozess eingegliedert, werden zu erwartende Probleme nur stark verschärft. Des wird in der Studie wohl nur angedeutet:

Die internationale Migration könne nämlich „soziale Spannungen“ hervorrufen.

Welcher Art die Spannungen sind, wie sie verursacht werden und wie sie zu minimieren sind scheint aber kein Thema der Studie zu sein.

Der Vizepräsident der EU-Kommission und EU-Kommissar Frans Timmermans wird zitiert:

Und diejenigen Politiker, die ihren Wählern eine Gesellschaft verkaufen wollen, die ausschließlich aus Menschen einer einzigen Kultur besteht, versuchen eine Zukunft auszumalen, die auf einer Vergangenheit beruht, die es nie gegeben hat.

Eine derartige rhetorische Figur nennt man auch das Argument vom ausgeschlossenen Dritten: Weder eine selten und in begrenztem Raum existierende Monokultur, noch eine ungesteuerte und ungestaltete Vielfalt können Zielvorstellung einer modernen Gesellschaft sein, sondern Leitkultur meint seit Bassam Tibi etwas anderes. Warum spricht dann Timmermans so? Kennt er tatsächlich nicht den Diskussionsstand, oder will er seine Zuhörer übertölpeln?

Weiter sagt er dann:

Indem wir festlegen, dass unsere Werte bestimmen, wie wir mit der Vielfalt umgehen, und indem wir unsere Werte nicht dadurch preisgeben, dass wir die Vielfalt ablehnen. Letzteres wird uns als Gesellschaft zu Fall bringen.

Der schwache Verweis auf nebulöse Werte, die anscheinend nicht Leitkultur sein wollen, verharmlost die Problematik lediglich. Wie aber steht es mit dem Positionstext? Fordert diese eine Ablehnung der Vielfalt? Das konnte ich so nicht entnehmen, denn es weist korrekt darauf hin, dass bereits Deutschland alleine eine traditionelle Vielfalt kennt, aber er fokussiert sich auf die eigene Identität und zeigt bislang wenig zu einer Integrationsplattform auf.

Der Positionstext kritisiert Timmermanns Rückgriff auf die nicht näher bestimmten Werte:

Augenfälligerweise spricht er hier nicht vom Recht, weder vom Recht, an das sich die Migranten halten müssen noch gar vom politischen Selbstbestimmungsrecht der europäischen Nationen.

Wie oben bereits festgestellt, sind nicht kodifizierte Werte zwar von großer Wichtigkeit, aber diese verdichten sich eben in Gesetzen, die es zuerst zu beachten gilt. Werte alleine können wegen ihrer Unverbindlichkeit keine hinreichende Plattform liefern. Und hinsichtlich der Werte sind diese keineswegs natürlich und leicht als einen Konsens zu verstehen:

Ein Ergebnispapier der Tagung macht deutlicher, um welche Werte es dann vor allem geht, nämlich um „Toleranz“ und „Respekt“. Diese Werte erhalten bei Multikulturalisten wie Timmermans allerdings eine spezifische Lesart. Demnach werden Toleranz und Respekt von der eingesessenen Bevölkerung gegenüber den Immigranten, deren Ansprüchen und kulturellen Eigenarten verlangt, während Forderungen gegenüber den Immigranten selbst, etwa dass diese sich anzupassen haben, als Diskriminierung, Intoleranz, Rassismus und dergleichen diffamiert werden. So wird die Forderung nach Toleranz und Respekt zum Instrument der erzwungenen Preisgabe des Eigenen, das sich nämlich an das Fremde anpassen soll.

Es bleibt darum fraglich und im Kern undemokratisch, wenn die Deutungsmacht jener Werte nicht verhandelt wird, sondern von jenen Multikulti-Propagandisten beansprucht werden.

EU-Kommissionspräsident Jean-Claude Juncker:

„Europa hat einen offensichtlichen Bedarf an der Migration in den kommenden Jahrzehnten. Daher müssen wir jenen, die komme n wollen und kommen können, legale Wege nach Europa ermöglichen“.

Der Positionstext sieht das offensichtlich kritisch  aus Sicht der kulturellen und gesellschaftlichen Entwicklung, versäumt allerdings die demographische Problematik  zu diskutieren: Wie will der Positionstext mit diesem Anlass umgehen?

Das Positionspapier sieht vor alle einen Text aus 2005 von der Bundeskanzlerin positiv:

Mit anderen Worten fordert Merkel in diesem Text aus dem Jahre 2005 von Ausländern, die in Deutschland leben wollen, eine Assimilation an die deutsche Leitkultur und die Identifizierung mit der deutschen Nation.

Ein wenig irritierend ist hier der Begriffsgebrauch. Es scheint, dass hier nicht zwischen der jeweiligen Kultur und der Leitkultur als Integrationsplattform unterschieden wird. Da die Leitkultur im Sinn Tibis nie als eine vollständige Kultur gedacht wird und darum auch eine Assimilation unpassend ist, kann bestenfalls von Integration oder adaption gesprochen werden. Wenn sich Migranten weitgehend in der deutschen Kultur aufgehen wollen, so ist dies nur auf Basis der Freiwilligkeit möglich. Eine Adaption der Leitkultur muss allerdings als verpflichtend angesehen werden.

Die Äußerungen von 2005 passten allerdings in das Wahlprogramm von CDU/CSU zur Bundestagswahl 2002 :

„Deutschland muss Zuwanderung stärker steuern und begrenzen als bisher. Zuwanderung kann kein Ausweg aus den demografischen Veränderungen in Deutschland sein. Wir erteilen einer Ausweitung der Zuwanderung aus Drittstaaten eine klare Absage, denn sie würde die Integrationsfähigkeit unserer Gesellschaft überfordern. Verstärkte Zuwanderung würde den inneren Frieden gefährden und radikalen Kräften Vorschub leisten“

Wie wenig bis 2015 von diesem Programm übrig blieb, gar in sein krasses Gegenteil gewendet wurde, überrascht dann doch.

So breiten sich die 2005 von Merkel noch beklagten Parallelgesellschaften aus, Enklavenkulturen, in denen nicht Deutsch gesprochen wird und das deutsche Recht nur eingeschränkt Geltung hat. Ein exemplarisches Symptom hierfür sind etwa die enorme Zunahme nicht zuletzt sexueller Gewalt durch Ausländer (z.B. Silvester 2015/2016 in Köln) oder auch der sogenannten Ehrenmorde, die Merkel 2005 noch als Ausdruck einer Kultur galten, welche gerade nicht unsere deutsche Kultur ist.

Ebenso sind auch weitere Entscheidungen, die das Umfeld Migration, Flucht und Asyl betreffen, keineswegs dazu geeignet, der Programmatik von 2002 entsprechen.  Der Positionstext macht das am Beispiel fest:

Schleichend ebenso wie offen findet namentlich eine Islamisierung Deutschlands statt, der die Regierungspolitiken in Bund und Ländern nicht nur nicht entgegenwirken, sondern die diese vielmehr billigen und aktiv vorantreiben, etwa durch die Förderung von Moscheebauten.

Auch hier fehlt eine Diskussion:  Der Positionstext sieht in der Existenz jener Moscheen, in der häufig auch nicht in Deutsch gelehrt wird, ein Zeichen der Parallelgesellschaft, nicht der Integration, wie Befürworter behaupten. Die Irritationen, dass zur Eröffnung der Kölner Großmoschee die Beteiligung der deutschen Politik durch ein Grußwort verweigert wurde, bestätigt diesen Verdacht. Dennoch hätte dies auch verargumentiert dargestellt werden müssen. Der Positiontext verliert sich dann in Polemik:

Angela Merkel und die CDU begleiten diese Prozesse inzwischen mit der Rhetorik des Multikulturalismus und der sogenannten Weltoffenheit, allen anderslautenden Bekenntnissen zum Trotz. Tatsächlich werden die Deutschen – von Merkel jetzt zynisch als diejenigen, die schon länger hier leben, bezeichnet – nunmehr angehalten, sich an die Sitten, Gewohnheiten und kulturellen Selbstverständnisse von zumal muslimischen Ausländern anzupassen. Vor diesem Hintergrund überrascht es nicht, dass die oft besprochene „Integrationspolitik“ bisher in weiten Bereichen keine Wirkung entfaltet, da sie gar nicht mit Ernsthaftigkeit verfolgt wird. Das gilt auch für Angela Merkels Ankündigung, es gelte gegenüber Gewalt „null Toleranz“ zu zeigen

Die Irritation der Verfasser ist nachvollziehbar, aber es wird hier verstärkt auf einen Empörungsmodus abgehoben, der nicht von konstruktiven Vorschlägen entkrampft wird. Die Diskrepanz zwischen vorher genannten Zielen und der realen Politik fordert den Widerspruch:

In jener Video-Botschaft hatte Merkel auch festgehalten, „wir“ müssten „akzeptieren, dass die Zahl der Straftaten bei jugendlichen Migranten besonders hoch ist“. Indes bleibt festzuhalten, dass dies gerade nicht zu akzeptieren und auch nicht zu tolerieren ist: Wir wollen uns keineswegs daran gewöhnen, dass sich unsere Kultur in eine archaische Gewaltkultur verwandelt.

Die Bundesregierung  veröffentlichte im Februar 2017 eine Broschüre:

Die dort dargelegten demografiepolitischen Ziele haben vor allem einen ökonomischen Fokus und konzentrieren sich dabei nicht zuletzt auf die Frage des Potentials erwerbsfähiger Menschen angesichts eines zu erwartenden Bevölkerungsrückganges in Deutschland. Künftiger Wohlstand wird vor allem als von dieser Frage abhängig betrachtet.

Anscheinend kritisiert das Positionspapier daran nicht die Treffsicherheit der ökonomischen Aspekte hinsichtlich von Analyse und Wirksamkeit der Maßnahmen, sonder konzentriert sich auf die kulturellen Aspekte.

Zwar wird keineswegs verheimlicht, dass eine Integration von Ausländern („Schutzsuchenden“) „mit Bleibeperspektive“ in den Arbeitsmarkt viel länger dauern wird, als man zunächst annehmen wollte (so sie überhaupt gelingt) …

Die ökonomischen Wirkungen von Menschen, die erst spät oder gar nicht in die Volkswirtschaft integriert sind, sind vermutlich netto negativ. Unter diesen Umständen ist es mehr als blauäugig  von einer positiven Wirkung einer Massenmigration auszugehen.

Die Demografiestrategie der Bundesregierung … behandelt Deutschland prinzipiell als durch Migration „aufzufüllende“ und damit multikulturell zu transformierende Einwanderungsgesellschaft. Ob die Deutschen eine solche Einwanderungsgesellschaft haben wollen,
wird dabei allerdings nicht gefragt.

Hier irrt der Positionstext. Auch wenn es keinen thematischen Volksentscheid zum Thema gibt, so sind doch die Regierungsparteien demokratisch legitimiert, und deren Position der Migration sollte bekannt sein. Das Positionspapier macht aber auch keine konstruktiven Analysen und Vorschläge zum Demographie-Problem.

Die thüringische Landesregierung meint zum Thema:

Die im „Integrationskonzept“ zugleich präsentierte Behauptung, dass „niemand […] seine Identität, Kultur oder Religion aufgeben“ müsse, „weil Integration keine einseitige Anpassung bzw. Assimilation, gleich in welche Richtung“ sei, steht dazu in klarem Widerspruch und ist eine Irreführung der Leser. „Keine einseitige Anpassung“ ist hier vor allem eine Botschaft an Migranten.

Wie schwierig Kommunikation ist wird deutlich, wenn man verstehen will was die Kontrahenden hier meinen. Im Besonderen wir Kultur, bzw. Kulturen als abgrenzbare diskrete und atomare Einheiten gesehen. Dass eine migrantische Identität aber in Beziehung zur Kultur der neuen Heimat stehen muss, sollte Konsens sein. Und abermals: Das ist noch kein Zwang zur Assimilation. Aber es heißt sehr wohl ein Zwang zur Anpassung, auch wenn es nicht die völlige Preisgabe der Herkunftskultur und Identität meint.

Der Positiontext polarisiert darum unnötig:

Einwanderung ohne Assimilation nämlich „ist Kolonialisierung“, wie namhafte europäische Philosophen im Herbst 2017 in der „Pariser Erklärung: Ein Europa wo(ran) wir glauben können“ festhielten.

Abgesehen von der Falschzitation – in der Erklärung wird ‚Kolonisation‘ genannt – provoziert der Begriff der Assimilation. Dieser wird weder in der zitierten Erklärung, noch im Positionstext klar erläutert. Im Allgemeinen unterscheidet man zwischen einer Assimilation ein vollständiges Aufgehen der Person in der neuen Heimatkultur unter Aufgabe der alten Identität einerseits. Integration meint dagegen die positive Inkorporation unter partiellem Beibehalt der überlieferten Identität. Da aber die Begriffe nicht in aller Klarheit abgegrenzt wird, kann man auch unterstellen, dass Assimilation hier im Sinne von Integration gemeint ist. Denn oft wird unter Integration eine deutliche und kritische Distanz zur Kultur der neuen Heimat verstanden, was hier aber nicht gemeint ist.

Verteidigung unserer Identität?

Der Positionstext schreibt ab Seite 65 zu Konsequenzen aus dem Bedrohungsszenario:

Es ist indes nicht von der Hand zu weisen, dass multikulturelle Gesellschaften fragmentierte und konfliktreiche Gesellschaften sind, Gesellschaften, in denen das Recht zur Disposition gestellt wird und Gewalt den öffentlichen Raum durchwirkt.

Hier mangelt es an Trennschärfe: Wenn damit eben jene sich ausbildenden Parallelgesellschaften gemeint sind, ist es nachvollziehbar. Aber eine Integration unterschiedlicher Kulturen in eine Leitkultur muss keineswegs diese Konsequenzen haben. Auch Bassam Tibi gebrauchte für seine Vision nicht den Begriff multikulturell, denn damit wird zumeist die parallel und isolierte Vielfalt gemeint.

Das Positionspapier sieht die massive Verstärkung der Erosionsprozesse der Kultur durch Masseneinwanderung aus nicht-europäischen Ländern in den Jahren 2015/2016 . Die gesellschaftlichen Auswirkungen richten sich aber stark auf den politischen Prozess:

Politische Korrektheit unterbindet eine kritische öffentliche Diskussion und diffamiert skeptische und nonkonforme Positionen, die mittels Anpassungsdruck mundtot gemacht werden. Solche Meinungssteuerung mag autokratischen Regimes entsprechen, für eine rechtsstaatlich geordnete Gesellschaft freier Menschen ist sie eine tödliche Bedrohung.

Entsprechend formuliert der Positionstext:

Wir stellen uns der Auflösung der Nation in eine multikulturelle Gesellschaft ebenso wie in einen bindungslosen „Interaktions- und Kommunikationszusammenhang“ von Individuen entgegen. Daher stehen wir für ein multinationales und gegen ein multikulturelles Europa und gegen ein multikulturelles Deutschland.

Aber auch hier verliert sich der Text in einer kontroversen Zuspitzung einer Dichotomie. Natürlich kann und muss man diverse Entwicklungen kritisch beurteilen. Auch ist nachvollziehbar, dass eine Massenzuwanderung enorme Problem nach sich zieht. Die Besinnung auf die eigene Identität bleibt statthaft, aber die Realität einer Zuwanderung, wie immer sie auch gestaltet sein mag, erfordert eine praktikable Orientierung. Hier lediglich ein Assimilationsmodell – im Sinne einer vollständigen Aufgabe der alten Identität – anzubieten, wird zu recht als nicht praktikabel abgelehnt. Da grenzt es an Realitätsverweigerung, mit einer radikalen Kritik dagegen zu halten.

Die abschließenden Forderungen sind dann eher lasch und unbestimmt, aber die Verwendung des Wortes der Leitkultur bleibt irritierend. Wärend im Anfang des Dokumentes der Begriff differenziert beleuchtet wurde, fällt die Wortverwendung gemäß Kontext eher holzschnittartig aus. Dies bleibt auch dann enttäuschend, auch wenn die Besinnung auf die eigene Kultur und Identität durchaus statthaft ist. Denn die Herausforderung war doch gerade, ein Bindeglied in einer zerfallende Welt zu finden. Nur die Assimilation als Modell für Migranten bleibt da zu wenig. Selbst assimilationswillige Migranten werden Probleme haben, ihre Traditionen völlig zu verleugnen, ebenso wie die eigene Mentalität.

Trotz des beachtlichen Umfanges  des Positionspapiers fehlen Konzepte für die Herausforderungen der Zukunft, die Perspektive beim demographischen Wandel und selbst die praktische Durchsetzung von den genannten Forderungen. Es hätte dem Text gut getan, wenn es zu überzeugen versucht hätte auch bei jenen, die eher ablehnend dem Nationalstaat gegenüber stehen.

Aber auch die Kritiker des Papiers überziehen oft und lassen auch keine Suche nach dem Konsens zu. Beispielhaft wird hier die Kritik  Für Höcke, Volk und Vaterland von Marcus Ermler .

Eine scharfe Polemik

Ermler teilt den Ansatz, dass Identität und die Entwicklung der linksgrünen Eliten problematisch sind. Aber er lehnt den Positionstext mit aller Schärfe ab:

Wer jedoch nun meint, die Linksgrünen stünden mit dieser Irrsinnskombination aus Globalkollektivismus und Zwangssozialismus alleine in der Ecke der staatszersetzenden Totalitarismen, kennt die Thüringer AfD noch nicht. Bei Höckes Gefolgschaft gilt die altbekannte, jedoch leicht aktualisierte Glorifizierung: für Höcke, Volk und Vaterland.

Nach der Lektüre des Positionstextes scheint dies bereits stark überzogen, denn einen Totalitarismus kann man dart nun wahrlich nicht ausmachen. Aber immerhin lobt Ermler die ersten drei Kapitel des Positionstextes

Bevor die AfD im Text nun darauf eingeht, was denn ihre Antwort auf diesen „Angriff auf unsere Identität“ ist, stellt sie in den ersten drei Kapiteln recht akkurat die Debatte um eine deutsche Leitkultur dar, der sie Bassam Tibis Einlassungen aus den 1990er Jahren voranstellt.

Trefflich fasst Ermler den Ansatz Tibis zusammen:

Tibis Gedanken zu einer deutschen Leitkultur sollten Antwort auf die Entwestlichung unseres Wertekanons durch einen gerade in linken Studierstuben propagierten Kulturrelativismus sein, der jedes friedliche gesellschaftliche Zusammenleben im Angesicht der Immigration von archaischen Lebensvorstellung langfristig gefährden würde. Einer Einwanderung eines präzivilisatorischen Tribalismus, der Parallelwelten und Segregation geradezu herausfordert. Es ging Tibi also um eine Beantwortung der Frage, was unsere (westlich orientierte) Gesellschaft eigentlich im Innersten zusammenhält. Nicht nur in der Rückschau, sondern eben gerade in eine ungewissen Zukunft der Massenmigration vorausblickend.

Nach dem Lob des Textanfangs hagelt es jedoch von dem, an dessen Schärfe nichts fehlt.

Diese sehr passgenaue Zusammenfassung und Darstellung der Diskussion um eine deutsche Leitkultur konterkariert die Thüringer AfD jedoch in den folgenden Kapiteln, in denen sie eine kollektivistische wie nationalistische Schimäre als deutsche Leitkultur subsummiert, die wir glaubten 1945 beziehungsweise im Osten spätestens 1989 hinter uns gelassen zu haben. So führt sie zum Abschluss des dritten Kapitels bereits recht unverblümt einem spezifischen deutschen Kollektivismus das Wort, der unsere Gesellschaft im Innersten zusammenhielte

Dieser Kontrast ist im Positionstext zwar vorhanden, dass ab Kapitel 4 ausschließlich von der eigenen Identität die Rede ist, und somit auch der Integrationsaspekt vernachlässigt wird, aber der Verweis auf die deutschen Diktaturen wäre nur dann statthaft, wenn er hinreichend belegt würde. Immerhin wird kein Kollektiv beschworen, dass eine individuelle Lebensgestaltung irgendwie einschränken würde.

Diese „kollektive Identität“ von Gemeinschaften würde dabei auch durch die „persönliche Identität“ geprägt, die beantworte, „wer wir als individuelle Person sind, [was wir] erlernen […] im Medium der Gemeinschaften, in denen wir aufwachsen und leben, namentlich in deren Symbolwelten“. Was hier bereits wie Kitsch von 1870 klingt, wird im folgenden durch Festlegung einer „deutschen Identität“ auch nicht besser

Was daran Kitsch von 1870 sein solle, bleibt mir völlig unklar.

Nach der Zitation einer Textpassage, die auch im ersten Teil dieses Aufsatzes zitiert wird, behauptet Ermler weiter:

Dieser NS-Kitsch, um es einmal in aller Deutlichkeit zu sagen, ist so meilenweit entfernt von der Definition Bassam Tibis, dass sich die Thüringer AfD schämen sollte, diesen überhaupt zu Beginn zu referenzieren, wenn sie ihn nicht einmal annähernd verstanden hat. Tibis Grundlagen für eine deutsche Leitkultur sind gekennzeichnet durch wesentliche westliche Errungenschaften, die unsere Identität bilden: Demokratie, Laizismus Aufklärung, Menschenrechte oder auch dem Primat der Vernunft. Ich möchte ergänzen: Humanismus, Primat der Wissenschaft vor der Religion, Gleichberechtigung von Mann und Frau, Liberalismus, Arbeiterbewegung.

Abgesehen davon, dass dieses harsche Wort vom NS-Kitsch völlig überzogen ist, wird hier aber nicht über die Leitkultur, sondern über deutsche Identität gesprochen. Der Mangel der Unterscheidung beider ist der Diskussion häufig auffällig. Abern nicht nur der Positionstext bleibt bei diesem Mangel, auch Ermler kann nicht erkennen, dass eine Leitkultur, die eine Integrationsplattform sein will, eben keine vollumfängliche Gesamtkultur sein kann und will. Der Positionstext beschäftigt sich verstärkt mit der Gesamtkultur in seine deutschen Ausprägung und verweist hier auf die vielgestaltigkeit ihrer Ausprägungen, aber grenzt die Integrationsplattform Leitkultur davon nicht klar ab. Ermler macht hier einen ähnlichen Fehler, dass er ausschließlich die Leitkultur im Fokus hat, aber die darüber hinausgehenden Elemente leichtfertig als Kitsch diffamiert. Es scheint, als habe Ermler Tibi wohl verstanden, verweigert aber das Verständnis des Positionstextes.

Es kann wohl nicht zielführend sein, wenn man Tibi’s Ansatz nicht nur lobt und aufgreift, sondern mit Schärfe weiter Aspekte und Sichtweisen disqualifizieren will. Denn auch Tibis Ansatz bleibt stellenweise Kritikwürdig, wenn er unterschiedliche Ethnien identifizieren will, aber den Deutschen keinen eigenkulturellen Charakter  in einer europäischen Leitkultur zuerkennen will. Der Mangel Tibis einerseits wird einer unbestrittenen ‚Deutschlastigkeit‘ im Positionstext begegnet. Es ist darum durchaus zulässig, andere Aspeke zu betonen. Emler ist zuzustimmen, dass insgesamt der Ansatz Tibis nicht hinreichend berücksichtigt wurde, aber die Schärfe führt hier nicht zum Diskurs, sondern zum polemischen Grabenkampf, der eine Konsensbildung oder die Anerkennung unterschiedlicher Ansichten, nicht zum Ziel hat. In diesem Sinn hat dann auch Ermler Tibi nicht verstanden.

Die Gretchenfrage ist übersetzt hier die Frage nach der NS-Zeit. Ermler kommentiert:

Halt macht diese Glorifizierung der kollektiven Identität vor der Zeit des Nationalsozialismus. Zwar spricht die Thüringer AfD davon, dass „das Verhältnis zum Nationalsozialismus Bestandteil der deutschen Identität geworden“ ist. Ohne jedoch zu sagen, dass der Nationalsozialismus bereits selbst „Bestandteil der deutschen Identität“ ist! Das ist rechte Dialektik vom Feinsten. Einerseits eine kollektive Identität anzumahnen, die durch deutsche Geschichte und Kultur geprägt sei, andererseits dann aber die historische Singularität und Unkultur des Nationalsozialismus auszuklammern und lieber davon zu reden, dass nur „das Verhältnis“ dazu Teil der Identität sei. Was die AfD mit „Verhältnis“ meint, erklärt sie darauf:

Ermler lässt aber die entscheidenden Stellen des Positionstextes dazu in der Zitation aus:

Für die Deutschen ist es insbesondere die Zeit des Nationalsozialismus, die einen Schatten auf die kollektive Identität wirft. Zweifellos ist das Verhältnis zum Nationalsozialismus Bestandteil der deutschen Identität geworden.

Für mich ist daran klar, dass der Text und seine Verfasser diese Zeit des Nationalsozialismus als äußerst negativ belastend sieht. .E. mangelt es nicht an Klarheit. Das gerade durch die Ablehnung jener Machenschaften und Ideologie dies nicht zum Bestandteil der deutschen Identität werden, sondern eben das Verhältnis, welches wie ein schweres Erbe und kollektiver Schuld wirkt, ist hinreichend klar und präzise formuliert. Die Haare in der Suppe, die er nicht findet, wusser erst selbst hinein deuten.

Hier steht unmissverständlich, dass die NS-Diktatur nur der berühmte „Fliegenschiss“ in der deutschen Geschichte war, dessen Einbindung in deutsche Identität und Kultur uns zu einem „geschichtslosen Volk“ mache. Liebe AfD, das ist Rosinenpickerei. Wenn Wartburgfest oder Hambacher Fest zu unserer Identität und Kultur gehören, dann mit Sicherheit auch die Mordbrennerei und Vernichtungskultur der Nationalsozialisten! Erst die Lehre aus den „verdunkelnden Schatten des Dritten Reiches“ haben es ermöglicht, aus unserem Land die freiheitlich-demokratische Gesellschaft zu machen, die wir heute bei jeder Gelegenheit anmahnen, verteidigen zu wollen. Außerdem, und das sei hier den NS-Intellektuellen ins Stammbuch geschrieben: wenn es eine kollektive Identität gibt, gibt es auch eine Kollektivschuld!

Es ist darum nicht ganz nachvollziehbar, was Ermler will: Sicher will er sich nicht mit dem Verbrechen der Nazizeit identifizieren, Sondern ebenso im ablehnenden Verhältnis eine Identität gewinnen. Nicht anders habe ich den Positionstext verstanden. Die Kritik an der Formulierung ist wie eine Suche in den Krümeln: Jede Äußerung – oder deren Unterlassung  – zum Dritten Reich scheint vermintes Gelände zu sein. Ermler fordert hier eine Bekenntnisformel, die am besten er selbst verfasst hat.

Und auch der „Fliegenschiss“, den Gauland recht unglücklich gebraucht, um diesen Schatten der Geschichte nicht zum alles dominierende und verdrängende Element werden zu lassen. Ich kann dem Argument zum ‚geschichtslosen Volk‘ durchaus folgen, da die Erinnerung an die anderen geschichtlichen Ereignisse und gesamten Abläufe tatsächlich weitgehend verdrängt wurden.

Ermler konstruiert Parallelitäten zwischen der Linken und dem Positionstext:

Wo die Linke schließlich also eine deutsche Leitkultur als inexistent deklariert, imaginiert die AfD eine kollektive Identität zur Basis jeder Leitkultur, die im Kern so verabsolutiert ist, wie es sich die Linke sonst nur in ihren kühnsten Neonazismus-Albträumen ausmalt.

Im Positonstext erkenne ich keine Verabsolutierung. Waren es vielleicht nur Ermlers Albträume? Eine Höcke-Phobie?

Missbraucht die Linke den Holocaust zur Durchsetzung ihrer deutschbefreiten Kulturinterpretation, wählt die Thüringer AfD den gegensätzlichen Weg, indem sie eine deutsche Kulturlesart etablieren will, frei von der nazistischer Terrorkultur der Judenvernichtung. Erkennt die Linke also zweifellos den Holocaust als Teil deutscher Kultur an, verneint sie gleichzeitig die Existenz eben dieser Kultur überhaupt (welch Glanzstück linker Dialektik!); bejaht die AfD eine absolute deutsche Kollektivkultur, schließt sie die Kollektivschuld aus diesem nationalen Mythos aus (rechte Dialektik vom Feinsten).

Die vermeintliche Äquidistanz ist aber vor allem im Niemandsland  geboren. Jede Identität baut auf positive Elemente auf, die natürlich zur Abgrenzung auch auf negative Elemente verweisen muss. Der Positionstext verleugnet gerade nicht jene Kollektivschuld, sondern räumt sie verschämt ein, fokussiert sich dann aber auf die positiven Elemente. Eine vermeintliche rechte Dialektik erkenne ich darin nicht. Freilich hätte es dem Positionstext besser angestanden, wenn er sich hier breiter zu den negativen Elementen deutscher Geschichte elaboriert hätte, aber das rechtfertigt keine Kritik in der vorgetragenen Härte.

Der Positionstext sieht vor allem das Problem in der Fixierung  Hier aus Seite 36 mit Fußnote 31:

So kam es nicht nur zur spezifisch deutschen Variante der „Political Correctness“ als einer Sprachpolitik, die Sprache, Literatur und öffentliche Debatten mittels des „historischen Verdachts“ zu steuern und einzuengen sucht.31

31 Der Verdacht äußert sich in der Auffassung, dass die deutschen Traditionen zum Nationalsozialismus führten und daher abzulehnen seien. Wer aber an deutsche Traditionen anknüpfe, begünstige damit einen neuen Nazismus bzw. Faschismus oder sei schlichtweg ein „Nazi“

Ich halte darum eine Distanzierung des Textes für hinreichend begründet und klar.

Ermler dagegen:

So bleibt als Ergebnis, dass das Positionspapier der Thüringer AfD in seinen Antworten auf Leitkultur, Identität, Patriotismus und die Migrationsfrage so vorhersehbar ist wie ein NPD-Wahlprogramm. Auch sollte man sich nicht von den eher lasch daherkommenden Forderungen der Höcke-AfD blenden lassen.

Es bleibt nach wie vor unklar, was Ermler wohl antrieb, aus einem eher biederen Text mit Schwächen und Weglassungen, dem man keineswegs bedingungslos zustimmen muss, der aber auch wesentlich und tiefgängige Gedanken aufweist, nicht mit moderater Kritik zu würdigen, sondern im Superlativ sein gesamtes Pulver der Schmähung einzusetzen.

Ähnlich unverständlich schienen auch den Lesern dieses Aufsatzes diese Philíppika. Die Mehrheit der 109 Leserkommentare sehen den Text keineswegs dieser Scharfe würdig. Ache wenn vermutlich die meisten Kommentatoren den Positionstext nicht sorgfältig durchgearbeitet haben, so war bereits an den Zitaten, die Ermler einstreute klar, dass sein Urteil sich keineswegs lar aus der Quelle herleiten ließ. Hier eine kleine Auswahl der Kommentare:

Jörg Klöckner / 14.11.2018

Die Leserkommentare haben aus einem eher launischen Artikel eine hervorragende Diskussion gemacht! Herr Ermler, Sie beanstanden eine “Rosinenpickerei” – ich möchte das Wort aus dem von Ihnen gewählten Zusammenhang reißen, und ich behaupte einmal, dass genau diese Rosinenpickerei legitim ist und einen wesentlichen Teil der Kultur erschafft. Wie sonst könnte eine Sinnstiftung stattfinden; Wie sonst könnte sich Kultur entwickeln? Eine Auswahl will doch nur ausdrücken, was man für wertvoll und was man für wertlos hält! Das heißt doch nicht, dass man etwas vergessen, verdrängen oder marginalisieren will. Man trifft eine wertende Auswahl! Es ist doch natürlich, dass sich ein Mensch das Beste für sich heraussucht und sich dann damit identifizieren möchte! Was soll er denn sonst machen? Er bekennt sich! Dass die Verbrechen der Nationalsozialisten nicht kulturstiftend sein können, ist doch unmittelbar einleuchtend! Sie sind deutsche Geschichte! Aber deutsche Kultur? Möchte ich in einem Touristenprospekt über Deutschland lesen, die Vergasung von Juden sei deutsche Kultur? Möchte das irgendein Tourist lesen? Es dürfte vielmehr das Probleme der linken Zeitgenossen sein, dass sie gerade dadurch keinen Zugang zu etwas Positivem finden können und in Untergangsphantasmen und Utopien schwelgen und die Bodenhaftung verlieren

Werner Arning / 14.11.2018

Die Beschreibung der deutschen Tugenden seitens der Thüringer AfD könnte glatt von meiner südamerikanischen Frau stammen. So oder so ähnlich hat sie die Deutschen empfunden, als sie Mitte der 80er nach Deutschland kam. Und sie war angetan. Erst durch sie habe ich dann später auch gelernt, mich mit meinem Land zu „versöhnen“. Es zu schätzen. Sie, die Ausländerin, hat mich meinem eigenen Land näher gebracht. Hat mir beigebracht, dass ich als Deutscher mein Land keinesfalls hassen muss. Sondern im Gegenteil, dass ich es gut finden kann. Das habe ich nun den Linken und Grünen voraus.

Peter Triller / 14.11.2018

Ich glaube auch, dass in diesem erregten Artikel einiges durcheinander geht. Geschichte ist nicht gleich Kultur oder gar Leitkultur. Deshalb gehört der nationale Sozialismus zweifelsohne zur deutschen Geschichte, aber gewiss nicht zur Leitkultur dieses Landes bzw. nur die Negation die Aufarbeitung und Negation des Totalitarismus gehören dazu. In eine Leitkultur werden doch nur solche Werte, Errungenschaften, Ereignisse, Traditionen, Aspekte und Eigenschaften aufgenommen, die prägend sind und auch prägend sein sollen.  Der Begriff Leitkultur ist so evident, dass es zunächst schwer fällt, ihn näher zu beschreiben, so wie es schwer ist, zu beschreiben, was den Sinn des Lebens oder Leben überhaupt ausmacht. Es ist so selbstverständlich, dass einem zunächst die Worte fehlen. Mit einigem Nachdenken lässt sich aber das Mirakel Leitkultur schon auflösen. Da sind zu allererst selbstverständlich die obligatorischen Werte einer freiheitlichen Gesellschaft zu nennen, die der Autor in Anlehnung an Tibi richtig aufzählt. Diese sind nicht verhandelbar und müssten durch den Staat erforderlichenfalls durchgesetzt werden, ggü. allen Staatsbürgern aber v.a. auch ggü. den Migranten. Nur sind diese Werte nicht typisch oder charakteristisch deutsch, sondern gelten für den gesamten Westen bzw.  für alle liberal-demokratisch verfassten Gesellschaften. Charakteristisch deutsch sind in der Tat die Aufzählungen der AfD Thüringen. Über einzelne Punkte kann man gewiss streiten, aber nicht über die Aufzählung an sich. Nur lassen sich diese Aspekte weder ggü. jeden Deutschen noch ggü. den Migranten erzwingen. Hier wird es immer individuelle Abweichungen und auch evolutive Entwicklungen geben, sie sollten im Sinne eines gedeihlichen Zusammenlebens aber nicht zu groß sein.

Angesichts der Befundes der fast schon regelmäßigen Missverständnisse um den Begriff der Leitkultur, möchte ich der These von Herrn Triller nur bedingt zustimmen: ‚Der Begriff Leitkultur ist so evident, dass es zunächst schwer fällt, ihn näher zu beschreiben, so wie es schwer ist, zu beschreiben, was den Sinn des Lebens oder Leben überhaupt ausmacht. Es ist so selbstverständlich, dass einem zunächst die Worte fehlen.‘ Aber er rät ja schließlich dazu, darüber nachzudenken

Dr. Roland Mock / 14.11.2018

Dieser Artikel ist mir erstens zu akademisch und zweitens zu tendenziös. Ich bin alles andere als ein Freund von Höcke, doch was ihm und der Thüringer AfD in diesem Artikel unterstellt wird, ist schlichtweg konstruiert. Beispiel: Aus dem Versuch der Beschreibung deutscher Identität macht der Autor „NS-Kitsch“. Gehts noch? Reicht es heutzutage, das Rauschen in deutschen Eichenwald zu beschreiben, um als Nazi zu gelten?

HaJo Wolf / 14.11.2018

Ich habe mit den Beitrag von Herrn Ermler mit Abstand nochmal angetan. Er ist immer noch unlesbar, aber der Inhalt ist auch nach einem Tag Abstand noch unerträglich. Er ist Hetze gegen eine Partei, bedient sich dabei unzulässiger Parallelen und wirklich nur entsetzlich zu nennender Vergleiche.

Frances Johnson / 14.11.2018

Ich habe jetzt die Ausführungen des Autors, der m.E. Kultur nicht von geschichtlichem Tatbestand unterscheiden kann, und sämtliche Leserbriefe gelesen. Eine Woche offen lassen, dann könnten das an die tausend sein, so interessant ist es. … Über Mythen und Geschichten, mit denen wir Kinder aufgewachsen sind, bei uns zu Hause zum Beispiel mit Nils Holgerson aus Schweden!, hat eine Leserin das Nötige gesagt. Und über Eichendorff ein Leser. Beide Autoren auch religiös. Aufgeklärtes Christentum und aufgeklärtes Judentum in ihren Entwicklungen sind am ehesten unsere Kultur, zusammen mit Traditionen und Mythen ja, Märchen beispielsweise. Ein aufgeklärter Islam kann davon Anteil sein, Fundamentalisten behaupten aber, dann wäre es kein Islam.

Ergänzend dazu sind fast alle Muslime, die sich öffentlich zum Islam äußern, insbesondere aus den muslimischen Verbänden, ausdrücklich gegen jenen aufgeklärten Islam. Es handelt sich also nicht um eine unbedeutende Sondergruppe, die als Fundamentalisten gelten würden, sondern als eine kleine Sondergruppe, die einen aufgeklärten Islam vertritt.

Jochen Giesler / 14.11.2018

Herr Ermler sitzt mit den „polyglott und kosmopolitisch sozialisierten toskanagrünen Champagnerlinken“ in einem Boot und merkt es selbst nicht einmal. Er zitiert Bassam Tibi und ergänzt dessen Aufzählung, was deutsche Identität allenfalls zu sein hat:  Das ist genau der „Verfassungspatriotismus“, auf den er sich jederzeit mit Anhängern von CDU, SPD und Grünen einigen könnte. Nun gibt es aber offensichtlich viele, vielleicht auch sehr viele Menschen, denen das nicht genügt. Da fängt für Herrn Ermler der Kitsch an, sei es nun „Kitsch von 1870“ oder gar „Nazi-Kitsch“. Auch der kühlste Hyperintellektuelle wird sich damit abfinden müssen, daß Kitsch sehr beliebt ist.  Aber was heißt hier im Zusammenhang eigentlich Kitsch? Jede Gemeinschaft, sofern sie nicht nur eine Ansammlung von Individuen und Individualisten ist, definiert sich durch ein Wir-Gefühl (das naturgemäß die Abgrenzung zu „den anderen“ bedingt). Das muß man nicht schön finden – für Herrn Ermler ist das verabscheuungswürdigster „Kollektivismus“ – ist aber offenkundig als archaisches Erbe in uns Menschen angelegt. Solche Gemeinschaften bedienen sich äußerer Zeichen, seien es Mythen und Riten oder anderes, um sich der Zusammengehörigkeit emotional zu versichern und diese zu befestigen.

Frank Mertes / 14.11.2018

Herr Höcke ist gewiss kein Glücksfall für die AfD und die Partei wäre ohne ihn besser dran. Was der Autor hier betreibt, ist jedoch etwas billig und letztlich das Geschäft, das überall in den Medien betrieben wird, nämlich die AfD als einen Haufen rückwärtsgewandter Trottel darzustellen, der dem Nationalsozialismus nachtrauert. Das ist Unfug. Und wenn der Autor der AfD Deutschtümelei vorwirft, nur weil sie deutsche Kultur über Multikulti setzt, so muss man fragen, was ist eine Nation noch, wenn sie sich von ihrer Kultur distanziert, wie es der Autor offensichtlich als fortschrittlich und modern ansieht? Die Antwort ist einfach, sie ist keine Nation mehr, sie ist gar nichts mehr.

Damit schließe ich meine Auswahl an Kommentaren und diesen Aufsatz. Ich würde mich aber freuen, wenn Sie weitere Kommentare zu diesem Aufsatz hier hinterlassen könnten.

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