Pilatus fragte das, vermutlich als rhetorische Floskel, als Jesus vor ihm stand. Es scheint hervorragend auch in die Postmoderne zu passen, die keine verbindlichen Ansichten mehr kennt. Denn der Begriff der Wahrheit ist an sich unerbittlich. Wenn es denn diese gibt, ist es unausweichlich sich ihr auch zu stellen.
Statt dessen wird der Begriff entschärft, indem man ihn als subjektiv und mehr oder minder beliebig auffasst, wobei viele, die auch von persönlichen Wahrheiten sprechen, in Verkennung der Konsequenzen ihrer Aussagen dann eben doch von der absoluten Wahrheit ausgehen. Spätestens vor Gericht wird der Kindsmörder nicht mehr beanspruchen können, dass die Vorwürfe eben grundsätzlich nicht wahr sind und er eben eine andere Wahrheit vertritt.
Meine Wahrheit … ein Begriff, der bei mir Widerwillen auslöst. Denn Wahrheit ist nicht mir zu eigen und hängt auch nicht von mir ab. Wahrheit ist stets absolut, aber in der Erkenntnis perspektivisch und irrtumsanfällig. Vielleicht meint jener, der meine oder deine Wahrheit sagt lediglich, dass er die Ansicht oder Erkenntnis befragt. Ich halte es dennoch für einen Missbrauch, den Begriff so zu verwenden, ob nun modern oder nicht. Vielmehr:
Wahrheit ist immer absolut! Erkenntnis ist immer subjektiv.
… und da gibt es auch keine Ausnahme. Es fällt mir schwer, hier andere Ansichten zu akzeptieren, auch wenn es in der Philosophiegeschichte oft Gedankenspiele gibt, die diese Position befragen. Wenn etwas für wahr gehalten wird, dass sich aber später als falsch erweist, so war es vorher auch keine Wahrheit, sondern ein Irrtum. Wenn zwei Aussagen von unterschiedlichen Menschen für wahr gehalten werden, die sich aber widersprechen, können nicht beide zugleich wahr sein. Entweder der Widerspruch ist auflösbar oder mindestens eine Aussage ist falsch.
Zur Klärung: Wenn jemand eine Überzeugung vertritt, dann ist es zumeist Wahrheit, dass er diese Überzeugung hat, aber darum sind die Inhalte noch nicht unbedingt wahr.
Richtungsweisend schreibt Platon im Höhlengleichnis, dass die wahren Dinge von uns nur als Schatten an der Höhlenwand erkannt werden können. In diesem Sinn kann sich das Streben nach Erkenntnis der Wahrheit nähern. Wir widersprechen dem Solipsismus, der die Welt als Projektion des eigenen Denkens verstehen will; aber auch in diesem Denken wäre Wahrheit nicht subjektiv, denn es gäbe ja nichts außerhalb dieser Projektion.
Ein Argument gegen eine unerbittliche Wahrheit ist die Geschichte von Schrödingers Katze: Ist die Katze nun gleichzeitig lebendig und tot? Dies ist m.E. kein Paradoxon, sondern lediglich ein Erkenntnisproblem, das die Substanz der Wahrheit eben nicht berührt. Ebensowenig sind quantenmechanische Befindlichkeiten geeignet, die Unerbittlichkeit der Wahrheit auszuhebeln. Denn auch über jedes Elementarteilchen gibt es Aussagen, die wahr oder falsch sind. Ggf. muss man die Bedingungen dazu präzisieren, sonst sind es nur unvollständige Aussagen ohne Wahrheitswert. Und entstehen scheinbare Widersprüche, so sind diese eben dialektisch zu verstehen.
Neben der perspektivischen Verzerrung, die man als Mensch nie ganz ausschließen kann, und die scheinbar zu unüberbrückbaren Widersprüchen führt, ist vor allem der Irrtum und die Lüge nicht grundsätzlich auszuschließen. Wer sich dieser Gefahr bewusst ist, hat sich bereits wichtiges Handwerkszeug angeeignet. Die Kohärenztheorie erscheint mir, auch wenn sie zunächst etwas sperrig erscheint, als der beste Weg, Wahrheit zu erkennen und zu beschreiben:
Eine Theorie oder ein Aussagensystem kann nach Rescher dann als kohärent bezeichnet werden, wenn folgende Aspekte erfüllt sind:
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Umfassendheit (comprehensiveness): Alle relevanten Sätze werden berücksichtigt; die Theorie ist logisch geschlossen.
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Konsistenz (consistency): Die Theorie enthält keine logisch-kontradiktorischen Sätze.
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Zusammengefügtheit (cohesiveness): Die Sätze der Theorie werden in ihren Beziehungen bzw. Kontexten zu den anderen Sätzen expliziert; die Beziehungen zwischen den Sätzen sind logisch einwandfrei.
Damit schließt dieser Ansatz auch die Korrespondenztheorie der Wahrheit ein, denn jeder Satz, der sich auf die Realität bezieht, muss wegen 1. eingeschlossen werden. Die Korrespondenztheorie hat aber die Schwäche der Erkennbarkeit der Realität als Maßstab. Wenn ich die Realität mangels irrtumsfreier Erkenntnis nicht sicher vom Irrtum unterscheiden kann, bleibt dieser Maßstab fragwürdig.
Der besondere Charme der Kohärenztheorie liegt in der Voraussetzungslosigkeit, denn sie setzt nicht voraus, dass eine Realität gibt, an der die Wahrheit zu messen wäre, wiewohl die Realität als Ergebnis des Prozesses durchaus verstanden wird. Damit entspricht sie überraschenderweise sehr gut dem menschlichen Denken. Sie sagt aber nur, was im Kontext des Systems für Wahrheit gehalten wird, solange es keine Gründe gibt, diese zu verwerfen.
Der Fallibilismus ist konstitutiv für den Kritischen Rationalismus. Er besagt, dass wir die Wahrheit nur unter Irrtumsvorbehalt erkennen können. Das sagt nichts darüber, ob die letztlich eine Wahrheit absolut existiert, sondern nur, dass wir diese nicht sicher erkennen können. Dieser einfache und selbstevidente Gedanke hat aber grundlegende Konsequenzen für das Verständnis der Wahrheit. Es ist kein Wahrheitsrelativismus, der die Existenz der absoluten Wahrheit bestreitet, wehrt aber, dass jemand diese exklusiv für sich beanspruchen kann.
Gibt es einen Unterscheid zwischen Wahrheit und Realität? Ich meine nicht. Denn die Realität ist genau das, was beschrieben ist: Sie wird perspektivisch wahrgenommen und man kann sich in ihr täuschen. Die unbekannte Realität ist der Maßstab der Erkenntnis.
Man könnte als Wahrheit auch jene Erkenntnis bezeichnen, die völlig frei vom Irrtum ist.
Darum ist es auch so schlimm, wenn man Wahrheit und Erkenntnis verwechselt. Man verbaut sich den Zugang zur wahren Erkenntnis.
Denn wenn es eine absolute Realität gibt, muss man auch diese – zumindest als Stückwerk und unter Unsicherheit – erkennen können.