Was ist das eigentlich: Vernunft, Verstand, Rationalität … ?
Ich sah die Sendung scobel: Schlaf der Vernunft – Von unvernünftigen Gedanken und irrationalen Taten … und es hat mich nicht befriedigt. Natürlich ist es vernünftig, über die Vernunft nachzudenken – auch wenn diese einem Spiegelgefecht gleicht. Aber ich meine nicht, dass es ausreicht, einige kluge Gedanken und anregende Bilder zu präsentieren. Dazu noch eingestreute Weisheiten und Setzungen, die nach einer Diskussion rufen. Ich will nach Antworten forschen, auf die man weiter aufbauen kann.
Verstand kommt von Verstehen – ist es ein Synonym der Vernunft? Und was hat es mit der instrumentellen Vernunft auf sich? Mir genügt hier keine assoziative Verknüpfung. Ein Erklärungsversuch
Der Begriff Vernunft bezeichnet in seiner modernen Verwendung die Fähigkeit des menschlichen Denkens, aus den im Verstand durch Beobachtung und Erfahrung erfassten Sachverhalten universelle Zusammenhänge der Wirklichkeit durch Schlussfolgerung herzustellen, deren Bedeutung zu erkennen, Regeln und Prinzipien aufzustellen und danach zu handeln.
An dieser Erklärung mangelt, dass Handeln immer des Motives, eines Zieles bedarf. Da, wo die Ziele nicht reflektiert werden, fällt es mir schwer, Vernunft zu erkennen. Was also will erreicht werden? Will Macht erreicht werden? Glück? Liebe, Reichtum, Erkenntnis … ein langes Leben, das Wohl der Menschheit, die Gerechtigkeit? Letztlich verschieben die Ziele auch die möglichen Wege und effektiven Maßnahmen.
Ziele und Moral
Sollte Vernunft nur eine zielkonforme Umsetzung gleich jedes Ziels sein? Oder beinhaltet die Invokation der Vernunft auch einen implizit moralischen Appell, als die Mahnung des Gewissens?
Nach Kant ist die Vernunft das oberste Erkenntnisvermögen, das den Verstand, mit dem die Wahrnehmung strukturiert wird, kontrolliert und diesem Grenzen setzt bzw. dessen Beschränkungen erkennt. Sie ist damit das wichtigste Mittel der geistigen Reflexion und das wichtigste Werkzeug der Philosophie.
Vernünftige Gefühle
Der Verstand als das kognitive Vermögen, Erkenntnisse zu gewinnen ist die Voraussetzung, um zu zielgerechtem Handeln zu gelangen … wirklich? Sabine Döring meint nein. Oft ist es das Gefühl, die Intuition, die uns besser zur Zielerfüllung leiten kann. Eine Reflektion mag zwar hilfreich sein, aber eine verbildete und überintellektualisierte Gedankenführung kann gerade die Ziele aus den Augen verlieren und in ein Labyrinth führen. Das wäre eben nicht vernünftig.
Beispiele böser Vernunft
Zugleich aber erschrecken wir, wenn wir mit einem Verhalten konfrontiert werden, das offensichtlich niemanden wirklich nutzt. Nehmen wir den Terrorismus: Der Selbstmord-Attentäter wird dazu gebracht, für die vermeintlich gute Sache, die Rache oder die Ehre sich selbst und möglichst viele anderen zu opfern. Das erscheint höchst unvernünftig. Woher sollte jener denn hinreichend zuverlässig wissen, dass es tatsächlich Gottes Wille sei? Dass das Paradies und keine Hölle auf ihn wartet?
Und die Drahtzieher? Ist es vernünftig, ihre Macht über Andere auszuspielen? Wenn es das Ziel ist, das Gefühl der Macht auszukosten, wenn es ein perfides Kalkül ist, das vielleicht doch aufgeht? Es mag zielkonform und folgerichtig sein, aber wir werden keine hinreichende moralische Rechtfertigung für derartige Ziele und Mittel finden. Gleiches gilt für den gewöhnlichen Verbrecher, der keine (vorgeschobene) Begründung umsetzt, sondern sein nacktes Eigeninteresse.
Es wäre je nach Definition vernünftig zu nennen, auch moralisch verwerfliche Ziele effektiv umzusetzen oder auch nicht. Wer aber die moralischen Prinzipien – z.B. die goldene Regel – darüber setzt, wird der Vernunft Grenzen auferlegen. Ansonsten gäbe es erschreckend viele vernünftige Ungeheuer.
Die dunkle Bedrohung
Im Ursprung aber wird die Vernunft von einer animalische Unvernunft, einem dunklen Gefühl und Affekt bedroht. Hass, Wut, irrationale Angst – die zu Taten führen, die weder zielkonform, noch moralisch vertretbar sind. Das ist vermutlich weit eher die Idee, die Goya trieb. Hier wird die wache Vernunft zum Schutz vor der Zerstörung anderer … und auch der Selbstzerstörung. Wie kann ein Liebender seine Geliebte töten, weil die ihn betrog? Es kann keine Liebe sein, die die eigene Verletzlichkeit über die Liebe zum Anderen stellt und keine Vernunft, sich dem Rauch der Gefühle hinzugeben. Die Vernunft ist der Wächter vor jenen Ungeheuern, vor dunklen Trieben und unrechtem Verlangen.
Um dieses dunkle Verlangen zu beleuchten: Moon over Bourbon street von Sting
Die Lyrics sind es wert, genauer betrachtet zu werden – hier nur die erste Strophe:
There’s a moon over Bourbon Street tonight
I see faces as they pass beneath the pale lamplight
I’ve no choice but to follow that call
The bright lights, the people, and the moon and all
I pray everyday to be strong
For I know what I do must be wrong
Oh you’ll never see my shade or hear the sound of my feet
While there’s a moon over Bourbon Street
Es ist das Entsetzen, dass erkennend den Konflikt sieht – und verzweifelt nach der Vernunft ruft, die dem bösen Treiben Einhalt gebietet. Aber kann sie das auch, oder ist sie der Urgewalt des Triebes ausgeliefert? Kann eine instrumentelle Vernunft nicht ebenso ein Alibi liefern, um die böse Tat zu rechtfertigen?
Ein nüchterner Ausblick
Es mag für den Einen die bittere Erkenntnis sein, dass der Geist der Aufklärung, die in schier grenzenlosem Optimismus der Vernunft eine oberste Macht zusprach, durch Geschichte und Erfahrung gründlich widerlegt ist. Nur wer die Vernunft als Geschenk und Verpflichtung sieht, die zum Guten beitragen kann, alleine aber unzureichend bleibt, kann sich der Gnade öffnen. Instrumentelle Vernunft wird nicht mehr der Regent sein können, sondern der Diener. Demut im Angesicht Gottes ist keine Zauberformel, die rettet, aber ein starker Verbündeter der Vernunft.