Neoliberalismus … oder was? Die Systemfrage

Im Zeichen der Krisen und der Umbrüche, des Erodierens von Grundrechten und Verlässlichkeiten, stellt sich die Frage nach der grundsätzlichen Orientierung wieder neu. Ist ein Systemwandel erforderlich? Was ist eigentlich Demokratie? Und auf welcher Grundlage soll sich die Gesellschaft entwickeln?

Häufig verbindet sich daran die Kritik des Wirtschaftssystems des sogenannten Neoliberalismus, von dem angenommen wird, dass er die Reichen reicher macht und die Armen ärmer. Aber auch der Sozialismus hat nicht die Strahlkraft einer erstrebenswerten Alternative. Darum ist eine vertiefte Analyse des Status quo und der Ziele unabdingbar.

Zunächst muss festgehalten werden, dass es eine große Verwirrung der Begriffe gibt. Das erschwert das Denken und Kommunizieren erheblich. Wenn nicht mehr verstanden wird, was man selbst eigentlich meint, und noch viel weniger, was der Andere meint, ist ein konstruktives Denken nicht mehr möglich. Es werden falsche Kategorien gebildet, untaugliche Dichotomien und veraltete Denkmuster gebraucht.

Was ist mit Neoliberalismus gemeint?

Wer in Lexika und Fachaufsätzen nachschlägt, stellt schnell fest, dass die seriöse Begriffsdefinition in eklatantem Widerspruch zum öffentlichen Wortverständnis und Begriffsgebrauch steht. Die Bundeszentrale für Politische Bildung definiert

Neoliberalismus

Denkrichtung des Liberalismus, die eine freiheitliche, marktwirtschaftliche Wirtschaftsordnung mit den entsprechenden Gestaltungsmerkmalen wie privates Eigentum an den Produktionsmitteln, freie Preisbildung, Wettbewerbs- und Gewerbefreiheit anstrebt, staatliche Eingriffe in die Wirtschaft jedoch nicht ganz ablehnt, sondern auf ein Minimum beschränken will.

Die Ideen des Neoliberalismus, dessen führender Vertreter in Deutschland Walter Eucken (* 1891, † 1950) war, basieren zum großen Teil auf den negativen Erfahrungen mit dem ungezügelten Liberalismus des Laissez-faire im 19. Jahrhundert, als der Staat die Wirtschaft komplett dem freien Spiel der Marktkräfte überließ. Staatliche Eingriffe in die Wirtschaft sind deshalb aus Sicht des Neoliberalismus dann gerechtfertigt und notwendig, wenn sie z. B. das Marktgeschehen fördern und die Bildung von Monopolen oder Kartellen verhindern, Konjunkturschwankungen ausgleichen oder dem sozialen Ausgleich dienen. 

https://www.bpb.de/kurz-knapp/lexika/lexikon-der-wirtschaft/20176/neoliberalismus/

Das passt nun gar nicht zu dem öffentlichen Diskurs, der Neoliberalismus mit Ausbeutung und der wirtschaftlichen Macht des Stärkeren negativ versteht und eher als ein Synonym zum ungezügelten Kapitalismus interpretiert. Was aber folgt daraus? Soll man den Strom der öffentlichen Meinung, die den Begriff entgegen der wissenschaftlich etablierten Definition versteht, wieder korrigieren, damit diese Verwirrung aufgelöst wird? Das ist sicherlich ein hoffnungsloses Unterfangen in einer Zeit, die von Schlagworten und unscharfen Assoziationen bestimmt ist.

Was wir in der Realität beobachten ist, dass multinationale Konzerne und Kapitalagglomerationen immer stärkere Macht entfalten, sowohl wirtschaftlich, als auch politisch. Dies kann man durchaus zu Recht als Ursache vieler Fehlentwicklungen verstehen.

Andererseits haben wir ehemals sozialistisch genannte Staaten, die ebenso zu einer Machtfülle und einer wirtschaftlichen Struktur neigen, die sich von Oligarchien in der Geschichte nicht signifikant unterscheiden. Man spricht auch vom Geldadel, der sich mit scheinbar sozialistischen Strukturen bestens versteht und zu diesen hin konvergiert. Dieser Wirtschaftstypus ist von der klassischen Teilung zwischen Marktwirtschaft und Planwirtschaft nicht mehr adäquat beschrieben.

Soziale Marktwirtschaft

Die Bundeszentrale für Politische Bildung definiert

Der Anspruch der sozialen Marktwirtschaft ist, die Vorteile einer freien Marktwirtschaft wie wirtschaftliche Leistungsfähigkeit oder hohe Güterversorgung zu verwirklichen, gleichzeitig aber deren Nachteile wie zerstörerischer Wettbewerb, Ballung wirtschaftlicher Macht oder unsoziale Auswirkungen von Marktprozessen (z. B. Arbeitslosigkeit) zu vermeiden. 

https://www.bpb.de/kurz-knapp/lexika/lexikon-der-wirtschaft/20642/soziale-marktwirtschaft/

Dies entspricht eigentlich dem vorgenannten Neoliberalismus, ist im Gegensatz zu diesem aber positiv besetzt. Man benutzt diesen Begriff darum gerne als Schlagwort, um staatsdirigistische Wirtschaftsformen zu verbrämen. Dabei wird faktisch der Markt immer weiter zurück gedrängt, um lediglich noch als Alibi für eine Wirtschaftsweise zu dienen, in der der Markt keine gestaltende Bedeutung mehr hat. Die sogenannte Regulierung setzt den Marktteilnehmern so enge Grenzen, dass jegliche innovative Dynamik, die dem Markt sonst zu eigen ist, erstickt wird.

… und Kapitalismus

Kapitalismus

der unter den Produktions- und Arbeitsbedingungen des ausgehenden 18. Jahrhunderts und des beginnenden 19. Jahrhunderts geprägte Begriff für eine Wirtschafts- und Gesellschaftsordnung, in der das private Eigentum an den Produktionsmitteln (Fabrikhallen, Maschinen, Anlagen), das Prinzip der Gewinnmaximierung und die Steuerung der Wirtschaft über den Markt typisch ist. Das wirtschaftliche und soziale Zusammenleben in der damaligen Gesellschaft wurde weitgehend von den Interessen der Kapitaleigentümer bestimmt. Im Kapitalismus ist Kapitalbesitz die Voraussetzung für die Verfügungsgewalt über die Produktionsmittel, was das Weisungsrecht über die Arbeitskraft der abhängig Beschäftigten einschließt.

https://www.bpb.de/kurz-knapp/lexika/lexikon-der-wirtschaft/19938/kapitalismus/

Wichtig ist die Unterscheidung zwischen Besitz und Eigentum. Eigentum ist das ‚Recht, das einer Person die ausschließliche und vollständige Herrschaft an einer Sache einräumt. Für das Wirtschaftssystem eines Landes ist v. a. die Haltung des Staates zum Eigentum an den Produktionsmitteln von Bedeutung. ‚

Dies wird aber oftmals nicht ausgeübt, sondern bei Vermietung und Verpachtung, Einsetzung von Treuhändern, Verwaltern und Managern ganz oder teilweise dem Besitz – also der praktischen Verfügung über die Sache – übergeben.

Der klassische Unternehmer und Magnat, der mittels seines eigenen Vermögens die Geschicke großer Unternehmen leitet, ist ein eher nur noch selten vorzufindendes Muster. Heutige Oligarchen haben nur noch ein bescheidenes Eigentum, aber die Verfügung über eine Stiftung geregelt- mit meist gemeinnützigem und humanitären Anstrich -, die dann ihr Vermögen stark vergrößert und politische Macht ausübt.

Ein weiteres Muster ist das der großen Kapitalgesellschaften. Diese sammeln große Geldmengen zum Zweck gewinnbringender Anlage ein und erhalten damit eine unglaubliche Macht, die weitgehend die Unternehmenspolitik und politische Instanzen im Unternehmen prägt. Hier zu nennen sind BlackRock, Vanguard AM, Fidelity-Anlagen, State Street Global Advisors, Goldman Sachs AM und einige andere … die aber miteinander verflochten sind und keineswegs einen Markt darstellen, der Vielfalt suggeriert.

Die Unterscheidung dieser vom Staatskapitalismus ist weniger grundsätzlicher als formaler Natur. Durch den Globalismus der Multinationalen Konzerne werden Staaten faktisch in ihrer Rolle als oberste Instanzen der Macht in Frage gestellt.

Markt vs. Machtkonzentration

Die Marktlehre beginnend mit Adam Smith ging von einem Markmechanismus der Transparenz und Konkurrenz vieler Marktteilnehmer aus. Somit wurde Innovationen temporär, bis sie nachgeahmt wurden, durch Wettbewerbsvorteile belohnt und Windfall Profits begrenzt. Damit wird die optimale Form eines Wirtschaftssystems beschrieben.

Inhärent ist das Streben von Marktteilnehmern, eine beherrschende Stellung einzunehmen, die ihnen die Konkurrenz vom Halse hält. Das wird zumeist durch Wachstum, Firmenaufkäufe und Fusionen erreicht. Des Weiteren hat sich die Kapitalakkumulation als sehr wirksam erwiesen.

Dadurch werden aber die Marktmechanismen ausgehebelt. Der Marktmechanismus kann aber nur in einem freien und transparentem Rahmen ohne extreme Machtkonzentration einzelner Marktteilnehmer funktionieren.

Damit wäre das Idealbild das einer Wirtschaft mit klein- und mittelständigen Betrieben und einem Staat, der vor allem die Einhaltung der Regeln überwacht, gezeichnet. Die Einhegung zu großer Machtkonzentrationen, die sich beim Staatskapitalismus, Multinationaler Konzerne und sogenannten ‚wertgeleitetem‘ Dirigismus ergeben, ist damit für die soziale Marktwirtschaft die zentrale Überlebensfrage; wenn diese nicht gelingt, ist die fragliche Wirtschaft weder sozial noch durch Innovationen des Marktes getrieben.

Daraus folgt …

Die Systemfrage ist heute nicht mehr diejenige zwischen Marktwirtschaft vs. Planwirtschaft und auch nicht mehr diejenige zwischen Kapitalismus vs. Sozialismus, sondern diejenige zwischen der Sozialen Marktwirtschaft vs. einer Wirtschaft der Machtkonglomerate, welche weder sozial noch marktwirtschaftlich agieren.

Damit man nicht gleich auf verlorenen Posten steht ist es ratsam, den Begriff des Neoliberalismus nicht eine ursprüngliche positive Konnotation zu geben, sondern zu akzeptieren, dass unter Neoliberalismus eben der Trend zu den Machtkonglomeraten zu verstanden wird, obwohl das nicht ursprünglich so gemeint war.

Aus dieser Analyse leiten sich klare Zielvorstellungen und eine programmatische Leitlinie der Wirtschaftspolitik her, die im Kleinen die Freiheit der Wirtschaftssubjekte fördert und schützt, Machtkonglomerate jedoch gezielt einhegt und deren Freiheits(-missbrauch) begrenzt.

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