Unter dem Titel Mehr Humanismus wagen fordert Frank Furedi sich auf den Humanismus zurückzubesinnen. Getrieben von einer politisch liberalen Haltung, die auf Selbstbestimmung und Verantwortung setzt, erscheint der Sozialstaat suspekt:
Die Tendenz, Politik und Gesellschaft mit Regulierung und technokratischer Aufsicht gleichzusetzen, geht einher mit einer Missachtung der Mündigkeit erwachsener Menschen.
Allerdings beginnt Furedi mit einer fragwürdigen These:
Ursprünglich entstand der Humanismus als Antwort auf die fatalistische Kultur des europäischen Spätmittelalters. Eine der bedeutenden Errungenschaften des Humanismus ist die Einsicht, dass die Menschen nicht dem Schicksal unterworfen sind.
Zumeist greift der Humanismus auf die Denker der Antike zurück. Seine Ursprünge liegen also weit früher. Der Renaissance-Humanismus ist eine Bewegung aus der Geistesgeschichte, die vor allem als Impuls auf die Strenge der Scholastik entstand. Die Dynamik in der Geistesgeschichte war vor allem von christlichen Reformbewegungen angetrieben. Und auch der Humanismus wird besser als ein intellektuelles Christentum verstanden, das freilich kein Bekenntnis mehr fordert. Die meisten der klassischen Denker des modernen Humanismus, haben sich von kirchlichen Strukturen emanzipiert, zum Teil in deutlicher Polemik, ohne jedoch im Entferntesten mit heutigen bekennenden Atheisten vergleichbar zu sein. Auf den optimistischen Humanismus der Aufklärung folgte schließlich die desillusionierte Postmoderne, der Werte und jegliche große Ideen prinzipiell suspekt erscheinen.
… Ermunterung zu Autonomie und Selbstbestimmung: Dabei ist Autonomie die Voraussetzung für die notwendige moralische Unabhängigkeit der Bürger, um eine verantwortliche Rolle in der Gesellschaft zu spielen.
Autonomie heißt literal die Selbstgesetzlichkeit: Jeder erkennt nur seine eigene Überzeugung als bindend an. So weit aber dürften nur die wenigsten Denker vor dem 20. Jahrhundert gegangen sein. Auch nicht Kant, der den moralischen Gottesbeweis als einzig gültigen anerkannte. Nur durch seinen Bezug zu Gott kann überhaupt eine Moral gerechtfertigt werden. Es ginge also weniger um die Autonomie, sondern die Suche nach dem Absoluten und der ethischen Verankerung im Spirtuellen. In diesem Sinn betonte Victor Frankl auch die Rolle des Gewissens, die zur Verantwortung befähigt, aber keineswegs rein selbstbestimmt ist.
Jene wirken heute wie mahnende Zeugen aus einem anderen Zeitalter. Heutige Neurophilosophen versuchen mit evolutionistischen Herleitungen jede Menschlichkeit biologistisch oder mechanistisch zu deuten – da ist mit der Idee des Humanismus eigentlich nicht mehr viel anzufangen. Aber irgendwie scheint das Wort ‚Humanismus‘ noch einen guten Klang zu haben. Der Begriff wird dann von völlig anderen Denkansätzen vereinnahmt und so was wie ‚evolutionärer Humanismus‘ genannt, der dem Menschen seine besondere Rolle abspricht und den Tieren eher Menschenrechte zuerkennen will.
Nicht so Furedi. Er bezieht sich auf den Humanismus der Aufklärung, den er gerne wiederbeleben will. Dafür bekommt er mein Lob, denn mit Frankl sehe ich die Würde des Menschen gerade durch seine Eigenverantwortlichkeit bestätigt. Es ist nur konsequent, dies auch heraus zu stellen. Aber passt das noch in unsere Zeit? Ich fürchte nein, wenn ich dem Zeitgeist und Mainstream die Deutungshoheit überlassen würde. Aber das Wahre, Schöne und Gute hat seine Referenz weder in einer gefühlten, noch in einer echten Mehrheitsmeinung, sondern im Absoluten.
Durch die Autonomie werden Menschen in die Lage versetzt, Verantwortung für ihr Leben und das der anderen zu übernehmen und somit eine eigene Persönlichkeit zu entwickeln. Um moralische Unabhängigkeit pflegen zu können, ist Freiheit erforderlich, den eigenen Lebensweg zu reflektieren.
Trotz eines gewissen Unbehagens in der Formulierung stimme ich dem aber weitgehend zu. Anstelle der Autonomie verstehe ich aber die Macht und die Pflicht, selbst zu entscheiden, was gut ist. Ganz im Sinne von Paulus: ‚Prüft alles, das Gute behaltet!‘
Nach Milton ist das Gesellschaftsleben ein aktiver und herausfordernder Prozess, der die Menschen auf die Probe stellt und zum selbständigen Denken zwingt. “Fit reader“ sind diejenigen, die der „Prüfung der Bücher“ ausgesetzt sind, was bedeutet, dass sowohl das Buch den Leser als auch der Leser das Buch prüft.
Neben einem nahezu uneingeschränkten Applaus möchte ich lediglich vor dem Missverständnis warnen, der dem belesenen Intellektuellen einen moralisch höheren Wert zuspricht. Denn es ist nicht selten, dass gerade schlichte Gemüter mit Güte und Mitmenschlichkeit überraschen, während Intellektuelle allzu oft versagen. Das aber sollte nicht verhindern, die eigenen Möglichkeiten der personlichen Qualifikation zu schätzen und nutzen.
In einer der denkwürdigsten Passagen der Areopagitica heißt es, als Gott Adam den Verstand gab, „ gab er ihm die Freiheit zu wählen; denn Vernunft ist nichts als Wahl“
Und das finden wir auch im Neuen Testament und der europäischen Geistesgeschichte, in der die Saat langsam auf ging. Furedi ist aber nicht so naiv, hier eine ungebrochene Entwicklung zu unterstellen:
Im einundzwanzigsten Jahrhundert werden die Fähigkeit der Menschen zur Ausübung moralischer Autonomie und seine Urteilsfähigkeit nicht mehr ernst genommen. Es wird weithin behauptet, dass die Menschen nicht ihre wahren Interessen verstehen und daher dazu tendieren, irrationale Entscheidungen zu treffen.
Damit erkennt Furedi deutlich, dass es heute mächtige antihumanistische Bestrebungen gibt. Vielleicht bin ja nicht nur Furedi und ich, die so was für gruselig halten:
Es ist nun die Rolle des Staates, festzustellen, was gut für die Menschen ist. Er stellt öffentliches Bewusstsein her und bringt uns mit Sozialtechniken dazu „das Richtige“ zu tun. …
In unserer orientierungslosen und konfusen Ära wird die Idee individueller Autonomie oft als eine von rechten Marktapologeten in Umlauf gebrachte Illusion diskreditiert. …
Die Tatsache, dass heute niemand mehr über die Rolle des Bürgers in der Gesellschaft diskutiert, führt zur Verunglimpfung der Freiheit.
Eigentlich müsste ich den halben Text applaudierend zitieren. Doch lesen sie selbst weiter …