Über viele Dinge denkt man gewöhnlich nicht nach. Man hält es für selbstverständlich, dass die Welt ist, was sie ist, oder das man selbst überhaupt existiert.
Warum aber ist überhaupt irgend etwas, und nicht nichts? Ein populärer Ansatz heute ist der Gedanke: Wenn ich nicht wäre, könnte ich diesen Gedanken auch nicht denken. Also wäre die eigen Existenz selbsterklärend. Ist sie aber nicht. Denn es ist nur die Tautologie, die die eigene Existenz anhand der Reflektion im Sinne Descartes erkennt: cogito ergo sum.
Bei Descartes ist es keine Tautologie, denn es ging ihm um eine Grundlage der Erkenntnis, keine Erklärung für das Sein. Das Sein bleibt damit noch unerklärt. Derartige Fragen heißen seit Aristoteles Metaphysik oder Ontologie. Sie sind heute unbeliebt, denn sie haben den Geruch, einen religiösen Gedanken an Gott zu induzieren, der oft unerwünscht bleibt. Modern ist dagegen, irgend etwas über Zufall und Notwendigkeit zu ventilieren. Wobei aber auch der Ursprung und Grund von Zufall und Notwendigkeit dogmatisch oder Irrational der Reflektion entrückt wird. Man denkt eben über so was nicht nach, sondern hält es für selbstverständlich, dass eben Zufall und Notwendigkeit existieren.
Ohne die Frage nach dem Ersten Grund hier zu vertiefen, wäre aber von Bedeutung: Ist es sinnvoll, sich mit den Grundfragen überhaupt zu beschäftigen? Oder sollten wir diese nicht lieber ausblenden? Angesichts dessen, dass es eine vollständig rationale Erklärung nicht gibt, solange man nicht einem Dogma zustimmt, könnte man ja den Ansatz vertreten, dass ein Nachdenken darüber irrelevant sei.
Ich meine, dass diese vermeintlichen Selbstverständlichkeiten höchst relevant für das praktische Leben und das Selbstverständnis ist. Vielmehr muss man an dem Anspruch des Philosophen zweifeln, der hier Desinteresse vorschützt. Dem gemeinen Menschen bleibt es dem eigenen Ermessen vorbehalten, sich mit der Einen oder Anderen zu beschäftigen, aber der Philosoph kann nicht zu derartigen Ausblendungen Zuflucht nehmen. Für alle aber gilt: Mein Selbstverständnis basiert auf dem, was ich bin. Und das beeinflusst auch meine Werte, die zwar von Kultur und Erziehung geprägt wurden, aber im Lichte der Selbsterkenntnis modifiziert werden. Diese sind dann sehr wohl Verhaltensrelevant.
Dem Zeitgeist gemäß gilt es als arrogant, sich selbst für etwas besonders halten. In diesem Sinn sind jedwede Auserwählten verdächtig. Auch die Einsamkeit der Menschheit im weiten Universum gilt wegen der Anlehnung des Gedankens der Besonderheit für wenig plausibel. Andererseits ist unsere Kenntnis wissenschaftlicher Erklärung zum Entstehen von Universum, Materie und Leben gering. Hier gemeint ist nicht die persönliche Kenntnis, sondern die der Wissenschaften, die jederzeit überprüft werden kann. Die Menschheit kann insgesamt dazu sehr wenig sagen.
Wir sind nichts Besonderes
Es gilt heute als chic, wenn man sich weder als Person, noch als Kultur oder als Menschheit für was besonderes hält. Jene, die sich für einzigartig halten, sind mit dem Vorwurf der Arroganz konfrontiert. Leben im Weltall, vielleicht so gar intelligentes Leben, gibt es sicher ganz oft, nur ist das All so groß, und wir haben keine Möglichkeit, das genauer heraus zu finden. Wo man da was herausfinden könnte, versuchen wir es. Sei es das SETI-Projekt oder Untersuchungen auf dem Mars. Das scheint wichtig genug zu sein, um jedwede Versuche dazu auch immer in den Prime-Time-Nachrichten zu senden. Tatsächlich haben wir nichts, nicht den kleinsten Hinweis außer Spekulationen.
Jaques Monod, immerhin Nobelpreisträger und bekennender Atheist, erklärte, das leben auf der Erde wohl einzigartig sei, denn es sei derartig unwahrscheinlich, dass nochmal irgend wo leben entstanden sein könnte. Darum gibt es auch angesichts dieses unglaublichen Zufalls keinen Grund, im Leben einen vorgegebenen Sinn zu sehen. Irgendwie passen die Ergebnisse Monods Arbeit aber nicht zum Zeitgeist. Obwohl es keine neuen Ergebnisse gibt, die uns aus wissenschaftlichen Gründen zu einem anderen Urteil kommen ließen, spricht kaum noch jemand von dieser Erwartung. Auch Schöpfungsgläubige nicht, dann warum sollte Gott nicht auch anderswo Leben geschaffen haben? Wenn es keine Frage von Wahrscheinlichkeit ist, dann doch die des Glaubens.
Aber das Streben, an der Einzigartigkeit zu Zweifeln, setzt sich noch weiter fort: Multiverses. Wenn es das Universum gibt, dann könnte es doch auch Brüdern und Schwestern davon, andere Universen geben. Also nicht nur andere Sterne mit bewohnten Planeten, andere Galaxien, sondern komplett andere Universen, mit vielleicht mit anderen Naturgesetzen. Nur haben wir auch dafür keinerlei hinweise außer der Spekulation. Und das alles bleibt völlig irrelevant, denn wenn wir keinen Kontakt mit jenen hypothetischen Welten haben, ist es reine Phantasie, die uns beflügeln könnte.
Fakt ist jedoch, dass wir auf heutigem Kenntnisstand davon ausgehen müssen, dass nicht nur Leben und die Menschheit, sondern im Besonderen jeder, der das liest, etwas völlig Einzigartiges und etwas sehr Besonderes ist. Denn wir haben keinen rationalen Grund, daran zu Zweifeln.
Wissenschaft und Selbstverständnis
Viele Menschen vertrauen heute auf die Wissenschaft für ihr Weltbild und halten Aussagen, die vorgeblich wissenschaftlich seien, für wahr und Glaubwürdig. Wenn nun ein Wissenschaftler über das Leben spekuliert, aber keine klaren Belege hat, so nehmen das viele trotzdem sehr ernst. Viele glauben gar, dass jede ‚wissenschaftliche‘ Spekulation der Wahrheit entspräche. Das ist natürlich keine Wissenschaft, sondern Wissenschafts-Aberglaube – nach Karl Jaspers.
Unabhängig von der wirklichen Evidenz kann aber die Physik keine finalen Antworten auf die philosophischen Fragen geben, und zwar nicht mangels Erkenntnisfortschritt, sondern prinzipiell. Es ist darum töricht, sich zum Selbstverständnis ausschließlich auf die Naturwissenschaften zu berufen. Physik ist bestenfalls Hilfswissenschaft der Philosophie – ein Wasserträger, der einige Irrtümer vermeiden hilft.
Was aber sonst sollte unser Selbstverständnis prägen? Immerhin konnte die Wissenschaft äußerst viel Erstaunliches entdecken:
Von der Feinstruktur der Materie, den Quarks, aus denen die Hadronen gebaut sind, fand man 63 subatomare Teilchen, einschließlich virtueller Teichen wie das Higgs-Boson, dass die eigentliche Masse der Materie bildet, obwohl es nur kürzer als ein Planck-Zeit existiert.
Die zellularen Prozesse ließ uns Nano-Maschinen entdecken, die in äußerst komplexen Abläufen die Grundlage des biologischen Lebens liefern.
Vieles kann man wissen, was unsere Alltagserfahrung weit übersteigt. Aber dennoch führt es uns nicht zu Antworten zu den existenziellen Fragen unseres Daseins, die vielleicht der klügste Mensch nicht besser beantworten kann als ein schlichter Mensch, der sich seiner Erwählung stellt.
Die Suche nach dem Sinn
Das Lebensmotto Viktor Frankls war, das der Mensch durch den Sinn bestimmt ist. Diesen Sinn kann man nicht beliebig erfinden, aber er kann gefunden werden. Als Seelenarzt hielt er sich mit normativen Antworten zurück sondern erkannte dieses Grundthema als die Aufgabe eines jeden Menschen. Ein Fehlen in der Sinnfrage führt zu Depressionen und Suizid, Nihilismus, kurzschlüssigen Antworten, bis hin zu weltanschaulichem Extremismus und Terrorismus. Es ist keineswegs so, das diese große Menschheitsfrage aus dem aktuellen Fokus gerückt ist, sondern wirkt mächtig – ob nun bewusst oder unbewusst.
Mich führte das zum Glauben an Jesus Christus, den ich als so einzigartig und paradox wie das Leben selbst erkannt. In ihm liegt die Erwählung und die Auferstehung nach oder in dem Tod. Das inkludiert die Erkenntnis Gottes, des Schöpfers aller Dinge. Traditionelle Formen des Glaubens haben sich keineswegs abgenutzt. Auch nicht den Glauben an die Erwählung. Denn wenn jeder von uns einzigartig ist, dann stellt sich ihr oder ihm eine ganz spezielle Lebensaufgabe und Erwartung.
Erwählung?
Das hört sich gruselig an. Es klingt nach irren Missionen von Attentätern und Potentaten, die sich eben selbst für was Besonderes hielten. Eben nach was Außergewöhnlichem und Gefährlichem. Es ist ein Zeichen der Zeit, dass wir zunächst derartige Assoziationen haben können. Tatsächlich gab es in Geschichte und Gegenwart Menschen und Ereignisse, die uns ängstigen und die wir für grundfalsch halten. Aber diese Reduktion in der verkürzten Verknüpfung wäre das Kind mit dem Bade ausschütten.
Erwählung ist immer exklusiv, denn sie trifft den Einzelnen und eben nicht den Anderen. Das heißt aber nicht, dass nicht der Andere, eigentlich jeder, ebenso einer Erwählung folgt. Denn die Erwählung stellt vor allem die Besonderheit des Lebens und eigenen Seins heraus. Erwählung in diesem Verständnis stellt keinen über den anderen, sondern lässt sich selbst als Individuum erkennen, der eben nicht beliebig austauschbar ist. Es ist das Verständnis der Verantwortung, die weniger Bürde, sondern Würde ist. Ein Privileg der Autonomie in diesem Kraftfeld der Erwählung, die aus dem Nichts und der Masse herauslöst. In der Gemeinschaft der Erwählten, als die man jede menschliche Zusammenkunft verstehen kann, mag es solche Geben, deren Funktion wegweisend sein kann. Ein Primus inter Paris.
Aber das ist nicht notwendig der Modus, der aus der Erwählung folgt. Paulus bemühte den Vergleich der Gemeinschaft mit den Teilen eines Körpers. Jeder hat eine besondere Aufgabe. Derartige Erwählung aber begründet kein differenziertes Werturteil, denn erst das Ganze ergibt den Wert. Das Selbstverständnis des Menschen ist somit sowohl individuell, als auch als Teil der Gemeinschaft.
Naturalistische Gegenmodelle
Jedweder Glaube – auch der Meinige – bleibt sich aber bewusst, dass es eben eine nicht-notwendige Überzeugung ist. Was also ist mit den Alternativen? In der westlichen Welt gehört ein ontologischer Naturalismus zum vorherrschenden Denkmuster. Also jener, der Zufall und Notwendigkeit zum Grundmuster hat, und der einen Schöpfergott für eine Fiktion hält. Gibt es nun Gemeinsamkeiten oder Analogien im Selbstverständnis, selbst wenn man die Grundeinstellung zum Leben völlig anders setzt als der Gottesgläubige? Ich halte die Frage für offen, denn auch in der konkreten Moralität ist der Naturalist dem Gottesgläubigen oftmals ähnlich und teilt in Vielem gemeinsame Werte. Ansätze könnten sein:
Wir sind zwar als Kind des Zufalls und Laune der Natur nicht an sich im Sinne des Seins etwas Besonderes, aber wir haben das Potential, uns selbst zu erfinden und das Leben zu gestalten. Und das macht uns zu etwas Besonderem. Die Verantwortlichkeit des Menschen ist dann nicht eine Erwählung einer externen Macht, sondern die Emergenz aus dem Lebensvollzug. Wer so denkt, kann im Konkreten zu ähnlichen Ergebnissen zur Moral kommen.
Manche Menschen, deren pessimistische Weltsicht man kaum von einem Nihilismus unterscheiden kann, entscheiden sich für ein ‚Trotzdem‘. Sie haben zwar keine Theorie oder Erklärung, sondern blenden jenes vorzugsweise aus, entscheiden sich zu einer bewussten Ignoranz des Grundproblems. Erstaunlicher Weise, um dann unbeschwert jenem zu folgen, was sie für richtig und gut halten.
Dies zeigt, dass sich das Grundmuster der Verantwortung nicht notwendig in einem religiösem Sinn deuten lassen muss. Auch wenn es mir persönlich nicht genug wäre, an eine selbsterfundene Verantwortung zu glauben, so ist es offensichtlich möglich, genau das zu tun. Die Gemeinsamkeit der Konsequenz aber ermöglicht es, zu einem gemeinsamen Verständnis in Fragen der Moral zu kommen.