Die Wirkmächtigkeit der Ideologie

Im Kontext des Terrorismus der letzten Jahre fällt die enge Verflechtung zwischen Islamismus und Terrorismus auf. Im öffentlichen Diskurs haben sich zwei gegensätzliche Narrative herausgebildet:

  1. Der Islam, im Besonderen salafistischer Prägung, sei Ursächlich für den Terrorismus, bzw. ein wesentlicher Faktor zum Entstehen des selben. Demnach wären inhaltliche Aussagen motivierend und prägend, zumindest aber rechtfertigend.
  2. Der Terrorismus basiert auf sozialer Entkoppelung und ist vor allem ein gesellschaftliches Problem, bei dem der Islamismus austauschbare Fassade sei.

Exemplarisch sei hier auf zwei Texte verwiesen

Dies führt aber jenseits des Vordergründigen zur Frage: Sind Inhalte religiöser oder sonstiger Ideologien wirkmächtig und handlungsbestimmend? Oder sind diese lediglich Ausdruck bestimmter gesellschaftlicher und individueller Befindlichkeiten und mehr Symptom als Ursache?

Anmerkung: Der Begriff ‚Ideologie‘ steht hier wertfrei synonym für Weltanschauung. Ob und wie stark eine Ideologie das Leben prägt, ist damit noch nicht gesagt. Vielmehr ist die Frage, ob die Ideologie überhaupt prägt, oder letztlich nur Überbau über einen prägenden Unterbau sei.

Das Beispiel

Dirk Baehr meint:

Die muslimische Gemeinde in Deutschland kann daher nicht dafür verantwortlich gemacht werden, wenn sich Jugendliche radikalisieren und die dschihadistische Weltanschauung attraktiv finden. Es ist absurd, die muslimischen Gemeinden als die unterstützende Basis der Terroristen anzusehen.

Zuvor aber stellte er fest, dass ein größerer Sympathisantenkreis und ein radikales Milieu entscheidende Impulse für den Terrorismus liefert. Anscheinend meint Baehr, dass eben jener Sympathisantenkreis und die muslimische Gemeinde völlig disjunkt seien: Woher kommen auf einmal jene Sympathisanten? Ist das Internet ein virtueller Raum aus virtuellen Menschen? Und wie kommt es plötzlich zu diesen sympathisierenden Menschen, die von Anfang bis Ende ihre starke ideologische Position anführen? Bei diversen Umfragen an Muslime in unterschiedlichen Ländern weltweit ergab sich die Zahl jener Sympathisanten jeweils zwischen 10 % und 50 % . Es ist darum auch sehr wohl davon auszugehen, dass die muslimische Gemeinde nicht zu trennen ist von jenem fundamentalisischen Millieu, wie wohl man durchaus hierzulande wohl annehmen kann, dass die klare Mehrheit der Muslime den Terrorismus ablehnt und auch nicht sympathisiert. Aber Mehrheiten sagen nichts über die Wirksamkeit von Einstellungen und der Bedeutung über Millieus. Änderungen gingen immer von Minderheiten aus.

Für unsere Eingangsfrage aber muss man tiefer das Menschenbild befragen, dass heute zumeist psychologisierend verstanden wird. Heute ist ein Grundmuster prägend, dass den Menschen als Getriebenen versteht: Durch Sozialisation und Trauma werden Verhalten im konkreten gesellschaftlichen Kontext weitgehend determiniert. Das Unbewusste ist den Epigonen Freuds Grund genug zum Handeln, Ideologie sei mehr oder minder Tünche, die die wahren Motive verschleiert. Oder eben der Soziologische Ansatz, der den Habitus als Resultat gesellschaftlicher Bedingungen versteht.

Nicht streng religiöse Erziehungsmethoden sind die Ursache für Radikalisierung. In Wirklichkeit ist es genau umgekehrt: Religiös erzogene Jugendliche verfügen zumeist über eine fundierte religiöse Identität, die sie vor einer Radikalisierung hin zum dschihadistischen Terrorismus schützt.

Was will Baehr damit sagen? Hier kommen unterschiedliche Argumentationsebenen durcheinander. Streng religiöse Erziehungsmethoden können zu Beliebigem führen. Ist der Gegensatz dazu ‚Nicht-streng religiöse Erziehungsmethoden‘ oder ‚säkulare Erziehungsmethoden‘ ? Diese sind aber weder in Inhalten noch in Methodik so verständlich. Die Klassifikation nach Strenge und Religion erscheinen unpassende Kategorien zu sein. Positiv verstanden sagt der Text lediglich:

Weltanschaulich offene Menschen, vor allem in der Suche der Adoleszenz oder durch Entwurzelung exponierte Menschen, sind für Radikalisierung weit eher erreichbar als Menschen mit einem festgefügten Weltbild, dass die Bereitschaft zur Adaption einer neuen, ggf. gefährlichen Ideologie reduziert.

Baehr aber irrt, wenn er meint:

Sie lassen sich gerade nicht so leicht radikalisieren, weil sie ein ausgeprägtes Wissen über den Islam besitzen. Dadurch sind sie in der Lage, zwischen islamischem Glauben und der Propaganda der salafistischen Prediger zu unterscheiden. Jugendliche, die hingegen keinen tiefergehenden Bezug zum islamischen Glauben haben, sind stärker gefährdet, sich zu radikalisieren. Sie fallen leichter auf die salafistische Propaganda im Internet herein.

Denn wir wissen, dass es DEN Islam nicht gibt. Es gibt unterschiedliche Auffassungen, was Islam meint. Aber es gibt auch einen Lehr-Kern, der sich im Koran als verbindliche autoritative Schrift niederschlägt. Alles, was darüber hinaus geht, ist Gegenstand des Disputes. Kinder aus salafistischen Millieus, die ebenso eine verbreitete Spielart des Islams ist, sind nicht notwendiger Weise leichter radikalisiert, aber wahrscheinlich eher bereit zu Sympathisanten zu werden. Darüber hinaus sind nicht nur Salafisten zur Radikalisierung bereit. Auch unter Schiiten gibt es terroristische Varianten.

Menschenbild

Zurück zum Allgemeinen und Menschenbild: Erziehung und Sozialisation ist stets mit Wertevermittlung verbunden. Eltern versuchen ihren Kindern das mit auf den Weg zu geben, was sie für wichtig halten: Der Salafist, will seine Werte in seinen Kindern ebenso tradiert sehen, wie der Säkularist oder liberale Gläubige die seinen Werte. Aber Erziehung steht oft in einem komplexen gesellschaftlichen Umfeld. Individuelle Kinder werden darum in undeterminierbarem Umfang jene Werte übernehmen. Ein Mechanismus, der hier den Determinismus auflöst, ist die entwicklungsbedingte Adoleszenz:

In der Phase der inneren Ablösung vom Elternhaus sucht der Heranwachsende seinen Platz in der Welt. Dabei ist zunächst offen, wie weit er auf Konfrontation zum Elternhaus geht, oder sich an die Empfehlungen hält. Diese Beobachtung ist zunächst wertfrei: Kinder aus liberalen Haus können sich in der Adoleszenz radikalisieren, Kinder aus salafistischen Milieu zu liberalen Einstellungen kommen. Auch wenn die Wirkungen individuell kaum vorhersagbar sind, so gibt es statistische Tendenzen, dass das Tradieren von Werten oft erfolgreich ist, wenn auch meist nur teilweise.

Inhalte und Willensentscheidungen

Ein Bild, dass den Menschen als (eingeschränkt) freies und moralisch verantwortliches Wesen versteht, geht davon aus, dass seine Entscheidungen das Handeln prägen und nicht nur eine Scheinerklärung für ein anderweitig determiniertes Handeln sind. Die Würde, eigene Prägungen nicht als unentrinnbares Schicksal aufzufassen, sondern die Welt Kraft eigener Einsicht und eigenem Wollens zu verändern, ist Segen und Fluch zugleich. Denn die Wahl zwischen Gut und Böse ist keineswegs leicht, wie auch die reale gesellschaftlichen Verhältnisse zeigen.

Der eigene Wille kann somit von einer gegebenen Ausgangsposition aus – der Sozialisation – unterschiedliche Pfade einschlagen. Auch wenn Kultur und Erziehung, erlernte Ideologie und andere Einflüsse eine Vorzugsrichtung zeigen, so gibt es dennoch Freiheitsgrade, die zu einem völlig anderen Kurs führen können. Auf dieser Ebene spielen die Argumente und Inhalte eine entscheidende Rolle.

Es ist im Konkreten unabdingbar die Lehre des Korans detaillierter zu betrachten: Ist der Koran zwingend so zu verstehen, dass er der Gewalt Vorschub gibt? Einige – sowohl Salafisten, als auch Islam-Kritiker – würden die Frage positiv beantworten. Andere zeigen, dass sie den Islam weitgehend friedlich auffassen. Die koranischen Aussagen sind aber eindeutig geeignet, dass sie zu Gewalttaten auffordern. Mohammed, der als Vorbild für alle Muslime gilt, war Heerführer und hat Ungläubige bekämpft. Es gibt eine Vielzahl von Koranversen, die literal genau das empfehlen und erst in einer spirituellen Umdeutung entschärft werden. Viele Fundamentalisten schließen sich dieser Umdeutung nicht an. Die deutsche Mehrheitsgesellschaft sieht allerdings die vielen Millionen von Muslimen und will darum den gemäßigten Muslimen eine Deutungshoheit zusprechen.

Es kann angesichts der Erklärungen vieler Attentäter als sicher gelten, dass es für jene handlungsrelevant war, was der Koran für autoritative Aussagen propagiert. Aber auch unter weniger dramatischen Umständen wird ein Mensch sein Handeln oftmals im Kontext von Argumenten und Entscheidungen versteht.

Aus den Analysen, die Baehr herbei zitiert, wird erkennbar, dass man wohl kaum von einem monokausalen Motivationsinput ausgehen können. Im Zusammenspiel der Motive scheinen sich unterschiedliche Motive herausgebildet zu haben. Wir betrachten hier den Überzeugungstäter, der vermutlich die Mehrheit der Attentäter darstellt. Persönliche Perspektivlosigkeit und gefühlte Diskriminierung können Auslöser sein. Aber dieser wird erst möglich, wen es eine fruchtbare Symbiose zwischen Ideologie und Anlass zusammenspielen.

Selbst wenn sich in grausamen Taten ein anderweitig erworbener Zorn und Wut entlädt, oder eben Ausdruck des Bösen schlechthin ist, so erscheinen doch ideologische Motive keineswegs wahlfrei und austauschbar. Es sind zumeist auch andere Gewalttaten mit politisch religiöser Motivation ausgübt worden: Sowohl ein Linksterrorismus als auch ein Rechtsterrorismus ist bekannt, In anderen Ländern hört man auch von anderen religiösen Motiven für Gewalttaten. Besonderes Entsetzen löste Anders Behring Breivik aus, als er am 22. Juli 2011 77 Menschen ermordete. Ein krudes Manifest tauchte auf, in dem er sich als rechts-politischer Kämpfer stilisierte. Die Frage, ob hier doch eher eine psychische Störung mit überlagertem Rechtfertigungsfilm Pate war, wurde nie vollständig geklärt – das Gericht hielt ihn zumindest für zurechnungsfähig.

Ideologiefreie Gewalttaten werden meist als Amokläufe bezeichnet. Sind diese aber wirklich ideologiefrei? Man kann eher vermuten, dass eine gewisse Geisteshaltung erforderlich ist. Denn das dem Menschen innewohnende moralische Prinzip, das Gute anzustreben, kann nicht einfach und beliebig negiert werden. Zumindest muss sich der Amokläufer in einen Zustand der Rechtfertigung bewegen, die den Bruch ethischer Standards ermöglich. Weit weniger spektakuläre ideologische Setzungen halten vermutlich sehr viel mehr potentielle Gewalttäter davon ab, ihrer Aggression freien Lauf zu lassen. Nur ist hier von Ideologie selten die Rede. Nicht stattfindende Bluttaten sind auch zumeist nicht im Fokus reflektierenden Nachdenkens.

Ein Vektor-Modell von Ideologie

Die hier gelieferte Fokussierung auf Terror ist aber eher als extremes Symptom zu verstehen, denn Ideologien, religiöse Überzeugungen und politische Positionen sind durchaus als Kräfte zu identifizieren, die zu konkretem Handeln führen können. Die Beurteilung, welche Ideologie zu welchem Verhalten führt, und in welchem Maß dieser Impuls wirkt, ist keine triviale Frage, aber es erscheint wenig plausibel, diesen Zusammenhang grundsätzlich zu bezweifeln. Die Beobachtung, dass auch andere Faktoren das Handeln im Allgemeinen und die des Terroristen im Besonderen beeinflussen, gibt noch keine Auskunft über das Zusammenspiel der Kräfte und deren jeweiligen Wirksamkeit. Es lohnt sich aber, die Inhalte zu analysieren und eine Wirksamkeit von Appellen, die von einer Ideologie ausgehen, grundsätzlich für gegeben zu halten.

Eine Modellvorstellung wäre, den Menschen als Punkt in der Ebene anzusehen, unterschiedliche Motive ließen sich als Vektoren darstellen, wobei die Richtung die Inhalte darstellen und die Länge die Stärke des Motivs. Aus dem Vektorenbündel entstehen auch gegensätzliche Motive. Bewusste Entscheidungen können sich so neben unbewussten Trieben als Vektoren abbilden lassen. Negative Impulse, z.B. aus der Emotionalität, könnten durch Ideologie neutralisiert oder verstärkt wirken. Die Richtung wohin sich der Mensch bewegt, ist dann Ergebnis des Spiels der Vektoren. Jene Vektoren sind bezüglich der Handlungsrelevanz grundsätzlich vergleichbar, unterscheiden sich aber in vielerlei Hinsicht. So sind Verletzungen und Taumata nicht einfach per Beschluss zu entkräften. Wohl aber kann das Philosophieren, also das Nachdenken über Sinn und Welt, bzw. die Adaption dritter Ideologien sehr wohl Kräfte unterschiedlicher Richtung und Stärke entfalten. Hier haben wir die einfachste Möglichkeit, als Stellglied das Verhalten von uns selbst und anderer Menschen zu beeinflussen. Philososphie, Reflektion und politisches Nachdenken sind Möglichkeiten der Entwicklung. Aber ohne Betrachtung der Inhalte werden alle Richtungen, also auch zum Guten oder Bösen, möglich.

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