Das Thema der Willensfreiheit ist bedeutsam in der Philosophie und des Glaubens. Denn es entzündet sich daran die Frage, was denn der Mensch sei. Ist er eine eigene moralische Instanz oder nur Spielball anderer Kräfte?
Für den Naturalisten ist die Frage nach der Seele und der Eigenständigkeit des Menschen eher fremd. Viele versuchen die naturalistische Einflüsse auf das Denken als vollständig anzusehen. Nichts bleibt dann vom Menschen, als ein triebgesteuertes Tier, dass sich zusätzlich ein moralisches Bewusstsein als Illusion leistet. Kann dann der Mensch selbst schuld sein? Dies wurde bereits diskutiert in Ungewissheit, Ungehorsam und der freie Wille und Keine Sternstunde der Willensfreiheit.
Hier aber wollen wir im Besonderen dies im Licht des christlichen Glaubens betrachten, zumal ein denkwürdiger Disput bereits vor 500 Jahren stattfand, der zwischen Erasmus von Rotterdam und Martin Luther in zwei Aufsätzen erschien und sich erstaunlich modern anfühlt. 1524 verfasste Erasmus die Schrift ‚Vom freien Willen‘ (Original De libero arbitrio) , der auch heute noch in Klarheit zu folgen ist. Luther erwidert mit seiner Schrift ‚Vom unfreien Willen‘ 1525.
Der Argumente sind es viele und es ist notwendig, diese detailliert zu betrachten. Man mag es als eine anstrengende akademische Übung ablehnen, für mich ist es jedoch hilfreich zur Erkenntnis der eigenen Überzeugungen, die sich daran schärft.
Kontrahenten, Stil und Meinungspluralismus
In den jeweiligen Vorreden nehmen Beide Bezug aufeinander. Vor dem vorgetragenen Streit waren Beide respektvoll und schätzten die Leistungen des Anderen, aber nach der Schrift von Martin Luther mag man nicht an einen Fortbestand der Freundschaft glauben.
„Eine unmögliche Sache Erasmus wagt es, sich mit Luther zu messen, eine Fliege mit einem Elefanten?“
Erasmus von Rotterdam ‚Vom freien Willen‘ S.10
… will ich im Augenblick nur dieses vorweg sagen, daß ich tatsächlich niemals auf die Worte Luthers geschworen habe. Daher hätte niemand es für unziemend halten dürfen, wenn ich kein Hehl daraus gemacht habe, daß ich hier und da anderer Meinung bin als jener, wozu ich natürlich schon deshalb berechtigt bin, weil ich ein Mensch bin so gut wie er, der auch nur ein Mensch ist; es ist also durchaus kein Frevel, über einen seiner Glaubensgrundsätze zu streiten, besonders nicht, wenn jemand, um die Wahrheit zu ermitteln, ihm mit einer maßvollen wissenschaftlichen Untersuchung entgegentritt. Ich glaube, daß
sicherlich Luther selbst sich nicht gekränkt fühlen wird, wenn jemand hier oder da anderer Meinung ist als er, gestattet er doch sich selber, nicht nur gegen die Entscheidungen aller Lehrer der Kirche, sondern auch gegen die aller Schulen, Konzilien und Päpste Berufung einzulegen.
Aus Erasmus Vorrede ist klar, dass er sich auf das Thema bezieht, aber den Respekt gegen Luther, den er offensichtlich schätzt, nicht beschädigen will. Dies bekräftigt er auch im weiteren.
Damit nun niemand unseren Kampf mißverstehe, als ginge es bei uns zu wie bei aufeinander gehetzten Gladiatoren, [die jede Blöße des Gegners auszunutzen suchen] will ich nur gegen einen einzigen seiner Glaubensgrundsätze streiten, wobei ich nichts anderes bezwecke, als durch den folgenden Widerstreit von Schriftstellen und Beweisen nach Möglichkeit die Wahrheit zu erhellen, die zu erforschen stets etwas sehr Ehrenvolles gewesen ist. Dabei wird es ohne Schmähungen abgehen, denn so dürfte es sich für Christen ziemen, oder sagen wir: so wird mit größerer Gewißheit die Wahrheit gefunden, die bei maßlosem Zanken einem oft entgeht.
Erasmus von Rotterdam S.11
Das Prinzip – in der Sache hart, im Ton verbindlich – stieß bei Luther auf wenig Gegenliebe, denn Luther beharrte auf seinen Anspruch, die Wahrheit ohne Vorbehalt für sich zu beanspruchen. Er hat nur die verächtlichste Zuordnung zu Erasmus Darlegung übrig.
[zu: das unüberwindliche Buch Philipp Melanchthons, die Loci theologici]
‚Vom unfreien Willen‘ S.1
Wenn ich Deine Schrift damit verglich, wurde sie mir so verächtlich und gering, dass ich Dich heftig bemitleidete, der Du Deine treffliche und kunstvolle Schreibweise mit solchem Schmutz befleckst, und mich über den ganz unwürdigen Gegenstand entrüstete, welcher mit so kostbarem Schmuck der Beredsamkeit vorgeführt wurde, so als ob man Kehricht oder Kot in goldenen oder silbernen Schüsseln auftrüge.
Und weiter:
Offenbar mahnte Dich Dein Gewissen, dass mir kein blauer Dunst vorgemacht werden könnte, wenn Du auch mit noch so viel Kraft der Beredsamkeit das Unternehmen versuchtest, so dass ich den eigentlichen Unrat wahrnehmen würde, wenn ich die verführerischen Worte entfernte. Wenn ich auch in der Redekunst unerfahren bin, so bin ich doch durch die Gnade Gottes in der Erkenntnis der Dinge nicht unerfahren. So wage ich mit Paulus (2. Kor. 11, 6) mir die Erkenntnis zuzusprechen und sie Dir zuversichtlich abzusprechen
‚Vom unfreien Willen‘ S.1
Diese Unversöhnlichkeit Luthers erscheint dagegen eher als Kriegserklärung denn als eine sachliche Diskussion. Dennoch wollen wir prüfen, ob an Luthers Darlegung mehr dran sei als ein Ausfluss von Gift und Galle. Es wirkt überheblich, wenn Luther beansprucht, in gleicher Weise wie Paulus über die Erkenntnis exklusiv zu verfügen. Im Besonderen, da der Kontext sich bei Paulus auf den Kern des Evangeliums bezieht, nicht auf die Frage der Willensfreiheit:
Denn wenn einer zu euch kommt und einen andern Jesus predigt, den wir nicht gepredigt haben, oder ihr einen andern Geist empfangt, den ihr nicht empfangen habt, oder ein anderes Evangelium, das ihr nicht angenommen habt, so ertragt ihr das recht gern!
2. Korinther 11,4
Wie Erasmus im weiteren zeigt, bezieht er seine Argumentation auf gerade Jesus und Paulus, so dass Luther hier lediglich einen unredlichen Anspruch vorträgt.
Vor allem entzündet sich Luther an folgendem, in dem er sich den Schuh anzieht, den Erasmus ihm keineswegs direkt bezichtigt … aber durch seine Reaktion den Verdacht des Erasmus nährt.
Feste Behauptungen und die Ungewissheit
Und so groß ist mein Mißvergnügen an festen Behauptungen, daß ich unbedenklich mich der Ansicht der Skeptiker anzuschließen pflege, wo immer es die unverletzliche Autorität der Heiligen Schrift und die Entscheidungen der Kirche erlauben, denen ich mein Urteil in allen Stücken gern unterordne, einerlei, ob ich ihre Anordnungen verstehe oder nicht. Übrigens gönne ich diese Naturanlage mir lieber ab die, mit der ich gewisse Leute so behaftet sehe, daß sie — einer Meinung maßlos ergeben — nichts ertragen, was von ihr abweicht, vielmehr alles, was sie in der Heiligen Schrift lesen, verdrehen, bis es ihnen zur Bestätigung ihrer Meinung dient, der sie sich einmal verschrieben haben;
Erasmus von Rotterdam, S. 11
Die Vorsicht vor festen Behauptungen ist allerdings nur allzu begründet. Nicht nur die altgriechische Philosophie und die entsprechende Erkenntnistheorie bis hin zu Popper geben Erasmus recht, sondern die Bibel selbst mahnt zur Vorsicht hinsichtlich der eigenen Erkenntnis:
9 Denn unser Wissen ist Stückwerk und unser prophetisches Reden ist Stückwerk. 10 Wenn aber kommen wird das Vollkommene, so wird das Stückwerk aufhören. 11 Als ich ein Kind war, da redete ich wie ein Kind und dachte wie ein Kind und war klug wie ein Kind; als ich aber ein Mann wurde, tat ich ab, was kindlich war. 12 Wir sehen jetzt durch einen Spiegel in einem dunklen Bild; dann aber von Angesicht zu Angesicht. Jetzt erkenne ich stückweise; dann aber werde ich erkennen, gleichwie ich erkannt bin.
1. Korinther 13
Das sagt nun Paulus, den beide als Autorität anerkennen. Wenn unser Erkennen also stets unter diesem Vorbehalt steht, ist eine Vorsicht im Sinne der Wahrheit unabdingbar. Es entspricht auch dem Wesen das Glaubens.
1 Es ist aber der Glaube eine feste Zuversicht dessen, was man hofft, und ein Nichtzweifeln an dem, was man nicht sieht. 2 In diesem Glauben haben die Alten Gottes Zeugnis empfangen. 3 Durch den Glauben erkennen wir, dass die Welt durch Gottes Wort geschaffen ist, dass alles, was man sieht, aus nichts geworden ist.
Hebräer 11
Dies besagt, dass sich der Glaube eben nicht auf zwingende Beweise oder den Augenschein stützen kann, sondern ein Bekenntnis und Vertrauen ist. Dieses kann aber, wie vielfältig belegt, auch dem Irrtum anheim fallen. Denn viele Glaubensinhalte widersprechen einander und können nicht in gleicher Weise wahr sein. Der Glaube bedarf darum weniger den Starrsinn einmal getroffener Entscheidungen, sondern die Demut, sich auch korrigieren zu lassen.
19 Den Geist löscht nicht aus. 20 Prophetische Rede verachtet nicht. 21 Prüft aber alles und das Gute behaltet.
1. Thessalonicher 5
Paulus zeigt hier die Problematik, dass sowohl eine pauschale Ablehnung einer Offenbarung, als auch deren unkritische Akzeptanz in die Irre führt. Entsprechend ist der Schritt des Glaubens nicht nur in Zuversicht, sondern stets in gesundem Selbstzweifel und Prüfung. Die Kritik an Erasmus scheint allerdings hinreichend berechtigt zu sein, wenn er die Bibel und die Schriften der Kirche als unhinterfragbar darstellt, obwohl Paulus hier keine Einschränkungen macht über das, was zu prüfen ist.
Luther lehnt den Gedanken der radikalen Prüfung und des Irrtumsvorbehalts trotz klarer biblischer Worte und offensichtlicher Erfahrung ebenso ab.
Jenen nämlich, welche den Geist aus unseren Schriften zum Lehrer genommen haben, ist reichlich von uns gedient, und sie werden Deine Argumente leichtlich verachten. Die aber, welche ohne den Geist Gottes lesen, bei denen muss man sich nicht wundern, wenn sie durch jeden Wind, wie das Schilfrohr, bewegt werden
‚Vom unfreien Willen‘ S.2
Luther spielt hier auf Epheser 4,14 an. Was aber der vermeintlichen Unmündigkeit geschuldet ist und der betrügerischen Lehre, oder was das notwendige Korrektiv des Guten ist, kann nicht ohne Prüfung entschieden werden. Den Selbstanspruch, eigene Erkenntnis und Lehre als unfehlbar der Kritik zu entziehen, erscheint dagegen anmaßend.
Schweigen will ich einstweilen davon, dass Du – Dir darin immer ähnlich – hartnäckig darauf achtest, nur ja nirgendwo nicht aalglatt und zweideutig zu sein, und vorsichtiger als Odysseus zwischen Scylla und Charybdis zu segeln scheinst. Während Du nichts sicher behaupten willst, willst Du dennoch als jemand erscheinen, der solche sicheren Behauptungen aufstellt.
‚Vom unfreien Willen‘ S.2
Offensichtlich schweigt Luther nicht, sondern bleibt in substanzloser Polemik. Natürlich mahnt die neutestamentliche Dialektik zum Abwägen zwischen Extremen, die jeweils in die Irre führen. Es ehrt dagegen Erasmus, wenn er die Irrtümer allseitig zu vermeiden sucht.
Luther hat das Prinzip, dass es einen klaren Kern des Bekenntnisses gibt, dann aber Lehren, die diesen unterschiedlich erläutern, wohl kaum zu unterscheiden gewusst. Gerade da es seit den ersten Christen bereits theologische Auseinandersetzungen und Meinungsverschiedenheiten gibt, die oft die christliche Einheit im Geiste in Frage stellen, wäre ein konzilianteres Vorgehen dem Geiste weit dienlicher. Luther aber schreibt:
Aber ich darf auch nicht dulden, dass Du – wenn auch in bester Meinung – dieser irrigen Ansicht huldigst. Denn das ist nicht Christenart, sich nicht an festen Ansichten zu freuen, Man muss vielmehr an festen Meinungen seine Freude haben oder man wird kein Christ sein.
‚Vom unfreien Willen‘ S.3
…
Im übrigen haben wir weder Erasmus noch irgend einen anderen Lehrer nötig, der uns belehre, dass in zweifelhaften oder unnützen und unnötigen Dingen feste Behauptungen, Kämpfe und Streitigkeiten darum nicht nur töricht, sondern auch unfromm seien;
Paulus argumentiert dagegen stets auf die Mitte, nämlich Jesus Christus hin – dem Glauben an Ihn ist zu dienen und sich nicht in Rechthaberei und Parteiungen zu verzetteln. Vergleiche 1. Korinther 3,4ff
… oder dass Du im Wahnwitz eines gottlosen Schriftstellers behaupten möchtest, dass der Artikel vom freien Willen zweifelhaft oder nicht notwendig sei.
‚Vom unfreien Willen‘ S.3
Die Frage nach der Willensfreiheit hat im Lichte der Bibel tatsächlich weit geringere Relevanz als es diese Diskussion vermuten lässt. Faktisch verhalten sich auch ausnahmslos jene, die die Willensfreiheit verneinen so, als ob sie jene Willensfreiheit praktizieren. Die Bibel diskutiert das Thema an vielen Stellen auch eher implizit in unterschiedlichen Kontexten. Luthers Ansicht, dass es sich hier um einen zentralen Lehrpunkt handele, ist durch die Bibel eben nicht gedeckt.
Luther will seine Ansicht durch die Bibel belegen:
Ferne seien von uns Christen die Skeptiker, nahe aber seien uns die, welche mit äußerster Hartnäckigkeit ihre festen Meinungen vertreten. Wie oft, frage ich, fordert der Apostel Paulus jene Plerophorie, das heißt eine ganz sichere und feste Behauptung des Gewissens? Röm. 10, 10 nennt er sie ein Bekenntnis: „Mit dem Munde erfolgt das Bekenntnis zur Seligkeit.“ Und Christus sagt Mt. 10, 32: „Wer mich bekennt vor den Menschen, den werde auch ich bekennen vor meinem Vater-“ Petrus befiehlt 1. Petrus 3, 15 Rechenschaft abzulegen von der Hoffnung, die in uns ist.
‚Vom unfreien Willen‘ S.4
Auch hier zeigt Luther, dass er nicht zu unterscheiden weiß zwischen dem Kern der Lehre und vielfältigen Varianten der Auslegung, als ob er selbst durch seinen theologischen Streit nicht gerade die Einheit des Geistes in Zweifel zieht. Es steht der Demut und dem Erkenntnisvorbehalt nicht gut an, nur seine eigene Meinung auch in allen Ausprägungen für normativ zu halten. Luther reitet auf dieser Ansicht wortreich herum und verstrickt sich immer tiefer in unhaltbare Positionen, die eine Selbstreflektion ausschließen. Erasmus dagegen lässt andere Ansichten stehen, ohne diese kritiklos zu akzeptieren, sondern diese als mögliche, aber fehlbare Ansichten zu diskutieren.
Luthers verzweifelter Versuch der Ungewissheit durch dogmatische Setzung zu entgehen, wird hier deutlich:
So wird vielmehr ein Christ sprechen: Ich habe so wenig Gefallen an der Meinung der Skeptiker, dass ich, wo es auch immer wegen der Schwäche des Fleisches nur möglich wäre, nicht allein durch die heilige Schrift beständig überall in allen Stücken fest gebunden und durch sie gewiss gemacht werden möchte, ja ich wünschte auch, in den nicht notwendigen und außerhalb der Schrift gelegenen Dingen so sicher wie irgend möglich zu sein. Denn was ist elender als die Ungewissheit ?
‚Vom unfreien Willen‘ S.5
Es ist unbestreitbar, dass die Bibel geradezu durchdrungen ist von einer Dialektik, die eben nicht die Ungewissheit vernichtet, sondern diese uns zumutet. In wesentlichen Dingen des Heils bleibt die Bibel klar, aber in deren Deutung zieht sich der theologische Streit wie ein roter Faden durch die Kirchengeschichte. Wenn man von der Selbstoffenbarung Gottes ausgeht und diese in der Bibel dokumentiert sieht, ist vielmehr davon auszugehen, dass die Ungewissheit in vielen Fragen konstitutiv, ja gottgewollt ist. Das entbindet keineswegs vom Ringen um das rechte Verständnis, führt aber in die Demut des Irrtumsvorbehalts. Der Versuch, die Ungewissheit mit menschlicher Autorität – für die jedoch göttliche Autorität reklamiert wird – und einer starren Dogmatik aufzulösen, widerstrebt dem Geist der Bibel, die gerade nicht diesen Weg gegangen ist. Viel mehr gleicht sie der Beobachtung der Physik, die in der Heisenbergschen Unschärferelation die subatomaren Teilchen nicht exakt verorten kann, aber deren Existenz gerade darin belegt.
Es wäre fatal, die Ansicht Luthers als rein zeitbezogen zu entschuldigen. Denn auch vor Luther wurde dieser Geist nicht nur in der Bibel klar erkannt. Auch Platon gibt in seinen Aporien bereits die Struktur der Erkenntnis vor, die man durchaus im Einklang mit der biblischen Offenbarung verstehen kann. Nicht nur Erasmus belegt, dass diese Einsicht nicht ein spätes Erkennen der Neuzeit erfordert.
Luthers beste Entschuldigung seiner Entgleisung liegt in der Beobachtung, dass es angesichts der nahezu undurchdringlichen dogmatischen Verstrickung der Kirche vor Luther eines groben Klotzes bedurfte, um jene Verkrustung aufzubrechen. Unter diesem Vorbehalt ist aber Luther nicht als eine überzeitliche Autorität in Lehrfragen anzusehen, sondern als jemand, der auch heute noch Impulse setzen kann und unser Denken zur Selbstreflektion auffordert – wollen wir doch nicht den gleichen Fallstricken wie Luther anheim fallen.
Luther ergeht sich über mehrere Seiten in Aussagen, die man einerseits als Ausdruck seines tiefen Glaubens schätzen kann, die aber stets ein problematisches Verhältnis zur Erkenntnis zeigt. So auch hier:
es gibt auch eine doppelte Klarheit der Schrift, so wie auch eine doppelte Dunkelheit, eine äußere, durch die Hilfe des Wortes geschaffen, eine andere in der Erkenntnis des Herzens gelegen. Wenn Du von der inneren Klarheit sprichst, so wird kein Mensch eines einzigen Buchstabens in der Schrift gewahr, wenn er nicht den Geist Gottes besitzt. Alle haben ein verfinstertes Herz, so dass sie, wenn sie auch alles, was in der Schrift steht, zu sagen und vorzubringen wissen, nichts davon wahrnehmen oder erkennen.
‚Vom unfreien Willen‘ S. 8
So sehr wohl jeder Christ dem weitgehend zustimmen mag, so unklar bleibt auch diese Bemerkung. Denn die Beobachtungen an sich selbst und anderen lässt fragen, wie weit man den Geist Gottes ‚besitzen‘ kann. Durch die Liebe Gottes kann man durchaus die Hoffnung hegen, dass der Geist Gottes einen jeden Menschen erleuchten kann, dass aber viele ein offensichtlich finsteres Leben führen. Angesichts dessen, dass es viele Irrlehrer gibt, die den Geist Gottes für sich beanspruchen, über ihn aber nicht gleichzeitig verfügen können, in dem sie sich widersprechen, sind Zweifel an der Rechtmäßigkeit des Anspruches grundsätzlich unabdingbar. So sehr die Hoffnung auf die Erleuchtung berechtigte Sehnsucht bleibt, so wenig sind Ansprüche darauf zu rechtfertigen. Und es bleibt darum ein eher irreführendes Kriterium, von sich selbst jene Erleuchtung im Gegensatz zu Dritten zu behaupten, wenn dies nicht von klaren Argumenten im konkreten Punkt gedeckt wird.
Paulus, dem nicht nur Luther und Erasmus einer besonderen Offenbarung teilhaftig halten, sagt es dagegen so:
Nicht, dass ich’s schon ergriffen habe oder schon vollkommen sei; ich jage ihm aber nach, ob ich’s wohl ergreifen könnte, weil ich von Christus Jesus ergriffen bin.
Philipper 3,12
Es steht keinem Christen wohl an, auch nicht Luther, Ansprüche darüber hinaus zu vertreten, sondern in Demut die Gaben annehmen, die man erhalten hat und den Vorbehalt des Irrtums nicht leichtfertig beiseite zu schieben.
Luthers Text bleibt weitgehend unstrukturiert über die 61 Seiten und folgt punktuellen Aussagen aus dem wohl strukturierten Text des Erasmus. Im Folgenden werden wir der Ordnung von Erasmus folgen und die Argumente Luthers dazu suchen. Denn diese Sorgfalt ist erforderlich, um den nur allzu oft zutreffenden Verdacht Erasmus‘ zu begegnen:
… wie Leuten, die sich im Streit erhitzen, alles, was gerade zur Hand ist, sei es ein Krug oder sei es ein Teller, sich in ein Wurfgeschoß verwandelt. Ist — so frage ich — von Leuten, die sich in einem solchen Zustande befinden, ein unparteiisches Urteil zu erwarten?
‚Vom freien Willen‘ (Original De libero arbitrio) S. 11
Oder: was kommt bei Wortgefechten dieser Art anderes heraus, als daß beide Teilnehmer beleidigt auseinandergehen? Stets nämlich wird es wer weiß wieviele Leute von der Art geben, wie der Apostel Petrus sie beschreibt: Ungelehrige und Leichtfertige , die zu ihrer eigenen Verdammnis die Schrift verdrehen.
Diesen Geist der Demut sehe ich durchaus bei Erasmus, wenn dieser schreibt:
Wenn ich mir auch zutraue, verstanden zu haben, was Luther zur Sache sagt, so kann ich mich doch irren; deshalb will ich nur untersuchen, nicht richten, nur prüfen, nicht entscheiden, bereit, von jedem beliebigen zu lernen, wenn etwas Richtigeres oder Zuverlässigeres vorgebracht werden sollte
‚Vom freien Willen‘ (Original De libero arbitrio) S. 12
Erasmus bezieht sich darin auf einen vorlaufenden Text – Assertio – Luthers, der hier nicht direkt vorliegt. Vereinfachend gehen wir davon aus, dass dieser im Wesentlichen dem hier zitierten späteren Text entspricht.
Erasmus Grundeinstellung
Luther wirft Erasmus vieles vor, so dass der unbedarfte Leser – der nur Luthers Schrift kennt – annehmen muss, dass Erasmus eher ein gelehrter Sophist als ein gläubiger Christ sei. Darum ist es wichtig zu erkennen, dass Erasmus nicht primär die Sicht eines skeptischen Philosophen vertritt, sondern im Glauben fest verwurzelt ist.
Folgendes jedenfalls erfahren wir nach meiner Ansicht hinsichtlich des freien Willens aus der Heiligen Schrift: befinden wir uns auf dem Wege der Frömmigkeit, so sollen wir freudig voranschreiten zum Besseren und an das, was hinter uns liegt, nicht mehr denken; sind wir in Sünden hineingeraten, so sollen wir mit aller Kraft herauszukommen trachten, das Heilmittel der Buße auf uns nehmen und uns auf jede Weise bemühen um die Barmherzigkeit des Herrn, ohne die weder der Wille des Menschen noch sein Streben wirksam ist; alles Böse sollen wir uns selber zurechnen, alles Gute dagegen gänzlich der göttlichen Gnade zuschreiben, der wir auch das sogar verdanken, was wir sind; im übrigen sollen wir glauben, daß alles, was uns in diesem Leben widerfährt, sei es erfreulich oder betrübend, zu unserm Heil von Gott verursacht worden ist und daß keinem Unrecht geschehen kann durch ihn, der von Natur gerecht ist, mag uns gleich etwa treffen, was wir nicht verdient zn haben scheinen; und niemand soll verzweifeln an der Vergebung seitens des von Natur unendlich gnädigen Gottes. Dieses zu wissen, so wollte ich sagen, genügt meines Erachtens zur christlichen Frömmigkeit
‚Vom freien Willen‘ (Original De libero arbitrio) S. 13
Diese Zusammenfassung entspricht sehr gut dem Neuen Testament. Jeden Satz kann man ohne Schwierigkeit belegen. Darüber hinausgehende Fragen zum freien Willen seinen dagegen wenig zielführend:
… man hätte nicht mit unfrommer Neugierde eindringen sollen in jene abgründigen, um nicht zu sagen: überflüssigen Fragen, ob Gottes Vorherwissen mit einer Nicht-Notwendigkeit [menschlichen Tuns] vereinbar ist, ob der menschliche Wille etwas beitragen kann zu dem, was Einfluß hat auf unser ewiges Heil, oder ob er nur hinnehmen muß die handelnde Gnade und ob wir alles, was wir tun, Gutes wie Böses, aus reiner Notwendigkeit tun oder vielmehr erleiden.
‚Vom freien Willen‘ (Original De libero arbitrio) S. 14
Gerade von dieser nachvollziehbaren Grundeinstellung fühlte sich Luther nun aufs Äußerste provoziert, denn er verteidigte seine Ansicht heftig, dass des Menschen Wille bedeutungslos im Hinblick auf die Gnade und Beziehung zu Gott sei. Allerdings fragt sich, ob Luther den Text auch nur halbwegs verstanden hat, oder ob er ihn als vermeintlichen rhetorischen Kunstgriff verdreht (Strohmann-Argument). Nach seitenlangen Vorwürfen kaum nachvollziehbarer Gedankenketten, die vor Überheblichkeit nur strotzen, schreibt er:
Es ist also auch dies vor allen Dingen notwendig und heilsam für den Christen, zu wissen, dass Gott nichts zufällig vorherweiß, sondern dass er alles mit unwandelbarem, ewigem und unfehlbarem Willen sowohl vorhersieht, sich vornimmt und ausführt. Durch diesen Donnerschlag wird der freie Wille zu Boden gestreckt und ganz und gar zermalmt. Deshalb müssen die, welche den freien Willen wollen behauptet haben, diese schlagende Erkenntnis entweder verneinen oder verleugnen oder auf irgendeine andere Weise von sich schaffen.
‚Vom unfreien Willen‘ S. 12
Luther betreibt hier bei einem kleingeistigen Logikfehler, der aus einem Vorherwissen Gottes die Freiheit des Menschen bestreitet. Dies beruht auf einem eingeschränkten Verständnis von Zeit und Ewigkeit, die Luther offensichtlich nicht reflektiert. Wenn Gott denn außerhalb des Zeitlaufes steht, er aber von dem Ergebnis einer freien Entscheidung Kenntnis hat, schränkt dies in keiner Weise die Freiheit des Entscheidenden ein. Es gäbe aus dieser Sicht kein ‚Vorherwissen‘, denn Gott unterliegt keinem vorher und nachher – Gott schuf die Zeit, um unseren Entscheidungen Freiheit zu geben. Würde der Mensch zu einer anderen Entscheidung seines Willens kommen, so wäre dies Gott nicht verborgen, denn er ’sähe‘ aus einer anderen Dimension als den Zeitlauf, der nur unser Denken unterwirft. Luther macht Gott klein in seiner Vorstellung, Gott wäre an den Zeitlauf gebunden, und darum müsse er ihn vollständig bestimmen. Allein die bloße Möglichkeit, dass die alternative Darstellung weit zutreffender sei als die simplifizierende Ansicht Luthers, zeigt, dass sein vermeintlicher Schluss auf vagen Ansichten beruht, mit der er Gottes Sein und Wirken seinen Vorstellungen gemäß einzuschränken versucht.
Kurz: Die Argumente Luthers basieren auf zweifelhaften Prämissen.
Luther fährt fort:
Wenn also dies gottesfürchtig, fromm und heilsam von Gott bestimmt ausgesagt werden kann, wie Du schreibst, was ist dann über Dich gekommen, dass Du, im Widerspruch zu Dir selbst, jetzt behauptest, es sei unfromm, neugierig und nichtig zu sagen, dass Gott alles mit Notwendigkeit vorherwisse? Man höre nur: Du predigst dass man lernen müsse, Gottes Wille sei unveränderlich, zu wissen, dass sein Vorherwissen unveränderlich sei, verbietest Du aber. Oder glaubst Du, dass er etwas vorherweiß, ohne es zu wollen, oder dass er etwas will, ohne es zu wissen?
‚Vom unfreien Willen‘ S. 12f
Wollen wir annehmen, dass Luther nicht in böser Absicht die Worte des Erasmus verdreht, sondern lediglich sein Unverständnis präsentiert. Erasmus hat dies weder gesagt noch impliziert, sondern eingeräumt, dass er die Wege Gottes nicht durchdringen kann. Vielmehr können wir aus der Bibel erkennen, dass Gott den Menschen nach seinem Bilde schuf und ihn zur Freiheit berief. Dies passt nicht zur Vorstellung, dass der Mensch ohne eigenen Einfluss ein Drehbuch Gottes abarbeiten sollte.
Erasmus meinte, dass es allerlei Dispute um theologische Fragen gab, die eben nicht einer einfachen Klärung zugänglich sind und die darum nicht ausdiskutiert werden müssten, sondern deren Offenheit stehen gelassen werden sollten. Dies ist sicherlich weise, denn diese Fragen können nur mit spekulativen Modellen behandelt werden, die sich unserer Vorstellungskraft entziehen.
Ich frage: was ist aus diesen mühevollen Untersuchungen bisher herausgekommen, außer daß wir eine große Einbuße an Eintracht erfahren haben und weniger lieben, während wir allzuviel Wert darauf legen, verständig zu sein ?
‚Vom freien Willen‘ (Original De libero arbitrio) S. 14
Luther wollte das nicht akzeptieren, sondern beharrte darauf, dass es eindeutige Klärungen in diesen Fragen gäbe, obwohl er aus der Geschichte und seinen eigenen Disputen wissen müsste, dass viele Fragen sich nicht eindeutig, sondern nur in Selbstüberhöhunung klären lassen, indem man Wahrheit und Heiligen Geist exklusiv für sich in Anspruch nimmt.
Darum, Du und alle Sophisten: bringt irgendein einziges Geheimnis heran, das bis jetzt in der Schrift noch dunkel ist. Dass aber vielen vieles dunkel bleibt, das liegt nicht an der Dunkelheit der Schrift, sondern an der Blindheit und Beschränktheit jener, die sich nicht bemühen, die ganze klare Wahrheit der Schrift zu sehen
‚Vom unfreien Willen‘ S. 8
Tatsächlich nannte Erasmus mehrere ungeklärte theologische Streitfragen, wobei er eben nicht den Sophisten gleich auf eine bestimmte Spitzfindigkeit hinaus wollte, sondern deren Bedeutungslosigkeit für den Kern des Glaubens konstatierte. Luther versuchte erfolglos, all diese Fragen als beantwortet erscheinen zu lassen, aber er erklärte sie nicht, z.B. was denn nun die unvergebliche Sünde sei. Sicher kann man dazu Auslegungen wagen, aber es wäre vermessen, diese als exklusiv richtig darzustellen, da die Bibel das nicht hergibt und andere zu anderen Auslegungen gekommen sind.
Luther stilisiert die Streitfrage nach der Willensfreiheit jedoch zur Schicksalsfrage hoch:
Wenn diese Artikel nicht als notwendig und zuverlässig erkannt sind, bleibt weder Gott noch Christus noch das Evangelium, noch der Glaube noch irgend etwas anderes übrig, nicht einmal etwas vom Judentum, noch viel weniger vom Christentum!
‚Vom unfreien Willen‘ S. 9
Verwunderlich ist diese Einstellung, da sie offensichtlich keine unzweideutige Klarheit in der Bibel finden lässt und hier unterschiedliche Auslegungen aufeinander prallen. Eine nachvollziehbare Begründung sucht man bei Luther vergeblich. Luther schreckt nicht zurück, die Gnade Gottes von Christus und dem Geist zu trennen.
Diese Deine Worte, ohne Christus, ohne Geist, kälter als das Eis selbst, so dass sogar der Glanz Deiner Beredsamkeit den Fehler in ihnen hinnehmen muss
‚Vom unfreien Willen‘ S. 9
Diese erstaunliche Attacke auf Erasmus schreibt Luther, nachdem jener schrieb: ‚… auf jede Weise bemühen um die Barmherzigkeit des Herrn, ohne die weder der Wille des Menschen noch sein Streben wirksam ist; alles Böse sollen wir uns selber zurechnen, alles Gute dagegen gänzlich der göttlichen Gnade zuschreiben, der wir auch
das sogar verdanken, was wir sind‚ … als ob Luther nicht mehr dem dreieinen Gott dienen wollte.
Erasmus zeigt die Mäßigung als Form der Weisheit, die sich einem nicht zielführendem Unterfangen versagt.
So gibt es gewisse Irrtümer, die man besser nicht beachtet, statt noch größeres Unheil anzurichten, indem man sie auszumerzen versucht.
‚Vom freien Willen‘ (Original De libero arbitrio) S. 15
Paulus kennt einen Unterschied zwischen dem, was erlaubt ist, und dem, was dienlich ist. Es ist erlaubt, die Wahrheit zu sagen, doch die Wahrheit ist nicht jedem, noch zu jeder Zeit und in jeder Form dienlich.
Hier geht es eben nicht um Rechthaberei, sondern um das Bedenken der Konsequenzen und der Frage, ob es hilfreich sei, diese Argumente zu vertreten.
Das Kernproblem eines vermeintlich unfreien Willens
Nehmen wir also einmal an, es sei in irgend einem Sinne wahr — was Wiklif gelehrt und Luther bekräftigt hat — daß alles was wir tun, nicht aus freiem Willen, sondern aus reiner Notwendigkeit geschehe: was könnte unzweckmäßiger sein als die öffentliche Bekanntgabe dieser widersinnigen Behauptung?
‚Vom freien Willen‘ (Original De libero arbitrio) S. 16
An unzähligen Stellen in der Bibel wird an den Menschen appelliert, sich zu Gott zu bekehren und dem Guten zuzuwenden. Wenn es denn nicht seine Entscheidung und seines Willens bedürfte … was wäre es nutze? Immerhin beobachten wir, dass sich Menschen bekehren, andere nicht. Auch die Selbstwahrnehmung lässt den Menschen sich als entscheidungsfähig über das, was er wolle, erfahren. Erasmus bringt das stärkste Argument zugunsten der Willensfreiheit vor:
Nehmen wir zweitens an, daß in irgend einem Sinne wahr sei, was irgendwo Augustin geschrieben hat, daß nämlich Gott Gutes wie Böses in uns wirke, daß er also für seine guten Werke uns belohne und für seine bösen Werke uns bestrafe. Welch ein großes Fenster würde die Bekanntgabe dieser Meinung unzähligen Menschen zur Gottlosigkeit öffnen, zumal da die Menschen durchweg geistig schwerfällig und beschränkt, dazu boshaft und ohnehin zu jedem gottlosen Frevel unverbesserlich geneigt sind. Welcher Schwache würde hinfort noch aushalten den dauernden und mühevollen Kampf gegen das eigene Fleisch ? Welcher Böse würde hinfort noch sein Leben zu bessern trachten? Wer könnte sich überwinden, von ganzem Herzen einen Gott zu lieben, der die Hölle heizte mit ewiger Pein, um dort für seine eigenen Missetaten armselige Menschen zu bestrafen, als freute er sich an ihren Foltern ?
‚Vom freien Willen‘ (Original De libero arbitrio) S. 16
Das bestechende Argument Erasmus ist nun vom Ende her gedacht, ohne die sachliche Ursache der Behauptung zu klären. Dies ist ein Kunstgriff, denn wenn die ursprüngliche Behauptung, dass Gott letztlich auch für die bösen Taten verantwortlich sei, nicht sicher vorab zu klären ist, so zeigt doch der Blick auf die Wirkung deren Unsinnigkeit … es sei denn, man wolle seinen eigenen Untaten rechtfertigen.
Diese Methode entspricht der Kohärenztheorie der Wahrheit, in der die Wahrheit nicht stets unmittelbar in Korrespondenz zur Wirklichkeit erkannt wird, sondern sich im Kontext der sich jeweils ergebenden Sätze geprüft wird.
Luther macht seitenlange Unterstellungen, die lediglich sein Unverständnis in der Sache zeigen, verweigert aber das Bedenken der Konsequenzen:
Deshalb sage ich Dir und bitte Dich, Dir das ganz fest ins Herz zu schreiben, dass es mir in dieser Frage um. eine ernsthafte, notwendige und ewige Sache gellt, so groß und so wichtig, dass sie auch unter Hingabe des Lebens behauptet und verteidigt werden muss, und wenn die ganze Welt darob nicht nur in Unfriede und Aufruhr versetzt, sondern auch ganz in ein einziges Chaos zusammengestürzt und vernichtet werden sollte
Luther meint, dass die Konsequenzen seines Glaubens völlig unwichtig seien. Er scheint das Ziel des Evangeliums, die Menschen zu erretten und das Heil zu bringen, völlig aus den Augen zu verlieren und mit der Lehre vom unfreien Willen die Liebe Gottes zu ersetzen. Nach endlos erscheinenden Ausschweifungen und Unterstellungen sagt Luther:
So wie Du müßte der sprechen, der sich einbildete, dass der lebendige Gott nichts anderes sei als irgendein leichtfertiger und törichter Schwätzer, der auf irgendeinem Rednerpodium einen Vortrag hält und dessen Worte man, wenn man wollte, in beliebiger Hinsicht auslegen, annehmen und ablehnen könnte, je nach dem Maße, in dem man sieht, dass jene gottlosen Menschen davon bewegt oder beeindruckt werden.
‚Vom unfreien Willen‘ S. 21
Luther hat völlig aus den Augen verloren, dass Jesus nichts vom unfreien Willen lehrte, sondern die Menschen zur Umkehr von ihrem bösen Tun auf rief und das sie dem Doppelgebot der Liebe folgen wollten. Luthers Projektionen bleiben hier substanzlos, denn die Lehre vom unfreien Willen ist lediglich eine fragwürdige Herleitungen aus einer selektiven Auswahl von Schriftstellen.
Wer, sagst Du, wird sich ernstlich bemühen, sein Leben zu bessern? Darauf antworte ich: Kein einziger Mensch. Und keiner wird auch (von sich aus) dazu imstande sein denn Deine sogenannten „Verbesserer“, die ohne den Geist Gottes sind, interessieren Gott gar nicht, weil sie Heuchler sind. Die Auserwählten und die Frommen aber werden durch den heiligen Geist gebessert werden, die übrigen werden ungebessert zu Grunde gehen. Denn Augustin sagt nämlich auch nicht, dass keines oder aller Menschen gute Werke belohnt werden, sondern: „einiger“, so dass es nicht gar keiner sein wird, der sein Leben besserte.
‚Vom unfreien Willen‘ S. 21f
…
Was aber nun das betrifft, dass durch diese Lehren der Gottlosigkeit Raum eröffnet wird so sei es so. Jene mögen zu dem Aussatz gehören. von dem oben gesagt wurde, dass er das zu ertragende Übel sei.
Mit Irritation wird sich jeder fragen, warum Jesus überhaupt zur Umkehr rief. Er predigte zu Tausenden und nach ihm zahllose seiner Nachfolger, auch Luther. Sie appellierten an den Willen und das Gewissen der Menschen, das sehr wohl vom Guten weiß, auch wenn es darin fehlt, wahrhaftig gut zu werden. Das Pauschalurteil an Dritte, dass jene Heuchler seien, lässt eher an das Jesuswort erinnern: „Richtet nicht, auf das ihr nicht gerichtet werdet.“ Mt 7,1
Errettung und Demut, Furcht und Liebe
Luthers Erwählungslehre scheint nicht mit dem Evangelium vereinbar, denn …
3 Dies ist gut und wohlgefällig vor Gott, unserm Heiland, 4 welcher will, dass alle Menschen gerettet werden und sie zur Erkenntnis der Wahrheit kommen.
1. Timotheus 2
Wenn sie aber gesagt bekommen, dass es auf ihren Willen und ihre Entscheidung nicht ankommt, … was werden sie tun? Kann es sein, dass Luther seine Schriftkenntnis verlässt wenn er nicht an dieses denkt?
1 Er sprach aber zu seinen Jüngern: Es ist unmöglich, dass keine Verführungen kommen; aber weh dem, durch den sie kommen! 2 Es wäre besser für ihn, dass man einen Mühlstein um seinen Hals hängte und würfe ihn ins Meer, als dass er einen dieser Kleinen zum Bösen verführt.
Lukas 17
Die Position Luthers zum unfreien Willen ist nicht durchdacht. Wäre seine Annahme zutreffend, so wäre es kein Unterschied ob der Frevler mit oder ohne diese Lehre den Frevel beginge, ja … es wäre gar nicht möglich, dieser Lehre zu folgen oder sie zu verwerfen, es sei denn Gott hätte es so gewollt. Aller Eifer, den Luther in der Sache aufbringt, folgte dann nur der Notwendigkeit Gottes Plans, ebenso wie die vermeintliche Fehler, die er Erasmus vorwirft. Luther erginge sich in letztlich bedeutungslosem Theaterdonner. Sein Glaube wäre dann nur eine vorgegebene Emotion, ebenso wie der Verbrecher ’seinen‘ bösen Taten folgt. Die Predigt Luthers würde demnach nichts bewirken, was nicht ohnehin geschehen solle …
… aber Luthers Reden und Verhalten wirkt so, als ob er den freien Willen bei sich und anderen unterstellte.
Gott verheißt den Demütigen, das heißt denen, die an sich verzweifelt sind und sich aufgegeben haben, mit Bestimmtheit seine Gnade. Ganz und gar aber kann sich kein Mensch eher demütigen, bis dass er weiß, dass seine Seligkeit vollständig außerhalb seiner Kräfte, Absichten, Bemühungen, seines Willens und seiner Werke gänzlich von dem Belieben, Beschluß, Willen und der Tat eines anderen, nämlich Gottes allein, abhänge.
‚Vom unfreien Willen‘ S. 22
Dieses Demütigung, die wohl kaum anders als vollständige Unterwerfung zu verstehen ist, führt aber bei so manchem anderen zum Widerstand bis hin zum Märtyrertod. Was also ist es anderes als sein Wille, der hier den Unterschied macht? Viel mehr erinnert dieser Gedanke der vollständigen Selbstaufgabe weniger an das Christentum, das ja Liebe zu Gott aus freien Stücken als Antwort auf die Liebe Gottes fordert, als an den Islam, dessen Kern ebenso die Unterwerfung ist. Das Ziel des Menschen ist im Neuen Testament auch weit weniger seine eigene Seligkeit, die aus Angst vor dem Verderben angestrebt wird, sondern die Liebe, die um Gottes Willen überragend ist. Die Seligkeit des Christen ist darin nur ein Nebenprodukt.
Wie kann denn der Mensch, der sich nur um das Wissen seiner Ohnmacht Gott unterwirft, zu einer solchen Liebe kommen? Und wäre die vermeintliche Einsicht in die eigene Ohnmacht nicht ebenso eine Willensentscheidung, denn Märtyrer haben diese Ohnmacht nie akzeptiert? Wäre die Unterwerfung unter Gott anstelle eines menschlichen Machthabers lediglich durch den Glauben zu unterscheiden, dass die künftige Seligkeit schwerer wiegt als das irdische Leben? Offensichtlich entscheiden sich Menschen für das Eine oder das Andere. Sicher aber entscheiden sich viele Menschen, diesem Glauben Luthers nicht zu folgen, dennoch aber Gott mit ganzem Herzen zu lieben.
Man mag einwenden, dass Jesus wiederholt vor der Verdammnis warnte und damit die Menschen zur Umkehr rief. Auch Paulus schreibt: ’schaffet, dass ihr selig werdet, mit Furcht und Zittern.‚ Phil 2,12 … allerdings passt auch der letzte Appell nicht zum unfreien Willen und der Lehre Luthers.
Nicht wenige fragen sich, ob wir hier beim Kern des Evangeliums sind, oder ob dies nur die Brechstange ist, mit der eine vernagelte Tür aufzustemmen ist.
Furcht ist nicht in der Liebe, sondern die vollkommene Liebe treibt die Furcht aus. Denn die Furcht rechnet mit Strafe; wer sich aber fürchtet, der ist nicht vollkommen in der Liebe.
1. Johannes 4,18
Denn Gott hat uns nicht gegeben den Geist der Furcht, sondern der Kraft und der Liebe und der Besonnenheit.
2. Timotheus 1,7
Diese Textstellen zeigen, dass die Bibel der Auslegung und Einordnung bedarf und dass man keineswegs mit Luther meinen könnte, alles wäre offensichtlich und völlig klar. Dies mag es sein für jemanden, der zu einer Deutung gekommen ist, aber die unbestreitbare Tatsache bleibt, dass Dritte hier zu anderen Deutungen kommen. So ist es für mich völlig klar, dass die Liebe in Freiheit das Herz des Evangeliums ist, auch wenn Luthers Überzeugung dem entgegen steht.
Es geht also um das Ringen in der Beziehung zu Gott, die verbunden ist mit dem einem zutreffenden Verständnis. Vergleiche den Kampf Jakobs am Jabbok – 1. Mose 32,25-30 . Mit Erasmus und Luther meine ich, dass dies nur mit und durch den Heiligen Geist möglich ist. Der Heilige Geist ist aber nicht im grundsätzlichen Gegensatz zu einer soliden Textarbeit und Nachdenken, denn der Verstand ist eine Gabe Gottes, die letztlich dazu dienen soll, zu Ihm zu finden. Aber das heißt nicht, dass ich oder ein anderer sich anmaßen kann, eine exklusive Deutung zu erlangen … dass steht alleine Gott zu, und den können wir nicht für uns exklusiv reklamieren, sondern nur stückweise erkennen unter dem Irrtumsvorbehalt.
Luthers Grundproblem
Wohl mag man Luther loben für sein Anliegen, dass es allein die Gnade Gottes sei, die uns errettet … aber er übersteigert dieses Prinzip, in dem er falsche Schlüsse zieht.
Wenn er nämlich im Vertrauen auf sich selbst bleibt – und das tut er so lange wie er sich einbildet, er vermöge auch noch so wenig für seine Seligkeit zu tun – und nicht von Grund auf an sich verzweifelt, so demütigt er sich deswegen nicht vor Gott, sondern vermutet oder hofft oder wünscht wenigstens Gelegenheit, Zeit oder irgendein gutes Werk, dadurch er dennoch zur Seligkeit gelange. Wer aber wirklich nicht daran zweifelt, dass alles vom Willen Gottes abhänge, der verzweifelt völlig an sich selbst, wählt nichts eigenes, sondern erwartet den alles wirkenden Gott. Der ist am nächsten der Gnade und der Seligkeit.
‚Vom unfreien Willen‘ S. 22
Für dieses Verständnis blendet Luther eine Vielzahl von Schriftstellen aus (s.o.) und behauptet irriger Weise, dass die willentliche Annahme der Gnade Gottes ein Werk sei, dessen sich jemand rühmen könne. Dies ist es nicht, denn die Annahme eines Geschenkes hat keinen Verdienst an sich oder schmälert den Wert des Geschenkes. Viel mehr ist es die Verachtung des Gebers der Gaben, also sowohl der Gabe des Evangeliums, als auch des eigenen Verstandes, wenn man die Gaben nicht in Demut einsetzen würde und sie fälschlich als eigene Leistung verstünde, unabhängig vom Geber.
Man mag Luther zu gute halten, dass er seine eigene Gotteserfahrung hier verarbeitet, in dem er die Gnade als überragend verstand, die ihn aus seiner Seelennot errettete. Dass Luther sich der Einsicht verweigert, dass es anderen Menschen eben nicht exakt wie ihm selbst ergeht, ist ihm aber sehr wohl anzulasten, denn nicht nur die Erfahrung, sondern viele Bibelstellen bezeugen dies.
Der Kopenhagener Kirchenhistoriker Leif Grane beurteilt es so:
Hinsichtlich De servo arbitrio verhält es sich so, daß Luther sich hier einer Auffassung gegenüber sieht, die ganz und gar auf scholastischer Grundlage beruht. Man hat oft gefragt, ob dies nicht fatale Folgen hatte und ihn in unvertretbare Positionen getrieben hat.
Leif Grane: Die Confessio Augustana, S. 147, UTB, 6. Auflage
Was aber dann bei Luther ab S.23 unten kommt, erscheint so abstoßend, dass es kaum kommentiert werden mag. Wir wollen uns lieber der Argumenten Erasmus zuwenden.
Erasmus zweite Vorrede
Welche Geistesgeschichte sich mit dem Thema der Willensfreiheit befasste will Erasmus nur kurz streifen und sich vor allem auf die Bibel beziehen, da Luther nur diese als Autorität anerkennt. Nach Nennung vieler prominenter Namen, die sehr wohl einen freien Willen beim Menschen erkannten, schließt er mit der Bemerkung:
Seit der Zeit der Apostel bis auf den heutigen Tag ist noch kein Schriftsteller hervorgetreten, der gänzlich das Vermögen des freien Willens gestrichen hätte. Dies taten nur der Manichäer** und Johannes Wiklif.
‚Vom freien Willen‘ (Original De libero arbitrio) S. 18
… nicht ohne auf die Fragilität des Konzeptes der festgefügten Notwendigkeit zu verweisen:
Wo aber läßt Wiklif, wenn er alles auf reine Notwendigkeit zurückführt, Raum für unsere Gebete oder für unser Streben ?
‚Vom freien Willen‘ (Original De libero arbitrio) S. 19
Allerdings will sich Erasmus nicht auf einen Autoritätsbeweis der Vielzahl der Gelehrten beziehen. Für ihn ist der vermeintliche Konsens zugunsten der Willensfreiheit kein schlagendes Argument.
Nicht daß ich — wie es bei Sitzungen geschieht — von der Zahl der Stimmen und vom Rang der Sprecher die Entscheidung abhängig machen möchte. Ich weiß: es kommt oft wirklich vor, daß die bessere Partei durch die größere überstimmt wird; ich weiß, daß es nicht immer das Beste ist, was den Beifall der Mehrheit findet; und ich weiß, daß es beim Erforschen der Wahrheit niemals schaden kann, wenn man seinerseits zum Fleiß seiner Vorgänger etwas hinzutut. Ich gebe zu, daß es recht ist, wenn die alleinige Autorität der Heiligen Schrift sämtliche Stimmen aller Sterblichen überstimmt. Doch wir streiten hier nicht um die Autorität der Heiligen Schrift. Dieselbe Heilige Schrift wird von beiden Parteien geliebt und verehrt. Um den Sinn der Heiligen Schrift geht unser Kampf.
‚Vom freien Willen‘ (Original De libero arbitrio) S. 19
Allerdings adressiert Erasmus sogleich ein mögliches Argument:
Ich höre den Einwand: „Wozu bedarf es eines Auslegers,
‚Vom freien Willen‘ (Original De libero arbitrio) S. 20
wenn die Heilige Schrift klar und verständlich ist?“ — Wenn sie
wirklich so klar und verständlich wäre, warum wären all die vielen
Jahrhunderte lang all die hervorragenden Leute hier wie blind gewesen, wo es sich gerade um etwas so Wichtiges handeln soll, wie
meine Gegner es angesehen haben wollen?
Erasmus verweist auf die Notwendigkeit, die Argumente und Auslegung zu prüfen, sieht aber das Problem des trennscharfen Kriteriums:
Wenn wir fragen, an welchem Merkmal denn die richtige Schriftauslegung zu erkennen sei, da doch auf beiden Seiten nur Menschen stehen, antworten sie: „am Merkmal des Heiligen Geistes“. Fragt man, warum der Heilige Geist gerade der Seite gefehlt haben sollte, von der einige auch durch Wundertaten weltberühmt geworden sind, und nicht ihnen selbst, dann antworten sie, als hätte es während vieler hundert Jahre kein Evangelium in der Welt gegeben.
‚Vom freien Willen‘ (Original De libero arbitrio) S. 22
…
Wenn man dann bestreitet, daß die Schrift sich klar und verständlich zu unserer Sache äußert, in der so viele ausgezeichnete Männer blind gewesen sein sollen, dann hat man sich vollends im Kreise bewegt.
Erasmus kann kein sicheres Kriterium finden, mit dem man den Heiligen Geist sicher von ähnlich lautenden Ansprüchen unterscheiden kann, die aber anderes behaupten.
ich für mein Teil maße mir weder eine besondere Lehre noch eine besondere Heiligkeit an noch verlasse ich mich auf meinen Geistbesitz; ich will jedoch mit schlichter Emsigkeit zur Sprache bringen, was mich innerlich bewegt. Sollte jemand es unternehmen, mich zu belehren, dann würde ich mich wissentlich der Wahrheit nicht widersetzen. Sollten meine Gegner es aber vorziehen, mich zu schmähen, obwohl ich höflich und ohne Schmähungen mehr vergleiche als streite, dann dürfte jeder bei ihnen den Geist des Evangeliums vermissen, von dem sie ständig reden.
‚Vom freien Willen‘ (Original De libero arbitrio) S. 23
Erasmus beansprucht damit keine besondere Autorität, sondern setzt auf die Kraft des Arguments, dessen Vorläufigkeit er jedoch betont. Schließlich kommt er zum Ausgangspunkt einer biblischen Untersuchung und Auslegung:
Es kann zunächst nicht bestritten werden, daß es in der Heiligen Schrift sehr viele Stellen gibt, die offensichtlich einen freien Willen des Menschen feststellen, und daß es in ebenderselben andererseits einige gibt, die ihn augenscheinlich gänzlich vernichten. Es steht aber fest, daß die Heilige Schrift sich nicht selber widersprechen kann, da sie in allen ihren Teilen vom gleichen Geist ausgeht.
‚Vom freien Willen‘ (Original De libero arbitrio) S. 23
Bevor Erasmus die jeweiligen Schriftbeweise diskutiert, setzt er eine Begriffsdefinition.
Unter freiem Willen verstehen wir in diesem Zusammenhang das Vermögen des menschlichen Willens, mit dem der Mensch sich dem, was zur ewigen Seligkeit führt, zuwenden oder von ihm abwenden kann
‚Vom freien Willen‘ (Original De libero arbitrio) S. 24
Biblische Auslegung
In seiner Grundhaltung dürfte Erasmus eher Luther nahe stehen als es moderne Ausleger tun:
Unser Urteilsvermögen — einerlei, ob wir es als Nus, d. h. als Denkkraft, Verstand oder lieber als Logos, d. h. als Vernunft bezeichnen wollen — ist durch die Sünde verdunkelt, nicht ausgelöscht worden; unser Wille als ein Vermögen zu wählen und zu meiden ist bis zu dem Grade verderbt worden, daß er durch seine natürlichen Hilfsmittel nicht wieder besser werden kann, sondern seine Freiheit verloren hat und genötigt ist, der Sünde zu dienen, der er sich willentlich einmal verschrieben hat. Doch durch die Gnade Gottes, die ihm die Sünde vergeben hat, ist er bis zu dem Grade wieder frei geworden,
‚Vom freien Willen‘ (Original De libero arbitrio) S. 25
In diesem konservativen Verständnis fährt er fort, das allerdings nicht mehr dem Luthers entspricht
daß er sein Heil Gott zu verdanken hat, der den freien Willen sowohl geschaffen als auch wiederhergestellt hat, und daß — wie die Rechtgläubigen lehren — infolge der ständig gegenwärtigen Hilfe der göttlichen Gnade der Mensch in rechter Beschaffenheit zu streben fortfahren kann, ohne indessen frei zu sein von einer Geneigtheit zum Bösen, die von den Überresten der einmal eingewurzelten Sünde herrührt.
‚Vom freien Willen‘ (Original De libero arbitrio) S. 26
Erasmus bezieht dies auf den Sündenfall (1. Mose 3), der nach seinem Verständnis die Geneigtheit zur Sünde begründet, aber durch die Gnade abgeschwächt wird. Der Vollständigkeit halber erwähne ich hier die Deutung des Sündenfalls als Gleichniserzählung, die nicht generisch das Sein des Menschen bestimmt, sondern seine Geneigtheit illustriert. Aber das ist nicht der Ansatz von Erasmus und auch nicht der von Luther.
Was das Auge für den Leib, das ist die Vernunft für die Seele. Die Vernunft wird teils erleuchtet durch das Licht der natürlichen Gotteserkenntnis, die allen Menschen — wenn auch nicht in gleichem Maße — angeboren ist
‚Vom freien Willen‘ (Original De libero arbitrio) S. 26
Der Beleg für eine natürliche Gotteserkenntnis ist bei Erasmus zunächst schwach. Besser ist:
19 Denn was man von Gott erkennen kann, ist unter ihnen offenbar; denn Gott hat es ihnen offenbart. 20 Denn sein unsichtbares Wesen – das ist seine ewige Kraft und Gottheit – wird seit der Schöpfung der Welt, wenn man es mit Vernunft wahrnimmt, an seinen Werken ersehen. Darum haben sie keine Entschuldigung.
Römer 1,19ff
Der Wille stößt auf die Forderung des Gesetzes, bzw. der Moral, die wir gemäß der Bibel aber nicht vollständig erfüllen können.
Das Gesetz des Glaubens, das zwar noch schwierigere Gebote gibt als das Gesetz der Werke, macht dennoch, wenn die Gnadenfülle hinzukommt, das an sich Unmögliche sogar angenehm, nicht nur leicht. Der Glaube also heilt die Vernunft, die durch die Sünde zu Schaden gekommen ist; und die Liebe hilft dem geschwächten Willen voran.
‚Vom freien Willen‘ (Original De libero arbitrio) S. 27
Erasmus sieht die Willensfreiheit zwar eingeschränkt, aber darin doch noch bestehen.
Obwohl nämlich die Willensfreiheit durch die Sünde eine Wunde empfangen hat, ist sie nicht tot; obwohl sie sich eine Lähmung zugezogen hat, so daß wir vor dem Empfang der Gnade geneigter zum Bösen als zum Guten sind, ist sie nicht vernichtet; nur trüben ungeheuerliche Verbrechen oder zur zweiten Natur gewordene Gewohnheitssünden gelegentlich dermaßen das Urteil des Verstandes und verschütten dermaßen die Freiheit des Willens, daß jenes vernichtet und diese tot zu sein scheint.
‚Vom freien Willen‘ (Original De libero arbitrio) S. 28
…
Wer Verzweiflung oder auch falsche Sicherheit verhüten und dabei den Menschen zu Hoffnung und Streben anspornen wollte, der hat gewöhnlich den freien Willen überschätzt.
Erasmus sieht den freien Willen als Gnade Gottes an:
die göttliche Güte gebe nämlich jedem einzelnen in diesem Leben günstige Gelegenheiten zur Reue; man brauche nur den Rest seines Willens an die Hilfe der Gottheit anzuschließen, die zum Besseren gleichsam einlade, nicht zwinge. Ferner wird die Meinung vertreten, es stehe in unserem Belieben, unseren Willen zur Gnade hinzuwenden oder von ihr abzuwenden, wie es in unserem Belieben stehe, wenn ein Licht hereingetragen wird, die Augen zu öffnen und wiederum zu schließen.
‚Vom freien Willen‘ (Original De libero arbitrio) S. 31
Erasmus bezieht sich auf die Lehren mancher Personen, die in der Gnade vier Arten unterscheiden. Laut Anmerkungen meint er wohl Augustin
und Thomas von Aquino, deren Ansichten Erasmus aber wenig zutreffend beschrieben habe, sondern eher eine Projektion des Erasmus sei.
Die Meinung dieser Leute scheint ganz annehmbar zu sein, denn sie läßt dem Menschen die Möglichkeit, sich strebend zu bemühen, und läßt ihm trotzdem nichts, was er seiner eigenen Kraft zuschreiben dürfte.
‚Vom freien Willen‘ (Original De libero arbitrio) S. 32
Erasmus führt 5.Mose 30,15-19 auf:
was der Herr zu Mose sagt: Ich habe dir vorgelegt den Weg des Lebens und den Weg des Todes. Wähle das Gute und folge ihm!
‚Vom freien Willen‘ (Original De libero arbitrio) S. 34
Konnte es noch deutlicher gesagt werden ?
…
Hier hört man nochmals etwas von „zur Wahl gestellt sein“, „wählen“ und „sich abwenden“, lauter Worte, die unangebracht wären, wenn der Wille des Menschen nicht auch frei wäre zum Guten, sondern nur zum Bösen.
Ich denke, dass diese Stelle ein zwingender Beweis für die Willensfreiheit aus biblischer Sicht ist. Ähnlich lautende Stellen bei Jesaja, Sacharja und Hesekiel werden aufgeführt. Mit Bezug zu Psalm34:
Leuten, die auf keine Weise ihres Willens mächtig wären, sänge jener mystische* Psalmist vergeblich sein Lied: ‚Laß ab vom Bösen und tue Gutes; suche Frieden und jage ihm nach!‘
‚Vom freien Willen‘ (Original De libero arbitrio) S. 36
…
Die Heilige Schrift bezweckt doch fast nichts anderes als Bekehrung, Eifer und Besserung. All diese Ermahnungen müßten ihren Sinn verlieren, wenn wirklich beim gut wie beim böse Handeln nur Notwendigkeit in Frage käme.
Nicht minder müßten sinnlos werden all die vielen Verheißungen,
Drohungen, Vorhaltungen, Vorwürfe, Beschwörungen, Segensworte und Flüche, die ein williges oder auch nicht ein williges Ohr
gefunden haben
Neutestamentliche Beweisstellen für den freien Willen
Erasmus zeigt, das vieles auch im NT keinen Sinn ergäbe, wäre der Wille unfrei, mit bestechender Logik:
Da begegnet uns zuerst eine Stelle aus dem Evangelium, in der Christus die Zerstörung der Stadt Jerusalem beweint und spricht:
Jerusalem , Jerusalem , die du tötest die Propheten und steinigst die zu dir Gesandten , wie oft habe ich dich sammeln wollen , wie eine Henne ihre Küchlein unter ihre Flügel sammelt; aber du hast nicht gewollt. Hätte nicht, wenn alles aus Notwendigkeit geschieht, Jerusalem mit Recht dem weinenden Herrn antworten können: „Warum quälst du dich mit vergeblichem Weinen? Wenn es dein Wille war, daß wir auf die Propheten nicht hören sollten, warum hast du sie gesandt? Warum rechnest du uns zu, was du willentlich getan hast, während wir nur aus Notwendigkeit gehandelt haben? Du hast uns zwar sammeln wollen, aber du hast dies nicht auch in uns gewollt, hast vielmehr in uns gerade bewirkt, daß wir nicht gewollt haben.“ —
Nun aber beschuldigen die Worte des Herrn nicht eine in den Juden wirkende Notwendigkeit, sondern ihren schlechten und widerspenstigen Willen: Ich habe dich sammeln wollen , aber du hast nicht gewollt.Nochmals heißt es an anderer Stelle: ‚Willst du ins Leben, eingehen , so halte die Gebote! ‚ Mit welcher Miene würde man zu jemand, dessen Wille nicht frei ist, sagen: willst du ? Desgleichen: Willst du vollkommen sein , so gehe hin und verkaufe . . .!
‚Vom freien Willen‘ (Original De libero arbitrio) S. 39
Desgleichen Luk.9,23: Will jemand mir nachfolgen , so verleugne er sich selbst und nehme sein Kreuz auf sich und folge mir nach .
Und so geht es in einer Vielzahl von Stellen weiter, bis er schreibt:
Doch wir wollen dem Leser nicht lästig fallen durch Herzählung sämtlicher derartigen Stellen: die sind in solcher Unzahl vorhanden, daß sie leicht von selber einem jeden begegnen.
‚Vom freien Willen‘ (Original De libero arbitrio) S. 41
Aber dennoch fährt Erasmus bis Seite 45 fort, Belegstellen aufzulisten, bei der bereits eine hinreichende Beweiskraft hätte.
Angesichts dieser erdrückenden Beweise wirkt es skurril, wie jemand behaupten könne, die Bibel würde den freien Willen bestreiten … im Besonderen, wenn die Person eine unbestrittene Bibelkenntnis hat.
Scheinbare Beweise gegen den freien Willen
Nun gibt es allerdings Schriftstellen, auf die jene verweisen, die den freien Willen verneinen. Erasmus betrachtet diese näher:
Die eine Stelle ist 2. Mose 9,12 und 16 und wird von Paulus Röm.9,14ff. behandelt: Doch der Herr verhärtet e (verstockte) das Herz des Pharao, so daß dieser nicht auf sie [die Boten Gottes] hörte . Und nochmals: Ich habe dich aber deswegen eingesetzt, um an dir meine Kraft zu beweisen und damit mein Name auf der ganzen Erde verkündet werde. Paulus erklärt dies, indem er eine ähnliche Stelle (2.Mose 33,19) anführt, folgendermaßen: Gott hat nämlich zu Mose gesagt: Ich will gnädig sein dem , dem ich gnädig sein will , und ich will mich dessen erbarmen , dessen ich mich erbarmen will. Demnach kommt es nicht an auf jemandes Wollen und Laufen , sondern auf Gottes Erbarmen.
‚Vom freien Willen‘ (Original De libero arbitrio) S. 46
Die zweite Stelle ist Mal. 1,2f. und wird von Paulus Rom.9,11 bis 13 behandelt: ,Ist nicht Esau der Bruder Jakobs gewesen?‘ spricht der Herr. ,Und doch habe ich Jakob geliebt , Esau aber gehaßt.‘
Paulus erklärt dies folgendermaßen:
Als sie nämlich noch nicht geboren waren noch nirgend etwas Gutes oder Böses getan hatten , schon da wurde — damit der nach freier Wahl getroffene Vorsatz Gottes bestehen bliebe — nicht auf Grund der Werke , sondern aus Veranlassung des Berufenden zu Rebekka gesagt,
der Ältere solle dem Jüngeren dienstbar sein , wie denn geschrieben steht: ,Jakob habe ich geliebt, Esau aber habe ich gehaßt.‘
Es wäre vermessen, wenn man hieraus ein Deutung ableiten würde, die sämtliche anderen Stellen außer Kraft setzen, die den freien Willen belegen. Auch ergibt sich das Problem, wenn man hier die Souveränität und seinen Ratschluss für unhinterfragbar hält, kann man schwerlich die Gerechtigkeit Gottes, seine Gnade und das Vertrauen auf diese begründen. Müsste dann nicht jeder Mensch in Verzweiflung sagen, dass Gott ihn ebenso hasse wie er Esau hasste oder den Pharao zum Verderben erschuf? Sehen wir, wie Erasmus dieses Problem behandelt. Erasmus zitiert Origenes im 3. Buche seiner Schrift „Von den Grundlehren“
er läßt zwar Gelegenheit zur Verhärtung von Gott gegeben sein, führt aber die Schuld auf Pharao zurück, den infolge seiner Bosheit das halsstarriger gemacht habe, was ihn zur Sinnesänderung hätte veranlassen sollen; wie nach demselben Regen gepflegtes Land die beste Frucht hervorbringt, ungepflegtes Land jedoch Dornen und Disteln, und wie von derselben Sonne Wachs weich und Lehm hart wird, so veranlasse die Milde Gottes, die den Sünder gewähren läßt, den einen zur Sinnesänderung, den anderen zur Verhärtung im Bösen. Gott erbarmt sich also dessen, der sich auf seine [Gottes] Güte besinnt und sich bessert. Verhärtet aber wird der, der zwar eine Frist bekommen hat zur Sinnesänderung, der sich aber um Gottes Güte nicht kümmert und noch schlechter wird. Eine Redewendung aber, die den als Täter bezeichnet, der Gelegenheit zu einer Tat gibt, weist Origenes nach zuerst im allgemeinen Sprachgebrauch: es sei üblich, daß ein Vater zu seinem Sohne sage, er habe ihn zugrunde gerichtet, weil er ihn bei einem Vergehen nicht sofort bestraft habe.
‚Vom freien Willen‘ (Original De libero arbitrio) S. 46
Erasmus weist nach Origenes auf weitere ähnliche Schriftstellen – Jesaja 63 und Jer.20,7 -, die ebenso dialogischen Charakter, nicht aber grundlegenden Charakter haben. M.E. ist dies eine eher schwache Erklärung, jedoch weit besser als alle denkbaren Alternativen.
Andernfalls, wenn der Pharao so, wie er war, von Gott geschaffen gewesen wäre, wäre er nicht gottlos gewesen, denn Gott sah alle seine Werke an und sie waren sehr gut. In Wirklichkeit aber ist der Pharao mit einem nach beiden Seiten beweglichen Willen erschaffen worden und hat sich aus eigenem Antrieb dem Bösen zugewandt, da er lieber seiner eigenen Neigung folgen als den Befehlen Gottes gehorchen wollte.
‚Vom freien Willen‘ (Original De libero arbitrio) S. 48
Dieser Bosheit des Pharao aber hat Gott sich zu seiner Ehre und zum Heile seines Volkes bedient — damit es desto besser offenbar würde, daß es vergebliche Mühe ist, wenn Menschen sich dem Willen Gottes widersetzen — wie ein kluger König oder Hausvater sich der Härte von Menschen, die ihm verhaßt sind, trotzdem bedient, um Bösewichte zu bestrafen.
Dieser durchaus stimmigen Auslegung nach wird hier nicht der freie Wille im Grundsatz bestritten, sondern die Wirksamkeit des Willens als letztlich entscheidend.
Wie er also die Absichten der Bösen zum Besten der Frommen lenkt, so erreichen auch die Absichten der Guten nicht ihr Ziel, wenn picht die unverdiente Gnade Gottes ihnen hilft. Dies eben ist es, was Paulus dazu sagt: Demnach kommt es nicht an auf jemandes Wollen und Laufen , sondern auf Gottes Erbarmen. Die Barmherzigkeit Gottes kommt unserem Willen zuvor, sie begleitet sein Streben und sie gibt den Erfolg. Trotzdem bleibt es dabei, daß wir wollen, laufen und ans Ziel gelangen, nur daß wir diesen unseren Anteil Gott zuschreiben sollen, dem wir mit allem, was wir sind, gehören.
‚Vom freien Willen‘ (Original De libero arbitrio) S. 49
Die Willensfreiheit wird nicht durch das Vorherwissen eingeschränkt:
Die schwierige Frage, wie Gottes Vorherwissen mit unserer Willensfreiheit vereinbar sei, ist viel erörtert worden, doch nach meiner Ansicht kaum von einem mit besserem Erfolg als von Laurentius Valla: Das Vorherwissen ist nicht Ursache dessen, was geschieht; begegnet es doch auch uns, daß wir vieles vorher wissen,
‚Vom freien Willen‘ (Original De libero arbitrio) S. 49
was geschehen wird: so tritt nicht deswegen eine Sonnenfinsternis ein, weil die Sternkundigen sie vorhersagen, sondern sie kann deswegen vorhergesagt werden, weil sie eintreten wird.
Dieses Argument bleibt aber unvollständig, denn sie legt eine starre, keine offene Zukunft nahe. Eine starre, festgeschriebene Zukunft aber würde sich kaum mit der Willensfreiheit vereinbaren lassen. Klar wird das Argument erst, wenn man die Zukunft aus unserer zeitlich bestimmten Sicht zu recht als offen erkennen, aber durch die überzeitliche Existenz Gottes diese Einschränkung nicht besteht. Prophetien, die auf die Zukunft gerichtet sind, legen demnach die Zukunft nicht fest, sondern verweisen auf Informationen, die nicht an unseren Zeitlauf gebunden sind und demnach auch kein ‚Vorherwissen‘ im engen Sinn ist. Nur eine selbsterfüllende Prophetie würde durch diese bedingt sein.
Schwieriger jedoch wird die Frage, wenn wir Gottes Willen oder festen Entschluß [die Prädestination] in Betracht ziehen.
‚Vom freien Willen‘ (Original De libero arbitrio) S. 49
Gott will nämlich dasselbe, was er vorher weiß. Denn irgendwie muß er das Vorhergewußte wollen, wenn er es nicht verhindert, obwohl er es verhindern könnte. Dies eben meint Paulus, wenn er dazu sagt:
Wer kann denn seinem Willen widerstehen, wenn er gnädig ist, wem er will , und wenn er verstockt , wen er will?
So würde nämlich auch, wenn ein König alles tun könnte, was er wollte, und niemand ihm zu widerstehen vermöchte, alles, was er will, ein Tun genannt werden. So scheint Gottes Wille, der ja von allem, was geschieht, die Grundursache ist, unserem Willen die Freiheit zu nehmen.
Dieses Problem ist nur bedingt als solches zu erkennen. Denn wenn Gott außerhalb des Zeitlaufes steht, so ist es eben kein Vorherwissen im engen Sinn – für Gott sind die Begriffe vorher und nachher nicht anwendbar. Wenn es vielmehr der Wille Gottes ist, den Menschen mit einem freien Willen als sein Ebenbild zu erschaffen, dann schränkt das nicht ein, sondern erfüllt gerade den Willen Gottes. Wenn man aber annimmt, dass es Gottes Plan ist, dass ein bestimmtes Ereignis eintrifft, so könnte er es mit oder gegen den Willen der Menschen erreichen. Gottes Allmacht könnte Wege finden, ohne den Willen des Menschen zu eliminieren.
Weit nach Erasmus wurde dieser Aspekt unter einem anderen Gesichtspunkt diskutiert. Die Theodizee wurde von Gottfried Leibniz 1710 gelöst: Die Welt sei „die beste aller möglichen Welten“ – womit natürlich nicht der Zustand der Welt gemeint sein kann, sondern seine Grundverfasstheit, da der Zustand einer Welt im Wandel, die den Menschen zu seiner Verbesserung herausfordert, nicht optimal sein kann. Leibniz Konzept will damit die Güte Gottes, seine Allmacht und sein Allwissen nicht beweisen, sondern zeigen, dass die Postulate der Güte Gottes, seiner Allmacht und seines Allwissen durchaus mit der beobachtbaren Welt im Einklang stehen. Denn einerseits muss eine Welt möglich sein und nicht an seinen inneren Widersprüchen zerbrechen. Dies ist weit schwieriger, als es simple Utopien zu sein versprechen. Das Funktionieren einer Welt reduziert die möglichen Freiheitsgrade erheblich. Z.B. ist die Feinabstimmung der kosmologischen Konstanten in einem extremen Maße präzise, bei der jede kleinste Abweichung zu einem Zusammenbruch des Kosmos führen würde.
Das Qualitätsurteil, die BESTE aller Lösungen zu sein, orientiert sich an dem Ziel, was mit der Welt erreicht werden soll. Bezogen auf das christliche Lehrgebäude, in dem Leibniz dachte, ist das zentrale Motiv die Liebe Gottes, der selbst die personifizierte Liebe ist. In diesem Sinn ist der freie, liebende Mensch in Gemeinschaft mit Gott das Ziel der Welt. Der Augenschein angesichts all des Leides und vielfältiger Übel scheint dem zu widersprechen, aber es wäre zu kurz gesprungen, würde man dies durch die radikale Eliminierung allen Böses auflösen wollen. Das Ergebnis wäre ein Schlaraffenland, indem die Menschen an Überdruss sterben würden. Dies nur zum Einstieg … der hier nicht weiter ausdiskutiert werden kann. In diesem Sinn wäre der Mensch, ausgestattet mit der Willensfreiheit, genau die Bedingung, die aus dem Willen Gottes fließt.
Erasmus weist aber auf einen bemerkenswerten Umstand des Wortes von Paulus hin:
Doch nicht diese Frage erörtert Paulus, sondern er beschwört den, der sie erörtern will: Lieber Mensch , wer bist du denn, daß du Widerrede gegen Gott erheben dürftest?
‚Vom freien Willen‘ (Original De libero arbitrio) S. 49
Er beschwört aber nur den, der unehrerbietig aufbegehrt. So mag wohl ein Herr zu seinem trotzköpfigen Diener sagen, er solle nach dem Grund des ihm erteilten Befehles nicht fragen, sondern ihn nur ausführen; und die Antwort des Herrn würde gewiß anders lauten, wenn ein verständiger und gutwilliger Diener bescheiden von ihm zu erfahren wünschte, warum er wolle, daß etwas geschehe, was scheinbar unzweckmäßig sei.
Auch hier zeit Erasmus, dass eine allzu plumpe Schriftauslegung zu falschen Ergebnissen kommen muss. Es hilft nicht, seine Denkfaulheit und mangelnde Selbstreflektion damit zu kaschieren, in dem man den Heiligen Geist zu besitzen vorgibt.
Erasmus zeigt, dass durch das Wissen Gottes um die freien Entscheidungen der Menschen sein Wille entsprochen werden kann. Ein gelenkter oder unfreier Wille folgt daraus nicht.
Die Schlechtigkeit einer Handlung aber geht nicht von Gott aus, sondern vom menschlichen Willen, nur daß man — wie schon erwähnt — sagen könnte, Gott bewirke die Schlechtigkeit des menschlichen Willens insofern, als er ihn sich selbst überlasse und ihn nicht durch seine Gnade zur Besinnung rufe. Einen Menschen zugrunde richten heißt dann: nicht verhindern, daß er zugrunde geht, obwohl man es verhindern könnte.
‚Vom freien Willen‘ (Original De libero arbitrio) S. 52
Wäre die nicht gerade Freiheit, dass der Mensch vor den negativen Konsequenzen seiner Entscheidung nicht bewahrt würde?
Aber auch für die vermeintliche Willkür, mit der Gott anscheinend zwischen Jakob und Esau unterschied, gibt es einen Erklärungsansatz:
Wenn Paulus dann noch das Wort aus Mal. 1,2 hinzufügt:
‚Vom freien Willen‘ (Original De libero arbitrio) S. 53
Jakob habe ich geliebt, Esau aber habe ich gehaßt,
dann darf man das nicht buchstäblich nehmen, denn Gott liebt weder, wie wir lieben, noch haßt er irgendwen; ihm sind derlei Leidenschaften wesensfremd. Außerdem — worauf ich hinauswollte — spricht der Prophet an dieser Stelle offenbar nicht von einem Haß, der Menschen auf ewig verdammt, sondern von einer zeitlichen Not, wie es auch gemeint ist, wenn vom Zorn oder vom Grimm Gottes geredet wird.
Ich denke, dass es vernünftig ist, hier von einer Gleichnisrede auszugehen, denn Die Beweggründe Gottes können wir nicht immer nachvollziehen. Denn wenn es an anderer Stelle heißt ‚Gott ist die Liebe‘ (1.Joh.), dann würde ansonsten ein Widerspruch entstehen. Eine Gleichnisrede würde dann aber wenig zum Wesen Gottes aussagen, aber die Entscheidungsprozesse für Menschen eher nachvollziehbar machen.
Im dritten Gegenargument werden Prophetenzitate – Jes.45,9 und Jer. 18,6 – vorgebacht:
Beide Prophetenzitate weisen das Volk zurecht, das gegen den Herrn aufbegehrte, weil es zu seiner Besserung heimgesucht werden sollte. Das gottlose Geschrei dieser Leute wird von dem Propheten gedämpft, so wie wir von Paulus gehört haben, daß er die gottlose Widerrede der Leute mit den Worten dämpft: 0 Mensch , wer bist du denn, . . . ? Hier handelt es sich nun aber um Fälle, in denen wir uns wirklich Gott so fügen sollen, wie feuchter Ton den Händen eines Töpfers gehorcht. Doch dadurch wird unser freier Wille nicht gänzlich aufgehoben; dadurch wird es auch nicht unmöglich gemacht, daß unser Wille mit dem göttlichen Willen zu unserem ewigen Heil zusammenwirkt. So folgt denn bei Jeremia auch bald die Ermahnung zur Buße; diese Stelle haben wir bereits angeführt. Es wäre eine zwecklose Mahnung, wenn alles aus Notwendigkeit geschähe.
‚Vom freien Willen‘ (Original De libero arbitrio) S. 54f
Die Ansicht, dass es sich um Argumente gegen den freien Willen handele, geht folglich nur durch Ignoranz des Kontextes. Gleichnisse haben einen Mittelungszweck, der aber nicht durch Überdehnung des Gleichnisses wirken kann.
Derlei Gleichnisse, wie die Schrift sie verwendet, sind sehr lehrreich; sie sind aber nicht in allen Stücken anwendbar. Es wäre doch wohl so töricht wie nur möglich, wenn jemand zu einem Nachtgeschirr von samischem Ton sagen wollte: „Wenn du dich sauber hältst, wirst du ein nützliches und edles Gefäß sein.“ Sinnvoll aber ist es, wenn dieses einem mit Vernunft begabten Gefäß gesagt wird, das auf Grund dieser Mahnung sich dem Willen des Herrn anpassen kann.
‚Vom freien Willen‘ (Original De libero arbitrio) S. 55
Denn sonst — wenn wirklich einfach der Mensch für Gott wäre, was der Ton in des Töpfers Hand ist — wäre niemand außer dem Töpfer für die Beschaffenheit des Gefäßes, wie die auch sei, verantwortlich zu machen, zumal wo es sich um einen Töpfer handelt, der nach seinem Willen auch den Ton sogar schafft und zusammensetzt. Da würde also ein Gefäß, das keiner Selbstbestimmung fähig ist und das deshalb unmöglich etwas verschuldet haben kann, ins ewige Feuer geworfen!
Legen wir demnach das Gleichnis so aus, wie der Zweck es verlangt, zu dem es eingeführt ist.
Im weiteren erläutert Erasmus mehrere weitere Gleichnisreden, bei denen es eine mangelhafte Auslegung wäre, wollte man daran am freien Willen zweifeln. Es ist stets Kontext und Mitteilungsabsicht zu beachten!
Phil.2,12 sagt Paulus: Schaffet euer Heil mit Furcht und Zittern !
‚Vom freien Willen‘ (Original De libero arbitrio) S. 57
1.Kor. 12,6 dagegen sagt ebenfalls Paulus: Es ist aber derselbe Gott, der alle s in allen wirkt.
Beweise dieser Art gibt es unzählige in der Heiligen Schrift. Wenn der Mensch nichts schaffen könnte, warum sagte der Apostel, daß wir schaffen sollen ?
und weiter:
Wenn der Mensch nun nichts zu tun vermöchte, dann wäre kein Raum für Verdienst und Schuld; und wo kein Raum für Verdienst und Schuld wäre, da wäre auch kein Raum für Strafe und Lohn. Wenn andererseits der Mensch das Ganze täte, dann wäre kein Raum für die Gnade, die Paulus sehr oft erwähnt und betont.
‚Vom freien Willen‘ (Original De libero arbitrio) S. 58f
Nicht kann sich widersprechen der Heilige Geist, durch dessen Eingebung die kanonischen Bücher der Heiligen Schrift entstanden sind. Deren unverletzliche Erhabenheit wird von beiden Parteien bejaht und anerkannt. Es muß vielmehr eine Auslegung gesucht werden, die den scheinbaren Widerspruch löst.
…
Nun aber sind die erwähnten Schriftstellen, die einander zu widerstreiten scheinen, leicht miteinander zu versöhnen, wenn man das Streben des menschlichen Willens mit der Hilfe der göttlichen Gnade in Verbindung bringt.
Es folgt eine umfangreiche Diskussion von einer Vielzahl von Schriftstellen, die angeblich den unfreien Willen belegen sollen. Allerdings zeigt Erasmus deutlich, dass es sich drin um falsche oder fragwürdige Auslegungen handelt, die keineswegs zum Beweis eines unfreien Willen taugen. Da die Darlegungen in sich überzeugend sind, sei auf den Ausgangstext verwiesen.
Erasmus sieht sehr wohl mit Paulus die Schwäche des Menschen, das Streben zum Guten zum Erfolg zu führen und verweist auf die Notwenigkeit des Heiligen Geistes, den Menschen in seiner Schwachheit zu helfen. Aber er wehrt sich gegen die Behauptung Luthers, dass diese Schwäche jegliches Streben des Menschen zum Guten wertlos sei.
Trotzdem ist nicht die ganze Beschaffenheit des Menschen Fleisch, sondern es gibt eine, die man Seele nennt, und es gibt eine, die man Geist nennt, vermöge dessen wir zum sittlich Guten emporstreben, einen Teil unseres inneren Vermögens, den man Vernunft oder das Hegemonikon, d. h. den führenden Teil nennt; oder soll man vielleicht annehmen, daß des Strebens zum sittlich Guten bar gewesen seien die Philosophen, die gelehrt haben, daß man tausendmal lieber in den Tod gehen als eine Schandtat verüben solle, auch wenn man wüßte, daß sie von Menschen nicht bemerkt und von Gott verziehen würde ?
‚Vom freien Willen‘ (Original De libero arbitrio) S. 61
… und weiter:
… will ich mich auf die Autorität der Kirchenväter berufen, die lehren, daß gewisse Keime des sittlich Guten von Natur im Menschen liegen und daß er infolgedessen irgendwie das sittlich Gute erkennt und erstrebt, obwohl gröbere Neigungen hinzukommen, die zum Gegenteil verlocken. Ferner biegt es bereits im Worte „Willkür“, daß ein Wille dieses und jenes küren kann. Mag dieser auch wegen der in uns verbliebenen Geneigtheit zur Sünde vielleicht mehr zum Bösen als zum Guten neigen, so wird doch niemand gegen seine Einwilligung zum Bösen gezwungen.
‚Vom freien Willen‘ (Original De libero arbitrio) S. 62
Es erstaunt geradezu, dass dies, was uns heutzutage selbstverständlich erscheint, so umfangreich zu Zeiten des Erasmus diskutiert werden musste. Aber auch heute gibt es außerhalb einer christlichen Diskussion heutzutage Stimmen, die die böse Tat stets auf Umstände, erzwungener psychische Disposition oder anderen Zwängen erläutern, die den Menschen geradezu schuldunfähig machen.
Von Beweisen dieser Art, wie Luther sie aus dem Buch der Sprüche vorbringt, könnte von überall her eine riesige Menge zusammengetragen werden; doch dies würde mehr der Häufung als dem Siege dienen. Derlei Beweise werden gewöhnlich von Rhetoren ins Treffen geführt. Sie sind nämlich meistens derartig, daß sie bei geeigneter Auslegung ebensogut auf Seiten des freien Willens stehen wie dem freien Willen widerstreiten können.
Für ein Wurfgeschoß des Achill und für unfehlbar treffend hält Luther, was Christus Joh. 15,5 sagt: Ohne mich könnt ihr nichts tun . — Jedoch nach meiner Meinung kann man diesem Geschoß auf mehr als eine Weise begegnen. Erstlich heißt allgemein „nichts tun können“: das nicht erreichen können, was man erstrebt, was aber nicht ausschließt, daß der Strebende in irgendeinem Sinne trotzdem vorankommt.
‚Vom freien Willen‘ (Original De libero arbitrio) S. 64
Dieser Redewendung bedient sich Paulus, wenn er sagt: Daher ist weder der etwas, der pflanzt, noch der, der begießt, sondern Gott, der das Wachstum gibt. Was sehr geringe Bedeutung und ohne Zutun eines anderen keinen Wert hat, das wird hier „nichts“ genannt.
‚Vom freien Willen‘ (Original De libero arbitrio) S. 65
…
Wollte man dagegen den Ausdruck „nichts “ pressen, dann
wäre es ohne Christus nicht einmal möglich zu sündigen
… wird fortgesetzt …