Tugend und Gesellschaftsentwicklung

Tugenden – oder allgemeiner gesprochen Werte – unterliegen der Beurteilung. Ein Einzelner mag eine Wertschätzung abweichend von der ihm umgebenden Gruppe abgeben. Dennoch bilden sich in einer Gesellschaft unscharfe Cluster heraus, die für deren Entwicklung eine prägende Rolle spielen. Am wirksamsten sind jene Tugenden und Werte, die als selbstverständlich etabliert sind. Aber ein Reflektion dieser vermag das Urteil zu verändern. Kurz: Wohl und Wehe der Zukunft liegt in den praktizierten Tugenden und Werten!

Das gilt dann für jede beliebige Gruppengröße. So mag ein Clan oder Stamm einen eigenen Codex herausbilden, eine religiöse Gemeinschaft, ein Staatsvolk oder Ethnie, oder ein grenzüberschreitender Kulturraum. Früher sprach man von deutschen Tugenden wie Fleiß, Pünktlichkeit und Zuverlässigkeit. Im Zeichen des Wertewandels gilt dies nun nicht nur als verpönt, sondern trifft auch weit weniger flächendeckend zu.

Wir betrachten nun die Hypothese, dass jene Herausbildung und Verflachung von Tugenden und Werten maßgeblich zu einer positiven oder negativen Gesellschaftsentwicklung führt.

Aristoteles springt zu kurz, wenn er die Tugend vorwiegend individuell betrachtet. Modern ist, grundsätzlich jede Kultur als gleichwertig zu erachten. Dennoch gibt es Migrationsbewegungen in attraktivere Kulturräume, die bei gleichwertigen Kulturen in diesem Umfang nicht zu erwarten wären. Es wäre zu einfach, dies nur auf die materiellen Faktoren zu beziehen, also Einkommen und Sicherheit, Gesundheitsvorsorge und Stabilität, denn diese Faktoren werden ja maßgeblich von der gesellschaftlichen Entwicklung beeinflusst.

Es ist offensichtlich, dass erstrebenswerter Wohlstand eine Motivation für eine Anstrengung bedeutet. Fällt diese Erwartung weg, weil alle nach Bedürfnis ihre Mittel erhalten, nicht aber nach Leistung, wird es aus Mangel an Motiven weit weniger Anstrengung geben. Der Erfinder oder Unternehmer wird motiviert werden, wenn er entgegen der Risiken auf einen Gewinn hoffen kann, in der Regel durch materiellen Gewinn, aber auch Anerkennung mag eine bedeutsame Entlohnung sein. Wird der Innovator aber auf starke konservative Gegenkräfte stoßen, wird weit weniger Bereitschaft zum Wagnis auf Neues bestehen. Impulse werden im Keim erstickt. Ohne Innovation wird aber kaum eine positive Entwicklung plausibel sein.

Im Besonderen die Wirtschaft und das damit verbundene Volkseinkommen kann bei Wachstum weitere Kräfte freisetzen, bei Schrumpfung und Subsistenz sind weit weniger Mittel vorhanden, Aufbrüche zu gestalten. Kulturelle und soziale Leistungen stehen im Kontext der Möglichkeiten. Der Künstler, dessen Kunst ihn nicht ernährt, der aber vollzeitlich seinen Lebensunterhalt anderweitig erarbeiten muss, wird weit weniger Kunst produzieren als anders möglich.

Kraftfelder

Wir können stets unterschiedliche Kräfte ausmachen, die oft antagonistisch wirken. Das Genie wird sich aus dem Verbund der Gruppe lösen, was mehr oder minder schmerzhaft sein kann. Erfindungsreichtum, Mut zum Wagnis, Fleiß, Beharrlichkeit … all das sind Tugenden für Systemveränderer. Aber die Gruppe wird dies keineswegs stets begrüßen. Nicht nur Schutz und Sicherheit bietet der soziale Verbund, sondern auch Anerkennung und emotionale Heimat. Wer sich daraus entfernt, als ‚Streber‘ geächtet wird, wird dies sicher nicht gerne in Kauf nehmen. Wird der Emporstrebende aber durch Akzeptanz und wirtschaftlichen Erfolg belohnt, wird er weit eher bereit sein, die Nachteile in Kauf zu nehmen.

Die Werte und Tugenden stellen somit jeweils Kraftfelder dar, die je nach Stärke und Ausprägung Motive für das Handeln bilden. Aber es wäre zu einfach, progressive Faktoren pauschal positiv zu bewerten, und konservative negativ. Denn eine Pflege und Sicherung des Erreichten bewahrt ebenso auch vor Werteverfall und schützt gegen Risiken, die zur Gefährdung einer positiven Richtung der Veränderung führt. Nicht zuletzt sollte man darum einen Ausgleich zwischen den unterschiedlichen Kräften suchen, die einerseits die Risiken zum Negativen minimiert, zugleich die Chancen auf eine wünschenswerte Entwicklung nicht verschließt. Herrscht einen Überhang an Konservativismus, gilt es die progressiven Kräfte zu fördern. Ist man zu sehr auf Entwicklung bedacht, ist es Gebot, die konservativen Aspekte zu stärken.

Das Problem dabei ist, dass die Wirkungen der Ausprägung und Beurteilung von Werten nicht leicht offensichtlich sind. Dies gilt viel mehr, wenn man Faktoren betrachtet, die den Wertemix, also die Kraftfelder verschiebt. Oft übersteigt es den Fokus der Konsequenzen, wenn man sich über einzelne Werte Gedanken macht.

So gilt der Eigennutz und Egoismus oft als Untugend, der Gemeinsinn und Solidarität dagegen als löblich – auch wenn praktisch das Eine mehr praktiziert wird als das Andere. Doch wie wirkt sich das auf die Gesellschaftsentwicklung aus? Wenn der Unternehmer zunächst als egoistischer Ausbeuter angesehen wird, wird es weniger Menschen geben, die sich in diese Rolle wagen und die Risiken auf sich nehmen. Wenn sie zusätzlich durch Gesetze und Auflagen so stark eingeschränkt werden, dass es kaum realistische Chancen des Nutzens gibt, wird es keine Ausbeutung, keinen Egoismus mehr geben, aber auch keine wachsende Arbeit und Einkommen, sondern wachsende Armut. Ayn Rand bezeichnete darum das Streben nach Eigennutz als Tugend.

Wird dagegen der Erfolgsmensch unabhängig von seiner sozialen Wirkungen gelobt, der wirtschaftliche Erfolg weit über alles andere stellt, wird das eine Gesellschaft der Ellenbogenmentalität fördern, in der viele Kräfte in der Absicherung und Behauptung verbraucht werden und das Innovationspotiential auch wieder abnimmt. Ein Optimum wird eher bei einem ausgeglichenen Verhältnis zu erwarten sein, in dem sowohl der Eigennutz als Triebkraft der Innovation und Entwicklung Kraft entfalten kann, ohne allerdings durch die negativen Aspekte das Sozialwesen zu schädigen. Wie aber bestimmt man nun das Optimum?

Ähnliches gilt für nahezu alle Tugenden. Loyalität kann zu kriminellen Strukturen führen, die andere moralische Werte aushebeln. Fleiß kann zu einem abschreckenden freudlosen Leben führen, das krank macht. Ehrlichkeit kann im Extrem zur Selbstzerstörung führen. Erst die Balance der Werte führt zu einem befriedigenden Gesamtergebnis. Wir werden drüber nachdenken, wie wir diese austarieren. Denn weder das überbetonten einzelner Tugenden, noch das Ausblenden dessen, was eben nicht mehr aktuell zu sein scheint, kann ein erstrebenswertes Ziel sein.

Gesellschaftliche Ziele

In der Postmoderne mag man Zielvorstellungen als beliebige Werte betrachten. Motto: Andere mögen das anders sehen. Allerdings gibt es objektive Bestimmungsfaktoren. Wenn es einer Gesellschaft an vielem mangelt, z.B. Erwerbsquellen, Gesundheitsversorgung, Rechtssicherheit oder öffentliche Ordnung, so wird dies das Leben eines jeden negativ beeinflussen oder zur Migration führen. Es kann allerdings in keinem Szenario Ziel sein, derartige Zustände anzustreben oder zu dulden. Damit verbunden sind Ziele wie persönliche Freiheit, gesellschaftliche Teilhabe, Wohlstand, Umweltschutz und Nachhaltigkeit. Lediglich die Gewichtung kann sich hier ein wenig unterscheiden.

Andere Ziele sind dann möglich, aber zum Teil gegenseitig exklusiv. Dazu gehören nationalistische Ziele wie staatliche Expansion oder Hegemonie, Diskriminierung von Minderheiten oder Fremden, oder religiöse Ziele wie Gottgefälligkeit und Dominanz eines Glaubensbekenntnisses. Dies werden sehr wohl aufzufinden sein, gefährden aber mittelfristig die anderen Ziele.

Die Gesellschaftsentwicklung wird aber auch von dem Machtstreben der Mächtigen beeinflusst. Ist etwas en Vogue, so wird das Thema zentral fokussiert, nicht zuletzt um die Zustimmung des Volkes zu erheischen. Dabei kann sich die Perspektive zu von den anderen Zielen wegbewegen.

Relevante Bestimmungsfaktoren

Werte und Tugenden werden zunächst innerhalb der jeweiligen Gruppe (Gemeinschaft, Volk etc.) tradiert. Die historischen Wurzeln sind oft nur bedingt im Einzelnen herzuleiten. Traditionspflege sorgt darum für eine gewisse Kontinuität und bewahrt vor einem Verfall des Erreichten. Zugleich aber können Traditionen Innovationen behindern und wirken negativ auf eine wünschenswerte Weiterentwicklung. Starrer Konservativismus kann in Reinform selten konsequent durchgehalten werden, denn die Rahmenbedingungen ändern sich ständig, einschließlich der Notwendigkeit zur Verbesserung. Entscheidend ist aber die Geschwindigkeit der Veränderung. Bei zu großer Veränderungsgeschwindigkeit steigt das Risiko eines überproportionalen Verlustes. Nur wird man diese Geschwindigkeit kaum quantifizieren können.

Neben einer Veränderung durch technischen Fortschritt und andere äußere Faktoren – Kriege, Naturkatastrophen, Migration / Bevölkerungsentwicklung, Wirtschaftsentwicklung – wirken ideologische Faktoren auf die Werteentwicklung. All diese Prozesse sind oft rückgekoppelt und verstärken oder dämpfen sich gegenseitig. Sie bilden komplexe Systeme, deren Verhalten sich nicht leicht beurteilen lassen. Dennoch ist es hilfreich, die einzelnen Faktoren, im Besonderen der ideologischen Art, detaillierter zu betrachten. Ideologie wird hier zunächst wertfrei als Macht der Ideen und dessen prägenden Wirkung verstanden, weniger, ob diese eine reale Entsprechung haben. In diesem Sinn gehören auch philosophische Strömungen in den Bereich der Ideologie.

Religion

Üblicherweise werden Kulturen stark von der Religion geprägt, die historisch dominant auf das Denken wirkten. Sie wirken oft auf der Grundlage bereits vorhandener Traditionen, die dann amalgamieren. Auf lange Sicht, oft über mehrere Generationen, entfalten sie dennoch eine sich stabilisierende Wirkmacht der Inhalte und Ideen. Ein Buddhismus, der die Selbstgenügsamkeit über alles stellt und das Begehren negativ konnotiert, vermag kaum eine dauerhafte gesellschaftliche Entwicklung treiben. Ebenso wenig wie ein Konfuzianismus, der der Tradition einen überragenden Wert beimisst. Auch der Islam, der das Schicksal – Kismet – als tragendes Prinzip erkennt, oder der Hinduismus, der eine starre Gesellschaftsordnung idealisiert.

Dem Christentum wird auch oft starker Konservativismus vorgeworfen, aber ist das gerechtfertigt? Unbestreitbar gibt es konservative Strömungen innerhalb des Christentums, nicht nur innerhalb der katholischen Kirche. Ebenso unbestreitbar ist es zu einer über Jahrhunderte anhaltenden Entwicklung in den christlichen Kulturkreisen gekommen, die keine Parallele kennt. Das Judentum amalgamierte nie mit dem Christentum, aber sie tragen die gleichen Wurzeln und bildeten oft gemeinsam trotz ihrer konfliktbeladenen Geschichte die Impulse der Entwicklung. Daraus folgt, dass die konservativen Elemente des Christentums offensichtlich nie so dominant gewesen waren, um eine gesellschaftliche Entwicklung auszubremsen.

Die Ausprägung des Christentum hat sich erheblich gewandelt. Einerseits gab es den Trend zur Einheit, der in der katholischen Kirche repräsentiert wird. Auch innerhalb dieser gab es mächtige Impulse der Entwicklung. So trug die Scholastik entgegen der verbreiteten Meinung einen starken Entwicklungsimpuls des Mittelalters bei. Auch die Sozialbewegungen und Reformbewegungen führten zu einem sich wandelnden Verständnis. Frühe Reformatoren ließen das Christentum als gärige Bewegung erkennen, bis unter Luther und Calvin auch auf breiter Front die Vielgestaltigkeit des Christentums unverkennbar wurde. Max Weber, selbst Jude, erkannte in der protestantischen Leistungsethik eine treibende Kraft der Gesellschaftsentwicklung.

Inhaltlich folgt das Neue Testament dem Tanach in seiner Dialektik. dem scheinbaren Widerspruch, der sich nie ganz festfügen lässt. Er sucht die Verwandlung vom Alten, was dahinten liegt nach dem Neuen, was vor uns liegt. Dies bezieht sich nicht nur auf Erdental und Himmel, sondern auch auf eine positive Zukunftshoffnung, an der alle teilhaben. Es ist keine blauäugige Hoffnung, denn auch eine katastrophale Zukunft liegt auf dem Weg. Beides aber, berechtigte Zukunftsängste und die Himmelshoffnung, legen die Basis für ein Leben im Hier und Jetzt. Moral ist in diesem Kontext eingebettet als Wegweiser. Die ex-post-Analyse lässt erkennen, wie sich die geistesgeschichtliche Entwicklung des Westens maßgeblich auf den Werten der christlichen Lehre entfaltete.

Politische Ideologien

Mit der französische Revolution wurde eine politische Bewegung wirkmächtig, die einen prägenden Charakter entwickelte. Im Weiteren sind Kommunismus und Sozialismus im 20. Jahrhundert prägend geworden. So strebte der ‚Ostblock‘ als dynamische Ideologie die Weltherrschaft an und forderte die traditionellen Großmächte heraus. Mit dem Kampf um die Vorherrschaft im All sollte ein Zeichen gesetzt werden, dass hier die treibenden Kräfte führend waren. Dennoch erwiesen sich die Erfolge als von begrenzter Dauer. Die Wirtschaftsentwicklung wurde durch ihre Verfassung als Planwirtschaft und mangelnde Leistungsanreize zu einem Strohfeuer. Die sozialistischen Herrschaften versuchten sich mit eigenen neuen Traditionen zu konservieren, blieben in ihrer Leistungsfähigkeit zurück, dass sie mehr oder minder zerbrachen. Sie funktionierten schlicht unzureichend.

Immerhin wurde der russische Sozialismus und der anderer Ostblock-Staaten auf der Basis eine christlichen Kultur errichtet. Solidarität und Gemeinsinn galt als alter und neuer Wert führend. In der weiteren Geschichte entfernte man sich immer weiter von christlichen Traditionen, so dass diese Werte immer mehr ausgehöhlt kaum noch der Lebenswirklichkeit entsprachen.

Ähnlich kometenhaft setzten der Nationalsozialismus und andere nationalistische Ideologien zunächst erstaunliche Erfolge um. Es entstand eine überraschende Wirtschaftsdynamik. Abgesehen von der grandiosen Selbstüberschätzung war es vor allem der Mangel an einer vertretbaren Moral, die diesem Spuk ein schnelles Ende bereiten ließ.

Die These, dass politische Ideologien eine hohe Dynamik entfalten können, ist somit gut belegt. Ähnlich gut belegt ist die zeitliche Begrenztheit der Wirksamkeit politischer Ideologien. Auch wenn diese oft Ähnlichkeiten zu traditionellen Religionen aufweisen, so ist doch die Wirkdauer deutlich unterscheidbar. Fast regelmäßig hinterlassen diese ein Trümmerfeld.

Postmoderne und Konsumismus

Mit der modernen Gesellschaft wurde eine materialistische Grundhaltung immer verbreiteter, die weder traditionelle Religionen für prägend erachtete, noch politische Ideologien als Ersatz wollte. Eine Individualisierung mit diffuser Spiritualität, Wissenschaftsgläubigkeit und Indifferenz folgte. Der Konsum wurde ohne ideologischem Überbau die faktische Grundeinstellung. Man schätzt Familie, Reichtum, Sicherheit und Genuss … und wenig darüber hinaus. In diesem Kontext kann der Konsum einerseits ein erstrebenswerter Grund für mühsame Arbeit liefern, als auch ein Streben nach Erfolgen, die unbehindert von ideologischem Überbau seine Dynamik entfalten kann. Andererseits hinterlässt die Postmoderne ein Vakuum an Sinnstiftung. Typische Symptome sind steigende Suizidraten, Diversifizierung der ideologischen Sinnsuche, Genussucht und Lethargie. Diese dämpfen eine gesellschaftliche Entwicklung und pulverisieren teilweise die Dynamik, die durch eine Lösung von Traditionen gewonnen wurde.

Allerdings tradieren sich, ob nun gewollt oder nicht, einige gesellschaftliche Werte mehr oder minder stark auch über mehrere Generationen. In diesem Sinn sind postmoderne Kulturen auf der Grundlage ehemals christlich geprägter Kulturen entstanden. Einiges an dessen christlichen Wertesystem wurde somit mehr oder minder stark übernommen. Es bleibt offen, wie eine langfristige Entwicklung aussieht, aber die Befürchtung bleibt, dass tradierte Werte langsam ihre Bedeutung verlieren, ohne dass sie durch gleicherweise funktionale neue Werte ersetzt werden.

Öko-Moralismus

Die letzten Jahre macht sich im Kontext postmoderner Gesellschaften ein neuer Moralismus breit, der vor allem Verantwortung der Gesellschaft und Nachhaltigkeit als prägende Werte propagiert. Die Förderung der Nachhaltigkeit ist sowohl ein konservatives Moment, als auch unter der Gefahr, selektiv einzelne Aspekte zu fokussieren, andere aber zu vernachlässigen. So gilt in der Ökobewegung als höchstes Ziel, die Natur zu schützen und Ressourcenverbrauch zu minimieren. Die Prioritäten wandeln sich aber erstaunlich. Im Zuge des Klimaschutzes ist man dagegen bereit, flächendeckend riesige Betonmonster in Naturschutzgebiete zu bauen. Freiheiten im Allgemeinen gelten nicht mehr als zentraler Wert. Im Besonderen gebietet die medienüberwachte Political Correctness zur feinen Kontrolle das Sagbaren. Dagegen gilt der Schutz des Lebens als Freiheitsraum. Die Freiheit zur Abtreibung wird als Wert geschätzt, auch wenn das zu einer nicht-nachhaltigen Bevölkerungsdynamik führt. Gleichsam werden traditionelle Formen von Familie abgelehnt, auch wenn dies zur nachhaltigen Bevölkerungsentwicklung führte. Immerhin kann eine Reproduktionszahl von deutlich unter 1,5 nur bedeuten, dass man ein Aussterben gerne in Kauf nimmt.

Unter dem Erhalt der Natur oder des Klimas finden sich Bewegungen, die sich aus einer Melange aus politischer Ideologie und ökologischem Anspruch einen sinnstiftenden Religionsersatz bilden. Das neue Imperativ lehnt ein weiteres Wirtschaftswachstum ab, und verzichtet in der Theorie auf Teile des Wohlstandes. Hier aber ist die Bewegung gespalten, einige wenige praktizieren Konsumverzicht, viele andere veredeln ihren Konsum mit Ökomoral (Greenwashing).

Auch hier gilt mehr der Schein als das Sein. Unter dem Christentum war Heuchelei ein Dauerthema, das bereits Jesus anprangerte. Im Kontext der Ökomoral ist Heuchelei schon nahezu zum Standard geworden. Man will um die Wirkung der modischen Maßnahmen – z.B. Förderung der Elektromobilität – auch nicht so genau wissen, damit man nicht auf unangenehme Erkenntnis hinaus läuft, dass es mehr den eigenen Zielen schadet als dass es nutzt.

Die Beurteilung über die gesellschaftliche Entwicklung, die durch diesen Trend ausgelöst wird, ist von Unsicherheit geprägt. Eine nachhaltige kulturelle Entwicklung ist nicht zu erwarten. Offensichtlich ändern sich Wirtschaftsweisen und Produktionsallokationen. Es steht zu befürchten, dass sich die Verschiebung zu anderen Produkten und Produktionsweisen sich nicht als Nullsummenspiel erweist, sondern faktisch zu einer massiven Schrumpfung führt.

Das gleiche gilt für den Wertewandel. Neue Werte oder eine andere Gewichtung haben nicht zwangsläufig eine wertneutrale Verschiebung zur Folge, sondern sind vermutlich eher mit einem Werteverlust zu beschreiben, wenngleich nicht vollständig. Dies liegt vor allem an den fehlenden übergeordneten Werten. In der Postmoderne verliert nahezu alles seinen Wert und wird individualistisch beliebig. Tugend verkommt zum privaten Hobby. Daran ändert auch ein öffentlicher Tugendterror (Sarrazin) nichts, der lediglich das diffuse Wertevakuum ersatzweise füllen will.

Wirkungen konkreter Tugenden

Nun wollen wir uns einzelne Tugenden in ihrem Wirkkontext ansehen und ihren Grenzen im Extremen erkennen. Dazu betrachten wir Gruppen der Tugenden.

Fleiß und Beharrlichkeit

Der Verzicht auf Müßiggang und Genuss, statt dessen Arbeit und Lernen, gilt wohl überall als Tugend. Wer dich von Anfeindungen, Problemen und Schwierigkeiten nicht vom als richtig erkannten Weg abbringen lässt, ist fraglos in einer stärkeren Position als der, der sich von jedem Gegenwind umwerfen lässt. Aber nicht in jeder Gruppe gelten diese Tugenden mit gleicher Priorität. Fatalisten oder Hedonisten würden eine besondere Anstrengung weit weniger hoch bewerten. Es ist offensichtlich, dass Gesellschaften, die Lebensgenuss und dem Feiern von Festen einen höheren Wert beimessen zu einer anderen Entwicklung kommen, als in denen der Fleiß dominant ist.

Die Gefahr, in eine lebensfeindliche Verbissenheit zu verfallen ist nie auszuschließen. Natürlich werden diese Tugenden, wenn sie im Dienst des Bösen stehen, selbst zum Übel.

Mut und Risikobereitschaft

Die Gefahr, sich selbst zu viel zuzutrauen und Schaden zu erleiden führt zuweilen zur Angst und Untätigkeit. Sicher kann etwas auch mal schief gehen, im schlimmsten Fall kann eine Fehleinschätzung zum Tode führen, aber die Mutlosigkeit führt in die Stagnation und Depression. Eine gute Balance, die nicht zu übermütig wird, ist sicher eine Wunschvorstellung. Aber auch hier gibt es kulturelle und individuelle Bewertungsunterschiede. Eine gesättigte Gesellschaft glaubt viel zu verlieren zu haben, und wird vielleicht übervorsichtig.

Oder aber sie erkennt den Wert des Erreichten nicht mehr und setzt diesen leichtfertig aufs Spiel. Letzteres scheint in Deutschland zu zutreffen. Man hält die kulturellen und wirtschaftlichen Errungenschaften für selbstverständlich und geht ‚mutig‘ einen Weg zu einem ‚ökologischen‘ Gesellschaftsumbau, der Großen Transformation. Mut muss immer gepaart sein mit einer möglichst realistischen Risikobewertung. Ist diese unzutreffend, drohen schlimme Gefahren.

Neugier, Bildung und Innovationswille

Wissenschaftliche Erfolge und gesellschaftlicher Fortschritt sind ohne diese Tugenden nicht denkbar. Antagonistisch wirkt hier der Wille zur Bewahrung des Erreichten und der Erhalt der Ordnung.

Ordnungsliebe und Traditionsbewahrung

Ganz offensichtlich unterstützt eine Ordnung das Funktionieren von Gesellschaft und Wirtschaft. Ein biologischer Organismus benötigt ab einer gewissen Größe ein Knochengerüst, das zunächst starr aussieht, aber erst dadurch eine Dynamik ermöglicht, die ohne dieses nicht möglich wäre. Wer allzu leichtfertig die bewährte Ordnung gering schätzt, kann zwar unter vorgeblicher Suche nach Dynamik (progressive Haltung) den Erfolg dieses Strebens in ihr Gegenteil verkehren. Das konservative Schätzen von Traditionen ist darum nicht nur identitätsstiftend, sondern schützt auch vor Verlust der erworbenen Werte.

Offensichtlich erwürgt eine Überbetonung der Traditionspflege eine gesellschaftliche Dynamik. Auch hier ist es schwierig ein Optimum in der Bewertung und Beurteilung zu finden.

Solidarität und Hilfsbereitschaft

Eine unsolidarische Gesellschaft erfordert erhöhte Sicherungsmaßnahmen für jeden Einzelnen. Dies raubt die Kräfte, die zu einer Dynamik der Gesellschaftsentwicklung führen könnten. Zuviel an Solidarität führt zur Neigung, die soziale Hängematte weidlich auszunutzen und kann die Leistungsträger überfordern. Darum ist auch hier eine gesunde Balance zu suchen, die selten ihr Optimum erreicht.

Im Besonderen ist die Sorge um die eigene Familie oder Peer-Group eine zweischneidige Angelegenheit. Einerseits ist die Organisation der Solidarität im überschaubaren Bereich eine gesellschaftliche Notwendigkeit, da der Staat in der Regel überfordert ist, sämtliche Belange des Bedarfs zu kontrollieren. Die Sorge um die eigene Familie oder Gruppe bleibt darum unverzichtbare Aufgabe eines jeden Einzelnen.

Andererseits führt das zu Nepotismus und Vetternwirtschaft, die letztlich eine Fehlallokation der gesellschaftlichen Kräfte bedeutet. Zumindest kann sie aber die Kräfte entziehen, die an anderer Stelle benötigt werden.

Leistungswille, Erfolgsstreben und Eigennutz

Diese werden gewöhnlich nicht zu den Tugenden gezählt, da sie der Solidarität entgegen zu stehen scheinen. Dennoch ist es eine Notwendigkeit der Gesellschaftsentwicklung. Gerade die moralische Abwertung dieser Tugenden führt zur Dämpfung der Dynamik. Adam Smith ging ebenso wie Ayn Rand davon aus, dass das Streben nach Eigennutz keineswegs auf Kosten Dritter geschehen muss, sondern auch das Gemeinwohl fördern kann, wenn es im Rahmen der gesellschaftlichen Ordnung geschieht.

Da aber übersteigertes Streben nach Eigennutz offensichtlich schädlich sein, ja bis in kriminelle Einstellungen führen kann, ist hier ein Austarieren der Werte von besonderer Wichtigkeit. Kontrollierend wirken hier die Kräfte der Ordnung und Gerechtigkeit.

Gerechtigkeitsstreben, Fairness, Wahrheitsliebe

Selig sind die, die nach Gerechtigkeit dürsten. So wusste es auch Jesus und meinte nicht nur die, die unter der Ungerechtigkeit leiden. Gerechtigkeit ist immer eine Einschränkung auch der eigenen Handlungsoptionen, die kriminelle Handlungen ausschließt und eigene mögliche Vorteile nicht realisiert. Gerechtigkeit geht nicht ohne Wahrheit. Wahrheitsliebe wehrt dem Selbstbetrug. Eine Überbewertung dieser Werte gegen die anderen Tugenden kann aber zur Selbstzerstörung und Grausamkeit führen.

Oft wird Wahrheitsliebe für sich selbst beansprucht, dem Meinungsgegner aber ein Mangel unterstellt. Dies führt nicht selten zur wahrheitswidrigen Darstellung der sogenannten Faktenprüfer, die entgegenstehende Meinungen diskriminieren wollen.

Diskrimierungsfreiheit und Antirassismus erscheint vielen in diesem Kontext geboten. Allerdings verselbstständigen sich diese Ziele oft so weit, dass ein vermeintlicher Verstoß in Kleinigkeit thematisiert und geächtet wird. Die Einschränkung der gesellschaftlichen Dynamik aus der Angst vor der Verletzung der Political Correctness liegt auf der Hand.

Treue und Verlässlichkeit

Natürlich ist eine Gesellschaft nur dann optimal funktionsfähig, wenn die einzelnen Glieder ihr Aufgaben auch erfüllen. Unzuverlässigkeit führt zu erhöhtem Kontrollaufwand, der die Leistungsfähigkeit unproduktiv einschränkt. Die Beobachtungen zwischen den Kulturen zeigt, dass man diesem Merkmal recht unterschiedliche praktische Priorität beimisst. Natürlich schlägt sich dies auch in der Leistungsfähigkeit eine Gesellschaft nieder.

Loyalität und Gehorsam

Natürlich sind soziale Gebilde von dem Funktionieren der sich etablierten Strukturen und Hierarchien abhängig. Hier handelt es sich um eine besonder Form der Verlässlichkeit. Wer sich als Vorgesetzter nicht auf die Loyalität seiner Mitarbeiter verlassen kann, wird einen stärkeren Kontrollaufwand betreiben müssen und den Handlungsspielraum seiner Untergebenen einschränken. Gesellschaftlich dämpft dies offensichtlich die Leistungsfähigkeit.

Isoliert betrachtet sind diese Tugenden jedoch gefährlich, denn kriminelle Strukturen oder die von Tyrannen basieren gerade auf jenen. Für die Mafia oder Nazideutschland waren es Kerntugenden. Darum muss eine Loyalität immer eine Grenze darin finden, wo Recht zu Unrecht verkehrt wird.

Reflektion und Konsequenzen

Wertediskussionen werden oft politisch unterdrückt, da man dem Meinungsgegner böses unterstellt. Dabei sind diese zwingend erforderlich. Unreflektiertes Propagieren von Tugenden und Werten führt aber oft in ihr Gegenteil, auch wenn man tunlichst die Namen ‚Tugenden und Werte‘ vermeidet. Denn dies führt zu einem Verlust der Balance der Werte, die insgesamt eine schädliche Wirkung aufweist.

Der stets vorgetragene Vorwurf ist der der Heuchelei. Wer Werte propagiert, wird an jenen gemessen und echter oder vermeintlicher Verstöße dagegen angeklagt. Tatsächlich ist Heuchelei nicht grundsätzlich zu vermeiden, wenn denn die propagierten Werte sich eben nicht mit den persönlichen Interessen stets harmonisieren lassen. Das Rezept dagegen, eben jene unangenehmen Werte selbst zu annihilieren, ist fatal und wahrlich ein Wertverlust. Weil kaum ein Wert absolut als oberstes uneingeschränktes Gut gelten kann, ist auch dem konsequentesten Moralisten immer ein Verstoß zu unterstellen, da auch diese ihre unscharfen Grenzen im Kraftfeld mit anderen Werten finden. Das entbindet dann aber weder vom Streben nach Tugenden und Werten, noch rechtfertigt es die um sich greifende Heuchelei. Viel mehr bleibt es ein kaum erreichbares Ziel, das Vermeiden der Heuchelei anzustreben, während man sich nicht von jenem Vorwurf einschüchtern lässt. In der Regel sind jene Ankläger ebenfalls nicht immun gegen Heuchelei.

Ein Reflektion der Werte führt zur Ausgewogenheit, die das vermeintlich Selbstverständliche hinterfragt und zur Verbesserung beitragen kann. Es ist darum unbedingt erforderlich, die Dinge beim Namen zu nennen und stets den Standort zu überprüfen. Aus der Analyse können korrektive Maßnahmen erwachsen, sowohl persönlich, als auch gesellschaftlich.

2 Gedanken zu „Tugend und Gesellschaftsentwicklung“

  1. Ein interessantes Blog! es bekommt ein Lesezeichen…

    Es ist nicht zufällig dass Sie auch Agrarwissenschaft studiert haben, da ein Studium und praktische Nähe zur Natur die Philo-sophie fördert.
    Und nun gratuliere ich Sie, dass Sie die Aktualität von Aristoteles gespürt haben. Es scheint dort irgendein Schlüssel für die Lösung aktueller Problemen zu sein!
    Nach meiner Empfindung, sind selbstverständlich die Tugende ganz wichtig für den Wohlstand eines Staates, und wie ich woanders gelesen habe, hat Aristoteles auch einen Freiraum des „Fehlers“ rum um das Zentrum der Perfektion gelassen. Dh die Menschen dürfen (nachdem sie wissen was Gut ist) auch Fehler machen und daraus lernen und sich so verbessern, also „göttlicher“ werden.

    In der heutigen Zeit, vielleicht mit Einfluss der Postmoderne, hat sich der Mass der Dinge verloren, die ewige Werte werden bezweifelt: das brachte bei uns einen schrecklichen Zerfall, der leider kein Glück bringt. Auf der anderen Seite, versucht das Vakuum der fehlenden Werte die strengere Religiosität zu kompensieren – ob der Islamismus oder das wiedererwachen der Strenge des Katholizismus (Polen). Aber das ist kein Ersatz der Werte, wie die Geschichte uns gelehrt hat. Zurück ins Mittelalter ist keine Lösung. Es gibt kein Zweifel: das was passiert, ist eine Mahnung um die Werte, wie sie uns die Antike, Renaissance, Aufklärung, Klassik, Revolutionen, aber auch die christliche Lehren und die Reformation, unser ERBE, zu schützen.

    Die griechische Philosophen besingen die Freiheit des Individuums als den einzigen Weg um das Göttliche in uns zu erkennen, und das ist die Grundlage des Wohlstands für jeden von uns und unsere Gesellschaften.
    Ich freue mich auf die Lektüre ihrer weiteren Texte. Mit freundlichen Grüßen

    1. Wir denken ähnlich. Was mich mehr interessiert, ob es nun modern oder rückständig sei, ist das Wahre und Gute. Wir können nicht Werte und Tugenden preisen, auch wenn wir sie als gut erkannt haben, wenn wir sie dennoch als Illusion verstehen. Es wäre auch nicht mehr als ein Aufbäumen in der Postmoderne. Stimmig wird es erst, wenn wir eine weltanschauliche Grundlage haben, die wir in intellektueller Redlichkeit auch durchhalten können.

      Natürlich kann man den Zeitgeist der Postmoderne nicht ignorieren, denn er sickert in das eigene Denken – ob wir es wollen oder nicht. Aber ein Reflektion und ein kreativer Umgang mit der Geistesgeschichte kann wiederbeleben, was verloren gegangen zu sein scheint.

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