Rassismus und Läuterungsagenda

Wer würde bezweifeln, dass der Rassismus mit Sklaverei, Eroberungsmotiven und Genozid nicht zu dem schlimmsten gehört, was sich Menschen an Verfehlungen leisten. Allerdings treibt diese berechtigte Verurteilung seltsame Blüten, die gar in ihr Gegenteil umschlagen und zuweilen suizidale Züge annehmen. Dies ist gar prägend für den Zeitgeist, der von einem manifesten oder latenten Alltagsrassismus aller Mitglieder der schuldbeladenen Rassen oder Völker (sic!) ausgeht. Dieser sei in direkter Linie die Teilhabe an allen Verbrechen der Vergangenheit, im Besonderen der Vorfahren jener Rassen oder Völker. Es gilt darum, zur Läuterung genau das Gegenteil zu tun, nämlich die Opferrassen und Völker zu entschädigen und ihnen für das Unrecht, dass ihren Volksgenossen angetan wurde, eine kaum hinreichende – wie groß das Entgegenkommen auch ist – Sühne zu präsentieren.

Sandra Kostner hat eine Debattenband heraus gebracht – Identitätslinke Läuterungsagenda – dessen vielfältigen Aspekte hier gar nicht umfänglich diskutiert werden können. Einige Gedanken aus diesem Anstoß sollen hier angerissen werden. Im Besonderen ist es die Frage des Selbstveständnisses und der Identität: Was bedeutet das alles für uns selbst?

Schlimmer Alltagsrassismus

Als Alltagsrassismus wird bereits bezeichnet, wenn man Menschen, die nicht aus der eigenen Volksgruppe oder ‚Rasse‘ stammen, mit Vorurteilen begegnet. So ist es bereits verdächtig, wenn man feststellt, dass Juden überdurchschnittlich erfolgreich bei Nobelpreisen, allgemein in den Wissenschaften, der Wirtschaft und den Künsten sind. Zwar genießen Juden nach dem Holocaust Opferstatus, aber erfolgreiche Entwicklungen passen wieder nicht in Opferbild. Zudem werden sie ihrerseits des Rassismus (pauschal) angeklagt, weil man die Methoden ihrer Verteidigung gegen palästinensische Angriffe nicht duldet.

Wer andere des Rassismus anklagt, gilt selbst als Antirassist und damit geläutert. Dabei fällt es jenen gar nicht auf, dass die Kategorien Tätervolk oder Opfervolk ihrerseits rassistisch sind. Die Zugehörigkeit zu einem Volk oder anderen Gruppenmerkmale, zu dem die Individuen nichts oder wenig beitragen können, entspricht genau dem Grundschema des Rassismus.

Ist es nun Rassismus, wenn eine junge Frau, die alleine auf der Straße geht, vielleicht nachts, sich unwohl fühlt, wenn ihr eine Gruppe südländisch aussehender Männer ihr entgegenkommt … gar die Straßenseite wechselt? Auch wenn sie das gleiche gefühlt und getan hätte, wenn es nicht identifizierbar südländische Männer wären? Wohl kaum. Schon gar nicht macht sie das mitschuldig an rassistischen Verbrechen jeder Art. Sie muss also ein schlechtes Gewissen dabei haben. Hätte sie das, wäre es ein Zeichen, dass etwas nicht stimmt mit ihren Gefühlen.

Kurz: Vermeintlicher Alltagsrassismus ist oft gar kein Rassismus. Und wenn es tatsächlich Vorbehalte gegen Fremde sind, dann hat dieser nichts mit irgend einer Schuld zu tun, die zu rassistischen Verbrechen führen.

Vorurteile

Es hat einen ganz schlechten Ruf, wenn man Menschen nach Merkmalen einschätzt, die nicht in ihrem individuellen So-Sein liegen, sondern an Merkmalen wie Aussehen etc. Zuweilen wird dies bereits unter Rassismus kategorisiert. Dabei ist es tatsächlich ein unvermeidbarer Vorgang: Wir haben meist gar keine Chance, den anderen Menschen schnell persönlich einzuschätzen, ggf. Gefahren zu erkennen. Ein stiernackiger junger Mann mit Glatze und Springerstiefeln würde vermutlich schnell als Rechtsradikaler eingeschätzt. Aber tut man diesem nicht Unrecht mit diesem Vorurteil?

Kurz: Vorurteile sind ein notwendiges Verfahren zur Bewältigen des Alltags. Verfestigen sich derartige Vorurteile, spricht man auch von Stereotypen. Man kann dann Menschen oft nicht mehr offen begegnen. Das reflektierte Vorurteil hat jedoch nicht notwendig diese Konsequenz. Man ist sich seiner Vorbehalte bewusst, von denen man aber weiß, das sie falsch sein können.

Historische Verantwortung

Wir beurteilen geschichtliche Ereignisse mit heutigen Maßstäben. Dies baut auf der Idee auf, dass Moral nicht Vereinbarungssache und kulturbedingt ist, sondern eine überzeitliche Gültigkeit habe. Denn nur dann macht es Sinn, ein damalige Verhalten zu kritisieren, bei dem die Beteiligten das beste Gewissen hatte und ihnen auch nicht die Kriterien bekannt waren, die heute für Pauschalurteile heran gezogen werden. Ich selbst glaube auch an eine absolute Moral und Gerechtigkeit, die universelle und überzeitliche Gültigkeit hat. Nur unsere Erkenntnis dieser ist zeit- und kulturbedingt, oftmals unvollständig und verzerrt.

Was ist dann überhaupt eine historische Verantwortung? Müssen wir geschichtliche Ereignisse unter ein Urteil stellen? Wenn ja, warum? Vielleicht weil wir dieses reale oder aus Wahrnehmung der Geschichte konstruierte Verhalten heute für falsch halten und daraus für heutiges Verhalten lernen wollen? Wenn das alles wäre, gäbe es kein Problem mit historischer Schuld.

Nun haben Ungerechtigkeiten in der Vergangenheit Folgen. Die vor Jahrhunderten gestorbenen Menschen können selbstverständlich keine posthume Gerechtigkeit erwarten, außer im Himmel. Die Nachkommen aber wurden durch das Erbe geprägt. Es ist Teil eines komplizierten Prozesses. Eine Wiedergutmachung außerhalb von individuellen Aufarbeitungsprozessen erscheint allerdings unmöglich. Verjährung von Schuld gibt es nicht aus der Perspektive des Himmels, aber für die reale Geschichte ist es eine Notwendigkeit. Die Entschädigung von echten und vermeintlichen Nachfahren von echten und vermeintlichen Opfern erscheint auch aus moralischer Sicht fragwürdig, wenn sich diese auf Kollektive und lange Zeiten beziehen. Wird hier nicht ein Schuldtitel konstruiert, um sich heute Vorteile zu verschaffen? Ist das eine bessere Moral? Was haben die Nachfahren der vermeintlichen Täter davon, hier eine Schuld und Verpflichtung anzuerkennen? Ist es ein moralischer Verdienst, historische Schuldanerkennung auf sich und das eigene Kollektiv zu beziehen, nebst Wiedergutmachungspflicht?

Läuterung

Wer sich derart auf diesen schlüpfrigen Pfad begibt, sich selbst aufgrund der eigenen Herkunft eine besondere Verantwortung oder Schuld zuzuschreiben, ist bereits vom rassistischen Denken gefangen – wenngleich in anderer Weise als vermutet. Wer darüber hinaus es für eine moralische Pflicht hält, dass alle Mitglieder seines eigenen Volkes oder Rasse darum Sühne zu leisten haben, und zwar kollektiv, folgt einer zerstörerischen Agenda, bei der Vernunft und Meinungsfreiheit die ersten Opfer sind. Die vermeintliche Schuld wird dadurch nicht geläutert, sondern neues Unrecht zieht auf.

Ein trauriges Beispiel für derartig schädliche Einstellungen lieferte jüngst der Bundespräsident Frank Walter Steinmeier am 16. Juni 2020. So zog er eine unterschiedslose Parallele zum amerikanischen Rassismus, den er am Tod von George Floyd festmachte. Abgesehen davon, dass überbordende Polizeigewalt mit tödlichen Folgen sicher ein Verbrechen ist, sind rassistische Motive darin keineswegs sicher zu identifizieren, zumal wenn weiße Verdächtige in gleicher Weise Opfer jener Gewalt wurden.  Steinmeier: „wir wollen Rassismus, Hass und Gewalt überwinden.“ … wie soll das möglich sein? Wie soll dieses Abstraktum aus Gefühlen, Ideologie und schrecklichen Taten überwunden werden? Wo … überall in der Welt, oder nur in uns selbst? Wenn es aber in uns gar nichts zu überwinden gibt? Mit Liebe und Toleranz? Ist da ‚überwinden‘ die richtige Vokabel?

„Neutralität ist keine Antwort (…) auf Rassismus.“

Frank Walter Steinmeier

Warum nicht? Ist es nicht gerade geboten, gegen vermeintlichen Rassismus keine Gegengruppen-Rassismus zu installieren? Keine Pauschalurteile an sich selbst oder Dritte, schon gar nicht an Gruppen, Rassen und Völker gerichtet?

Andererseits gibt es zur Zeit viele ethnisch-religiöse Konflikte, die weit eher in der Kategorie Rassismus zu verorten sind. Dies wurde jahrzehntelang mit einem Schulterzucken hingenommen, oder pflichtschuldiger, aber folgenloser Protest gespendet. Warum nun der Rassismus der USA, in der es viele erfolgreiche Karrieren von Afroamerikaner gibt, gesetzliche Gleichstellung garantiert ist, drastische Reaktionen in Deutschland auslöst, gibt Anlass zur Sorge. Kann man dieses aufspringen auf den aktuellen Hype nicht eher darin vermuten, dass es eine rassistische Identifikation mit den vermeintlich schuldigen Amerikanern gibt?

Eine plakative Läuterung im Kollektiv sind derartige Veranstaltungen sicherlich nicht. Warum werden sie dennoch betrieben? Hier wird ein verhängnisvolle Konsequenz eines verbreiteten Selbstverständnisses klar.

Gruppenidentität

Fraglos geschehen Sozialisation, Schulbildung und Herausbildung von Meinungen und Einstellungen nicht im neutralen Raum. Sie stehen im unscharfen Kontext der konkreten Gesellschaft. In diesem Sinn ist es objektiv nachvollziehbar, wenn sich das Individuum als Mitglied jener Gruppen versteht, die ihm relevant zu sein scheinen.. Ob dies die Familie ist, die Sippe oder Glaubensgemeinschaft, die Kulturgemeinschaft, das Volk oder Rasse.

Natürlich stehen dieser Gruppenidentität die individuellen Ausprägungen entgegen: So kann sich der Einzelne aufgrund seiner Entscheidung durchaus aus der Bandbreite der tradierten Einstellungen – die ohnehin nicht uniform ist – herauslösen und einen mehr oder minder eigenständigen Weg gehen. Es ist das Vorrecht des Menschen, als sittliche Instanz Verantwortung für das eigene Handeln zu haben. Eine schicksalhafte Verknüpfung mit der Geschichte jenes eigenen Volkes bleibt darum fragwürdig. Es ist zunächst die vermittelte oder eigene Zuschreibung, die hier die Eigenschaft der Schuld- oder Opferrolle auf sich selbst bezieht. Es gibt keinen sachlichen Zwang, diese objektive Beziehung der Herkunft in eine moralisch Kategorie von gut und böse zu fassen. Die Reflektion und die konstitutive Meinungsfreiheit ermöglichen, hier eine Distanz zu wahren und eine vermeintliche Läuterung keineswegs als moralisch Pflicht zu verstehen.

In jüngster Zeit wird der Term ‚alte weiße Männer‘ in häufig negativer Konnotation gebraucht. Sie seien grundsätzlich verdächtig, böses zu tun. Den Verwendern dieser Idiome kommt es dabei nicht in den Sinn, dass sie gerade gruppenbezogene Menschenfeindlichkeit exerzieren.

Sicher gibt es historische Schuld, die auch in der Gegenwart nicht abgegolten ist. So sind die Opfer des Holocausts noch immer berechtigt, Konsequenzen aus der bösen Tat einzufordern. Doch was heißt das? Wie weit gehen berechtigte Forderungen an den Rechtsnachfolger eines Unrechtsstaat? Ist das Erinnern an die Verbrechen nicht zuletzt Mahnmal, nicht die Fehler der Väter zu wiederholen? Doch worin genau lagen die Fehler?

Eine unspezifisches Schuldempfinden zugleich mit einem gefühlten Warnruf ‚Wehret den Anfängen!‘ ist kaum eine sachgerechte Analyse, sondern führt zu beliebigen politischen Trends, die als Hebel im Meinungskampf als Munition verbraucht wird. Man assoziiert den politischen Gegner mit dem Bösen, ob nun mit einem mehr oder minder nachvollziehbaren Argument oder nicht. Meist genügt eine gefühlte Verbindung, ein Argument könnte nur als Störend empfunden werden. Denn es könnte ja einer Überprüfung nicht standhalten.

Zuschreibung von Täter- oder Opfereigenschaften sind allerdings geeignet, der Gruppe eine Identität zu vermitteln. In der Postmoderne verbreitet sich oft die Orientierungslosigkeit. Das Wegbrechen historischer Identifikationen, eines religiösen Glaubens uvm. führen zu einen Hunger nach Halt. Die eigene Identität wird gesucht. Vordergründig würde eigentlich eine positive Identität durch das rekurrieren auf eine gloriose Vergangenheit das eigene Ego aufwerten. Das wäre ein Motiv für einen rassistischen Chauvinismus, der den Honig der Selbstbefriedigung aus dieser persönlichen Aufwertung saugt.

Während zum Beispiel Patriotismus und Nationalstolz von vielen Menschen weltweit als Tugend betrachtet wird, ist es in einigen Milieus geradezu verdächtig und riecht nach Rassismus und Verbrechen. Nationalismus ist dagegen eine überhöhter Nationalstolz, der diesen mit der Herabsetzung anderer Nationen verbindet. Das aber liegt keineswegs in der logischen Notwendigkeit, denn der sich patriotisch erkennende Bürger, kann durchaus andere Nationen schätzen und unterstützen wollen. Die Gleichsetzung von positiven Patriotismus mit Nationalismus ist somit fatal. Es wird den Betroffenen eine psychohygienisch notwendige Identifikation erschwert. Im Besonderen ist die schwer belastete deutsche Geschichte für viele keine positive Identifikation mehr … vor allem, wenn das Geschichtsverständnis auf die Nazi-Herrschaft verengt wird. Wo findet der Mensch eine innere Heimat?

Die neue Gruppenidentität im Täter-Opfer-Schema scheint diesem Muster nicht zu entsprechen. Der Opferstatus ist keineswegs ein positives Identitätsmerkmal, sondern ein defizitäres. Der eigenen Macht steht die Einschränkung und der Verlust der unverletzlichen Würde gegenüber. Aber die Opferrolle berechtigt zur Einforderung von Kompensationsleistungen. Dies entschädigt dann für das vermeintlich schwache Selbstbild. Dennoch beibt fragwürdig, wie das Selbstverständnis eines Mitgliedes einer Opfergruppe zu sein, sich auf die persönliche Entwicklung auswirkt. Versucht der oder die sich so Fühlende aus jener Fixierung zu lösen um ein selbstgestaltetes Leben und ein gesundes Selbstbewusstsein zu entwickeln? Oder verfestigt er oder sie sich in diesem Rollenmuster, das die weitere Entwicklung erheblich einschränkt?

Noch schwieriger ist das Selbstverständnis jener, die sich einem Tätervolk zugehörig fühlen, gleichsam aber gar keine persönliche Schuld tragen. Was ist die Funktion diese Gedankens, das hier eher destruktiv wirkt und depressiv stimmen kann? Hier beginnt die Wendung zur moralischen Superiorität, dem Sündenstolz: Wir sind so ehrlich, dass wir zu den Verbrechen der Vergangenheit stehen. Wir sind so demütig, dass zur Buße bereit sind. Wir sind so gerecht, dass wir unsere eigenen Interessen verleugnen, bzw. hinten an stellen.

Moralische Implikationen

Natürlich können ‚wir als geläutertes Volk‘ den Anspruch erheben, wahrhaft gut zu sein. Nur wird dieser Grad der Läuterung per se nie vollständig sein können, denn die Geschichte haftet unablösbar am Volk. Es handelt sich darum um ein Rollenfixierung, bei dem der vermeintliche Beweis der Läuterung nicht nur immer wieder in steigendem Maße erbracht werden muss, sondern gleichsam von ausnahmslos jedem der Volksgenossen eingefordert werden. Da es absehbar immer solche geben wird, die diesem absurden Diktat nicht folgen wollen, wird eine Läuterung des gesamten Kollektivs erst recht nicht erreicht werden. Das führt dann zu abgrundtiefen Hass auf jene Abweichler der Läuterungsagenda.

Das Übel jener überstarken Gruppenidentität ist nicht nur das mögliche Herabsetzen der Gegner, sondern auch die Abgabe der eigenen Handlungsoptionen und Verantwortlichkeit. Ein selbstbestimmtes Handeln ist aus einer eng fixierten nationalen Täter-Rolle nur eingeschränkt möglich. Die Inkonsistenzen, einerseits jenen Rassismus überwinden zu wollen und dem Hass zu wehren, andererseits der Rasse oder Nation etc. eine zentrale Bedeutung für das Denken zu geben und den Hass auf Ketzer und Feinde überborden zu lassen, führen dann nicht nur zur Selbstlüge und Heuchelei. Vielmehr wird die persönliche Verantwortung für das eigene Handeln nur noch eingeschränkt verstanden. Wenn das Kriterium für gut und böse nicht zuerst im Individuum ruht, sondern sich auf Völker und Rassen bezieht, kann keine persönliche Verantwortung vollumfänglich erkannt werden. Denn wer sich nicht persönlich in Taten schuldig machte, für den kann es auch keine Läuterung geben.

Die Konsequenz aus diesen Betrachtungen ist, dass man sich von diesem verhängnisvollen Ansatz nicht vereinnahmen darf. Es ist genug, Liebe zu üben, so weit es möglich ist. Dies basiert auf dem Grundsatz, dass ein jeder zuerst die Verantwortung für das eigene Leben und das der ihm Anvertrauten ausfüllt. Dazu gehört sowohl das Vertreten von Eigeninteressen, als auch im Respekt vor dem Anderen nach der Gerechtigkeit zu fragen.

2 Gedanken zu „Rassismus und Läuterungsagenda“

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