Kulturbetrachtungen in Wehmut

Ein Konzert der Barockmusik, Telemann, Vivaldi und Bach, vorgetragen von meist jungen Musikern der Musikhochschule, lieferte ein außergewöhnliches Erlebnis. Die Zuschauer sahen Menschen, die sich nach jahrelangen und intensiven Studium zu Virtuosen auf ihren Instrumenten entwickelt haben. Alles atmete Konzentration. Sicher ging es auch ein wenig um die Konventionen des Kulturbetriebs, um den guten Ton, aber das liefert nur die Leinwand, auf der sich eine wertvolle Substanz offenbarte: Hingabe, Komplexität, Harmonie.  Doch was bedeutet das?

Die Komponisten waren alles Zeitgenossen, aber sie hatten Werke geschaffen, die die Zeit überdauerten. Jeder von ihnen ein Genie, der seine eigene Handschrift in dem komplexen Zusammenspiel der unterschiedlichen Stimmen erkennbar werden ließ, und sich auch gegenseitig befruchteten. Es bildeten sich harmonische Spannungen, musikalische Dialoge aus, die größer waren als nur das Empfinden eines Einzelnen. Aber die Menschen nahmen Teil an diesem Gemeinschaftserleben, das Orchester als Sinnbild einer dialogischen Gemeinschaft, mit einem unsichtbaren Spiritus Rektor, die Zuhörer in dankbar Rolle und Widerhall. Wir können uns Menschen vorstellen, die im Beginn des 18. Jahrhunderts in ihrem stillen Kämmerlein saßen, und sich das Orchester mit den unterschiedlichsten Klangfarben bs ins kleinste Detail imaginierten. Aber das waren nur die Mittel. Auf dieser Grundlage entwickelten sie einen Ausdruck, ja ein Gesellschaftsbild, eine musikalische Ideologie, ein Sinnbild des Lebens. Der Einzelne, ob nun Komponist über Zeit hinweg, der Musiker, in Sensibilität und Disziplin der Hingabe verpflichtet, und die Zuhörer, die verstehend den Prozess erst finalisierten … das alles ist eine Brücke, die dem Wort Kultur einen besonderen Inhalt geben. Der Mensch ist gerade als Teil, das sich in die große Harmonie einfügt ein sensibel erlebender, der über sich und sein Psychologie hinaus wächst, ein Diener von etwas Größerem.

Kultur im Wandel

Die Hoffnung, dass dies eben nicht nur ein flüchtiges Erleben ist, sondern dass sich ein lebendiges Kulturgut auch weiter entfaltet, ist getrübt. Denn kaum ein Konzertbesucher war jünger als 50 Jahre. Der Durchschnitt wohl deutlich über 60. Die jungen Musiker wirkten wie die Träger einer aussterbenden Kunst,  die heute nur in eine Nische fortbesteht, abgekoppelt von der kulturellen Entwicklung mit musealen Charakter. Es wird zum Indikator eine Gesellschaftsentwicklung: Unsere Gesellschaft lebt vom kulturellen Erbe, aber dieses zerfällt und wir können den Wandel beobachten.

Die genialen Komponisten fielen nicht vom Himmel, sondern lebten in einer Zeit, die wir heute eher negativ beschreiben. Viele Errungenschaften, sei es in wissenschaftlicher, technischer oder sozialer Hinsicht waren noch fern. Dennoch eine Zeit, die außergewöhnliche Leistungen in geistiger Hinsicht ermöglichte. Die Komponisten waren damit aber nicht nur Genies, sondern eingebunden in eine Welt, die von Musikern, Zuhörern und Finanziers der Kultur geprägt war. Sicher nie ein Massenphänomen, aber Ausdruck einer gesellschaftlichen Ordnung, die uns heute fremd geworden ist. Unschwer ist vorstellbar, dass hier strukturelle Potentiale geweckt wurden, die sich in allen Teilen der Kultur äußern konnten. Baumeister und Wissenschaftler, Gelehrte und kühne Denker, dies alles bildet sich in Gesellschaften aus, über die wir heute die Nase rümpfen, wenn man nicht in nostalgischer Verklärung die gute alte Zeit herbeisehnt. Aber es waren Gesellschaften im Wandel, die keine Blaupause der Entwicklung hatten, sondern in ihrer Dynamik wesentliche Vorläufer der wissenschaftlichen Revolutionen des 19. Jahrhundert bildeten. Keineswegs war die Kunstmusik nur als elitärer Überbau des Adels vom Volke völlig getrennt.  Von Telemann heißt es:

Nur ein Jahr nach dem Eintritt in die Universität gründete er für die musikalischen Studenten ein 40-köpfiges Amateurorchester (Collegium musicum), das auch öffentliche Konzerte gab.

Über die geistliche Musik, die in der Breite das Volk erreicht, kann man von einer Prägung des musikalischen Denkens der Zeit ausgehen.

Die Musik jener Zeit ist ein Spiegelbild dieser Dynamik. Der Kirchgänger und Konzertbesucher kann sich bei dem Erleben der Harmonien und der Imaginationskraft, dem Zusammenspiel der Kräfte lebhaft vorstellen, wie sich eine Gesellschaft, die so was hervorbringt, auch entwickeln kann.

Und heute? Die Kunst und Musik ist stets Ausdruck seiner Zeit und Gesellschaft. Es spiegelt das Empfinden der Menschen, das Denken, dass über den Einzelnen und seinen beschränkten Horizont hinaus geht. Auch in der aktuellen Rap-Musik liegen künstlerische Leistungen, die sehr wohl Ausdruck der Empfindungen sind. Es soll mir fern liegen, verächtlich über andere Genres zu urteilen. Auch in diesem Ausdruck liegt beachtliche Kreativität, von Sprachwitz und eigener Meisterschaft geprägt. Ob man das eine oder andere mag, sei eben Geschmackssache. Aber viele junge Menschen finden sich in dieser Zeit eher in der Rap-Musik wieder, die nicht die Vision einer gesellschaftlichen Harmonie der empfinden Menschen ausdrückt, sondern gesellschaftliche Probleme thematisiert, sowohl in Inhalt als auch in der Form.

Gesellschaftlicher Ausblick

Es wird erkennbar, dass die Rap-Musik zwar kritisch mit der Beobachtung der Gesellschaft umgeht und sich um ein neues Selbstverständnis müht, aber dennoch in visionslosen Zurückgeworfen-Sein auf das Individuum in einer hoffnungslosen Gesellschaft verweist. Zwar sind viele Standards der heutigen Zeit – medizinisch, technisch, rechtlich – weit höher als es in vergangen Zeiten kaum jemand zu träumen wagte. Dennoch bleiben Ungerechtigkeiten und Missstände bestehen, die wenig Perspektiven liefern, diese auch noch radikal zu verbessern. Rap Musik drückt zumeist eine perspektivlose Welt ohne Hoffnung auf eine leuchtende Zukunft aus. Ein wenig trotzig sucht man das Neue, ohne auch nur eine Idee zu haben, was es dann sein könnte, wohin denn die Reise gehen soll.

Der barocke Mensch, der wahrlich viel mehr als heute die Ungerechtigkeit und Missstände der Gesellschaft hätte beklagen können, sah sich in einer weit verbreiteten christlichen Lehre auf dem Weg zum Himmel, zu einem göttlichen Ziel. Dies war dann auch nicht nur ein spiritueller Akt des Seelenfriedens oder, wie Karl Marx meinte, Opium des Volkes, sondern zugleich Inspirationsquelle zu einer ersehnten Entwicklung, den Traum der Harmonie, der nach Verwirklichung strebt. Im Rückblick werden hier geschichtliche Kraftlinien deutlich. Wohgemerkt, es geht hier weniger die persönliche Spiritualität oder individuellen Glauben, sondern die feinen Grundschwingungen in der Gesellschaft, die den Basso Continuo angibt und auch jene prägt, die sich nominell davon emanzipieren. Die drei genannten Komponisten hat allerdings alle sehr enge Beziehung zu christlichen Glauben.

Telemann – eine Metapher

Heutige Menschen werden bei dem Namen an Television, an Talk-Shows und ander Formen der banalen Zerstreuung denken. Der Telemann als populärer Medienschaffender ohne wirkliche Bedeutung. Und das ist die moderne Grundform des gesellschaftlichen Denkens, dass sich auch in der Namensdeutung ausdrückt.

Georg Philipp Telemann (* 24. März 1681 in Magdeburg; † 25. Juni 1767) lebte in einer Zeit, in der daran selbstverständlich nicht zu denken war. Aus einer gebildeten Pastorenfamilie kommend wird er eher an die Teleologie, an Telos, das Ziel erinnern. Der Name stand dann eher als der Mann mit einem Ziel, der auch als Sinnbild der Zeit verstanden werden kann.

So wie man die Musik Telemanns als Indikator für eine grandiose kulturelle Entwicklung verstehen kann, deren Bezüge wir im Rückblick auch deuten können, stellt sich die Frage, was wir aus der aktuellen Gesellschaft, deren Musik und zeitgeistige Strömungen für eine Entwicklung erwarten können. Und da trüben sich die Hoffnungen. Hier weist nichts mehr über sich selbst hinaus, keine Vision, kein Streben nach Größerem. Eher die Verflachung im Verzehr des kulturellen Erbes … und das weckt Wehmut.

 

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