Gerechtigkeit, Gott und das Glück

Wer von Gerechtigkeit spricht meint heute ein Empfinden, dass allen Menschen gleiche Chancen zuspricht und Regeln, deren Verletzung einer Ahndung oder ‚Heilung‘ bedürfen. Dennoch bleibt unklar, ob dieses Empfinden ein Gewordenes und damit Kulturrelatives bleibt, oder ob es an das Absolute heranreicht. Früher sprach man von den Universalien: Gibt es die Gerechtigkeit, die Liebe, das Glück, die Freiheit etc. überhaupt? … oder ist es nur ein Attribut, eine Zuschreibung. Würde es die Gerechtigkeit als Absolutes nicht geben, so bliebe sie willkürlich und verfügbar. Jeder, der im Namen der Gerechtigkeit oder der Freiheit irgendetwas fordert, hätte nicht nur einen leeren Satz produziert, sondern man könnte jenem Irrelevanz unterstellen, weil ja sein Gegenüber eben ein anderes Empfinden habe … und was mache dann des Einen Empfindung gegenüber des Anderen vorzüglich?

Gehen wir aber von der Absolutheit der Gerechtigkeit aus, so werden wir gewisse Unterschiede in der Wahrnehmung erkennen – aber auch viele Gemeinsamkeiten. Man könne darum festhalten, dass die Wahrnehmung jener absoluten Gerechtigkeit, ähnlich der Wahrnehmung realer Dinge perspektivisch, zum Teil auch subjektiv verzerrt oder verkürzt ist. Irrtümer sind nicht ausgeschlossen. Darum lohnt auch das Nachdenken und die Erforschung der Gerechtigkeit, denn wir werden intuitive Irrtümer mehr und mehr vermeiden.

Gottes Gerechtigkeit?

Von der Annahme der absoluten Gerechtigkeit ist der Gedanke an Gott zwingend: Denn wenn es eine absolute Gerechtigkeit gibt, so bedarf diese eines Grundes, des letzten Grundes, und dieser wir spätestens seit Aristoteles in Gott gesehen. Es ist populär, die Frage umzudrehen und zu insinuieren, ob denn auch Gott der Gerechtigkeit unterworfen sei, oder ob seine Allmacht und Willkür die Gerechtigkeit außer Kraft setze, ihn sozusagen außerhalb der Verpflichtung zum gerechten Handeln stellt. So auch in der Frage der Theodizee. Abgesehen von der Antwort von Leibnitz und nachfolgender erscheint die Frage durchaus lösbar, wenn man die logische Widerspruchsfreiheit unterstellt: Gott ist das Wesen der Gerechtigkeit. Er kann nicht wirklich gerecht als ein beliebiges Attribut, das er haben könnte oder nicht, wenn es diese absolute Gerechtigkeit gibt, denn er ist selbst die Gerechtigkeit. Anders könnte es nur sein, wenn Gott die Gerechtigkeit lediglich geschaffen hätte, wie die Zeit und das Universum. Dann aber würde es als ungerecht empfunden werden, würde Gott sich nicht an die Regeln halten, die er selbst schuf – also eine Inkonsistenz.

So mag man im Nachdenken über Gott und die Gerechtigkeit den Himmel – die Seligkeit nach oder außerhalb des irdischen Daseins – als einen Zustand der Kompensation verstehen. Denn offensichtlich geht es auf der Welt nicht gerecht zu: Manche haben über die Eltern und Genetik bereits vor der Geburt ein schweres Schicksal zu tragen, andere sind von klein auf Rosenblüten gebettet. Und so mancher Bösewicht, Verbrecher oder Diktator, hat bis zu seinem Tode die Rechnung nicht ausgeglichen.

Das Jüngste Gericht und die Herrlichkeit des Himmels können das Unrecht der Welt heilen. Denn alles Leid der Welt, selbst das erschreckendste, wird klein vor der Herrlichkeit des Himmels. Wer diese gedanklich ausschließt, wird das Konzept der Gerechtigkeit als grundsätzlich unlösbar sehen: Gerechtigkeit bliebe auf immer ein unerreichbares Ideal. Warum einer Idee folgen, die notwendig jenseits der Realität bliebe? Warum sich eine Gerechtigkeit wünschen, die es nicht geben kann?

Ist der Himmel darum ein religiöses Konstrukt, dass dem Wunschdenken entspricht? Vielleicht … aber was wäre die Alternative? Eine Welt vom Zufall oder Willkür geprägt ist, in der Vorstellungen von Gerechtigkeit leere Werte bleiben? Gibt es irgend etwas, dass uns nötigt, diese Position einzunehmen? Wer hier keinen Grund sieht, an ein kaltes und totes Universum zu glauben, für den ist die himmlische Gerechtigkeit eine Notwendigkeit, kein beliebiger Wunsch.

Ein Gedankenspiel mit einem Konto

Stellen wir uns vor, dass es Menschen gibt, die ihre Leben als ein Geschenk des Glücks oder eben Gottes ansehen. Hätte dann nicht jeder ein Anrecht auf jenes Glück? Denn würde Gott nur jenen beliebig hold sein, die er in Willkür erwählte, andere aber nicht des Glücks teilhaftig werden lassen, so würden wir dies nicht als gerecht erkennen. Also stellen wie die These der Gerechtigkeit Gottes auf, dass jeder mit gleichem Maß am Glück teilhaben kann. Zwar erscheint es schwierig, Glück zu messen, denn es gibt die wilde Ekstase, wie auch das stille Glück der Zufriedenheit. Ausgehend vom Gedanken der absoluten Gerechtigkeit und der Kompensation für entgangenes irdische Glück im Himmel wird es aber auch dann eine voll gültige Antwort geben müssen, auch wenn wir es nicht vollends verstehen können. Das Glückskonto wäre dann im Himmel ausgeglichen.

Aber wäre dann jenes Konto am Ende immer gleich groß? Das wäre unmoralisch und ungerecht, denn der Mensch würde für zugefügtes Leid und unrechtmäßig geraubte Freuden nichts zurückzahlen müssen. Die Bilanz kann ausgeglichen werden, aber das Volumen sollte jeweils unterschiedlich sein.

Wer also unverschuldetes Leid erduldet, muss dafür eine Kompensation erhalten. Wer aber das Geschenk der Freude, dass er auf Erden selbst ausschlug und nicht wahrnahm, kann selbstverständlich nicht mit einer himmlischen Kompensation rechnen. Auch müsst von dem Kontovolumen, das Leid abgezogen werden, dass er Dritten zufügte.

Diese Vorstellung von Gerechtigkeit ist bereits im Alten Testament mehr oder minder stark ausgedrückt. Es äußert sich auch im Talionsprinzip der Vergeltung. Jesus bringt im Neuen Testament noch einen weiteren Gedanken ein.

Was bedeutet Gnade?

Gemeinhin betrachtet man Gnade im Gegensatz zur Gerechtigkeit: Wir wollen Gnade vor Recht walten lassen … Das heißt, dass es nach dem Recht zu einer Vergeltung kommen müsste, aber Gnade und Vergebung hebt dieses Recht auf. Dann aber wäre der Gerechtigkeit nicht genüge getan. Würde jemand Vergebung erlangen und müsste die Schuld nicht begleichen, aber ein Dritter wurde nicht schuldig und erhält dennoch das gleiche Maß, so hätte jener nach der Gerechtigkeit ein Recht zum Schulderzeugen ja frei. Das aber wäre auch nicht gerecht.

Mehrere Lösungsmöglichkeiten bieten sich an: Gerechtigkeit wäre parallel zur Gnade nur eine untergeordnete Universalie, die von der Gnade außer Kraft gesetzt werden könnte. Aber wird dadurch das gesamte Konzept der Gerechtigkeit invalide, wenn sie nur teilweise Gültigkeit erlange?

Die christliche Antwort ist die Selbstopferung Gottes in Jesus, der darum die Gerechtigkeit herstellte, indem Gott selbst den Preis der Gerechtigkeit beglich. Dies ist heutzutage keineswegs unmittelbar einsichtig, denn gemeinhin stellen diejenigen, die Gott Existenz und Allmacht zugestehen das Recht zu, sich über die Gerechtigkeit hinwegzusetzen. Dann aber könnte Gerechtigkeit nicht das Wesen Gottes sein sondern etwas Relativierbares. Wohlgemerkt, es geht nicht mehr um mehr oder minder konstruierte Dilemmata, sondern um das Prinzip der Gerechtigkeit an sich. Wer dagegen nicht von der Existenz Gottes ausgeht oder die Absolutheit der Gerechtigkeit in Abrede stellt, verliert seine Verankerung im Prinzip der Gerechtigkeit, und kann somit jede Gräueltat rechtfertigen.

In der christlichen Diktion wird also der vermeintliche Gegensatz zwischen Gerechtigkeit und Gnade aufgelöst – und nur in dieser. Dem Buddhismus und Hinduismus ist die Gerechtigkeit an sich fremd, und der Islam stellt die Gerechtigkeit unter die Willkür Gottes.

Damit bewegt sich die Gnade Gottes nicht mehr im Gegensatz zur Gerechtigkeit, aber lässt auch der Willkür der Gnadengewährung keinen Raum. Warum sollte einem Menschen die unbedingte Gnade der Vergebung gewährt werden, dem Anderen aber nicht? Aus der Überlegung der Gerechtigkeit muss jeder den Zugang zur Gnade haben. Da aber keine Pflicht in der Gnade sein kann, ist es die Wahl des Menschen, der diesen Unterschied macht:

19 Ich rufe heute den Himmel und die Erde als Zeugen gegen euch auf: Das Leben und den Tod habe ich dir vorgelegt, den Segen und den Fluch! So wähle das Leben, damit du lebst, du und deine Nachkommen,

5.Mose 30

In der christlichen Theologie ist nun die Frage häufig gestellt worden, in wie weit diese Wahl den frei sei, oder gar als Werk zu betrachten wäre, die der Gnade widerspräche. Die m.E. einzig konsistente Lösung dieser Fragen ist, dass Gott diese Freiheit nicht nur grundsätzlich möglich gemacht hat, sondern individuell jedem Menschen diese Wahl vermittelt. Die Wahl mag sich in einem bewussten Denken und Entscheiden äußern, kann oder aber in der eher impliziten Handlung, zu der er ebenso die Alternativen hätte.

Jener Zugang zur Gnade, die eine Generalamnestie ermöglicht, wird durch die Entscheidung im Besonderen auf die Botschaft vom Kreuz manifest. Will ich die Vergebung überhaupt? Will ich mich der Gnade Gottes unterwerfen? … und was heißt das?

Atheisten, Agnostiker und Andersgläubige gibt es ggf. andere Formen der Entscheidung, die es aber in eine Weise geben muss, die der Gerechtigkeit genügt. Aus der Innensicht jener aber ist Gnade und Schuld kein Begriff der Metaphysik und Absolutheit, sondern eine kontingente Befindlichkeit … was aber zu den o.g. genannten inneren Widersprüchen führt.

Gerechtigkeit in Prinzip und Praxis

Wir wissen, dass die Vorstellung der Gerechtigkeit zwischen den Kulturen und Individuen unterschiedlich verstanden wird. Das aber setzt die Absolutheit der Gerechtigkeit nicht außer Kraft, sondern lediglich die Wahrnehmung jener als ein geprägtes Konstrukt. Unabhängig davon bleibt das Prinzip der Gerechtigkeit auch ohne detaillierte Spezifikation unangetastet und ein notwendiges Ideal.

Stellen wir uns einen Unrechtsstaat vor, der Menschen knechtet und versklavt. Natürlich erlässt er Gesetze, die sein Verhalten rechtfertigen. Würde es kein im Absoluten verankerten Begriff der Gerechtigkeit geben, hätten wir keinen Maßstab, das eine Unrecht zu nennen, das andere aber nicht. Darüber hinaus gibt es wegen menschlicher Unzulänglichkeit keine finale irdische Gerechtigkeit. Wir können lediglich diese anstreben, aber erreichen werden wir sie nicht. Weder können wir die zugrunde liegende Befindlichkeit irrtumsfrei erkennen – es gibt allzu oft Fehlurteile -, noch haben wir hinreichende Sicherheit, dem Ideal der Gerechtigkeit so nahe gekommen zu sein, dieser Gerechtigkeit selbst zu entsprechend. Dennoch befreit uns dies nicht von der Pflicht, eben jene Gerechtigkeit zu suchen und die Unzulänglichkeit zu minimieren.

Das heißt weiter, dass die menschliche Gerechtigkeit nur vorläufig sein kann. Die Funktionen des Rechts sind viel mehr, die öffentliche Ordnung sicherzustellen als die Verletzung der Gerechtigkeit zu heilen. Der Verbrecher sühnt somit nicht seine Schuld im Urteilsspruch, sondern empfängt eine vorläufige Disziplinarstrafe.

Es gibt somit keinen Anspruch auf das Glück, dass einklagbar wäre, sondern das Leben, einschließlich des Glücks ist ein Geschenk. Dieses bewegt sich zwar nicht in den Parametern der Willkür, aber es ist auch nicht Gegenstand eines starren Regelwerkes. Es folgen aus dieser Überlegung sehr wohl herleitbare Empfehlungen zum Umgang mit diesem Geschenk.

Moralische Konsequenzen

Gerechtigkeit ist darum unbedingt anzustreben, denn die Missachtung der Gerechtigkeit führt zur Schuld und Übertretung, die wiederum eine Hypothek der Vergeltung bedingen. Eine Spekulation auf eine Vergebung kann nicht folgenlos funktionieren. Gerechtigkeit erschöpft sich auch nicht in einer formellen Beachtung starrer Regeln, deren Übertretung zu meiden ist, sondern verpflichtet zur aktiven Teilnahme an der Bekämpfung der Ungerechtigkeit.

Zugleich ist aber die Lebensfreude, der Genuss der Gaben, die uns Gott zubilligte, auch eine Verpflichtung, den Geber dieser Gaben zu ehren. Zumindest soweit es sich um die Gaben handelt, die nicht im Konflikt mit der Gerechtigkeit stehen. Ist darum der Drogenkonsum als Quelle der Freude eine zulässige Quelle des Glücks? Wohl kaum, denn er sucht einen künstlichen Zustand, der die reale Grundlage verlässt.

Dies erzeugt eine Spannung, denn eine lustfeindliche Askese hat keinen Wert in sich selbst, aber die Verpflichtung zur Gerechtigkeit kann zum Lustverzicht führen. In einem aufopferungsvollem Leben kann auch eine besonder Freude auf Erden innewohnen, die lediglich nur nicht den verbreiteten Vorstellungen des Glücks entspricht. Diese Spannung führt dazu, dass es oft keinen einfachen Pfad des guten Lebens geben wird, aber die Möglichkeiten eine Wahl zwischen richtig und falsch bekommt eine Richtung.

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