Engel – Bilder – Vermittlung

Dem naturwissenschaftlich denkenden Menschen erscheint die Vorstellung von unsichtbaren Geistwesen, die hier im Zeitlauf der Welt wirken, abstrus und ein Relikt aus vergangenen Zeiten. Dennoch glauben einigen Umfragen zufolge mehr Menschen an die Existenz jener Engel als an die Existenz eines Schöpfergottes. Dem Theologen sind die Engelvorstellungen auch eher schwierig. Wofür braucht ein allmächtiger Gott noch zusätzliche Geistwesen als Gehilfen? Aber genau so könnte man fragen: Wozu braucht er Menschen? In wie weit sind Engelsvorstellungen Bilder von einer anderen Realität? Oder sind diese Vorstellungen reine Illusion, ohne wahren Bezug zur Realität?

Wer zur Existenz oder Nichtexistenz jener Engel bereits eine feste Meinung hat, wird wohl kaum weiter darüber nachdenken wollen. Aber letztlich führt dies zurück in die Frage: Was ist überhaupt real? Was hat überhaupt ‚Existenz‘? Gemäß Platons Höhlengleichnis ist das, was wir gemeinhin für die Realität halten, nur wie ein Schatten an der Wand. Durch die Quantenmechanik wissen wir, dass die vermeintlich festen Stoffe nicht nur aus sehr vielen Molekülen und Atomen bestehen, sondern diese wiederum aus unglaublich schnell rotierenden Energiefeldern. Es ist ein Wunder, dass diese Stoffe über Jahrmillionen bestand haben können, wenn sie sich doch innerhalb von Nanosekunden tausendfach verändern. Auch Einstein wusste, dass es keine feste Grenze zwischen Materie und Energie gibt. Gibt es nun eine feste Grenze zwischen dem Bild und der Realität?

So ist die Frage, ob ein Bild existiert oder nicht, weit weniger einfach zu beantworten. Ein Gemälde auf einer Leinwand hat offensichtlich eine physische Existenz. Ebenso eine Kopie, wobei sich hier die Frage nach der Identität stellt. Was aber ist mit den elektronischen Abbildungen in flüchtigen Speichern? Oder mit Bildern, die in der Vorstellung und in Beschreibungen ‚existierten‘, nie aber materialisierten? Ist die Existenz eines mit echten Schauspielern gedrehten Films eine andere als die einer Computeranimation? Wenn ein Bild als Vorstellung existiert, dann hat es offensichtlich einen Existenzmodus. Wenn es zudem die Realität zutreffend abbildet, ist es dann noch ‚weniger‘ existent als ein physisches Bild, das aber manipuliert wurde und die Realität eben nicht zeigt?

Spiegelkabinett

Die Idee ist es, so viele Spiegel in Winken aufzubauen, dass man die gleiche Person mehrfach sieht und als Dritter kaum noch unterscheiden kann, was denn Abbild ist und was real. Nur man selbst weiß, wer real ist und wer Abbild. Sind die Bilder denn auch wahr und nicht nur Illusion? Die Spiegelbilder sind selbstverständlich real, die Physik ist da ganz klar, und sie zeigen auch Reales. Aber sie sind nicht das Original. Zerrspiegel hingegen verändern nicht die Wirklichkeit, sondern zeigen eine Abbildung, die eben nicht der Wirklichkeit entsprechen. Die Grenze zur Illusion wir überschritten.

Die Frage, wie ein Bild mit der Realität korrespondiert, ist nicht einfach. Denn einerseits können wir die Realität nur in unserer Vorstellung erfassen, also in Bilden. Zugleich aber wissen wir von Lügen und Irrtümern, auch in der Welt der Bilder. Viele Vorstellungen gelten heute als überhohlt und nicht zutreffend … aber kann man dieses Urteil stets zuverlässig treffen? Was ist Gleichnis – was Realität?

Die Bibel ist voll von Gleichniserzählungen und Bildern, die einen realen – aber vermutlich schwer verständlichen – Sachverhalt vermitteln will. Bei einigen Erzählungen, die nicht ausdrücklich als Bild erkennbar sind, liegt aufgrund stilistischer und inhaltlicher Angaben nahe, dass sie sich ebenfalls um bildhafte Darstellungen handelt. Zum Beispiel die Paradieserzählungen, die Sintflut, Jonas Reise im Buch des Fisches uvm. Könnte es sich bei den Engelsbegegnungen auch eher um bildhafte Darstellungen von weit weniger fassbaren Ereignissen handeln?

Wirksame Erzählungen

Es scheint einen großen Unterschied zwischen der Wahrnehmung der möglichst präzisen Geschichtsschreibung und der Bildung von Legenden zu geben: Das Eine sei eben wahr und bedeutsam, das Andere eben nur erfunden und eigentlich unwichtig. Die Wirkgeschichte ist dagegen eine Andere. Reale Ereignisse, ganze Weltreiche, geraten oft in Vergessenheit, wenn der Staub der Geschichte sie verdeckt- Legenden aber haben oft ein langes Leben. Dabei ist es sekundär, ob sich das legendäre Ereignis möglicherweise sogar realhistorisch zugetragen hat, zumindest einen geschichtlichen Kern hat, eine Verbildlichung von realen Befindlichkeiten darstellt, oder gar eine wirklichkeitsverzerrende Illusion ist. Es macht sogar nur einen kleinen Unterschied, ob die Erzählung für einen Bericht realer Ereignisse gehalten wird, oder ob die Zuhörer und Kolporteure sie lediglich für Parabeln halten. Legenden haben mitunter eine nachweisbar prägende Wirkung in der Geistesgeschichte. Sind sie darum weniger real als die vergessenen realhistorischen Ereignisse?

C.G. Jung sprach oft von Archetypen, also Bildern im kollektiven Unbewussten, die zuweilen sich in unterschiedlichen Formen manifestieren. Handelt es sich bei Engeln und Dämonen um eben solche? All das bleibt rätselhaft und sollte die für selbstverständlich gehaltene Realitätssicht ins Wanken bringen: Warum sollte ein naturalistisches Weltbild besser die Realität erkennen? Sie hängt sich an eine triviale Abbildungsebene, die sehr wohl eine gewisse Funktionalität hat, letztlich aber an den großen Fragen der Menschheit versagt und oft nur unbefriedigende Antworten liefert: Warum gibt es überhaupt etwas und nicht nichts? Warum gibt es einen Zufall? Warum gibt es mich? Hat mein Leben einen Sinn?

Die Idee des Naturalismus

Das Argument der Naturalisten ist, dass es darum geht, Illusionen zu vermeiden und die Realität so zu erkennen, wie sie ist – auch wenn das Ergebnis weniger befriedigend sein mag und viele Fragen zunächst offen bleiben. Was zählt, ist das Entmythologisieren. Also das Abstreifen von Mythen zugunsten einer zutreffenden Realitätserkenntnis und damit Welterklärung.

Naturalismus benötigt Prämissen. Im Besondern, dass die Triebkräfte jenseits der Alltagserfahrung eben nicht dem Bereich des Supernaturalen zuzuordnen sind.

Das naturwissenschafliche Experiment, die Wiederholbarkeit von Versuchen, der Verweis auf robuste Belege und die Plausibilität sind Grundlagen der wissenschaftlichen Methode. Die Erfolge sind grandios, und es ist angemessen, von den großen Errungenschaften der Menschheit zu sprechen. Dazu gehört auch der methodische Naturalismus, also die Annahme, dass übernatürliche Wirkmächte nicht existieren. Aber auch wenn die Erfolge in der Technik äußerst beeindruckend sind, so sind es auch die wissenschaftlichen Irrtümer.

Die Existenz von Dingen, die vordem unbekannt waren und die man als übernatürliche Fabeln betrachtete, erwiesen sich oft später als naturwissenschaftliche Fakten. Kommen die Verhalten von intentional wirkenden Akteuren, vor allem Menschen ins Spiel, sind die Möglichkeiten des Experiments begrenzt. Ergebnisse lassen sich nur bedingt reproduzieren. Man bemüht die Statistik, um die erkennbaren und nicht näher fassbaren Freiheitsgrade wegzubügeln: Der Wissenschaftler will eine wohl geordnete, ja eher mechanische Welt, die er auch strukturiert untersuchen kann.

Dadurch, dass damit aber viele Fragen nur unbefriedigend oder gar nicht beantwortet werden können, lässt die Alternative logisch vorzüglich erscheinen: Wenn die Welt eben real von supernaturalen Kräften beeinflusst wäre, würde man sich systematisch der Realitätserkenntnis verschließen. Was wäre damit gewonnen? Man würde sich lediglich auf eine andere Illusionsebene begeben und von sich dünken, die Realität im Griff zu haben. In diesem Fall wäre man kaum von einem Solipsisten zu unterscheiden, einer Art weltanschaulicher Autisten … nur, dass man diese Illusion eben so kollektiv betreibt wie die Anhänger einer abstrusen Sekte. Die Anhänger jener Sekte leben dann in einem geschlossenen Weltbild, in der scheinbar alle Menschen – die sie wahrnehmen – das gleiche für wahr halten. Eigene Zweifel werden dann mit dem Verweis auf Dritte oder das Kollektiv, die es doch besser wissen, davon gewischt.

Wie aber verhindere ich, dass ich nicht selbst in einer Illusion gefangen bin, nicht nur jene Andere, denen ich genau das unterstelle? Hier gibt es keine Silberkugel, die die Dämonen tötet. Ein sicheren Schutz gegen Irrtum ist nirgends zu finden. Zwei Rezepte aber stechen hervor:

Prüft alles, das Gute behaltet

Es ist kein radikaler Skeptizismus, denn jener verliert sich auch in der Frage, was denn das Gute sei. In der Tat ist das Gute in der Erkenntnis kein archimedischer Punkt, von dem sich aus alles erschließt. Aber einiges kann man als dem Guten ausschließen. Eine Illusion, die sich von der Wirklichkeit abwendet und die Wahrheit verschleiert, kann nicht gut sein. Eine Einstellung, die zum Nihilismus, zu Leid, Tod und Gewalt führt, kann nicht gut sein. Es ist erstaunlich, wie weit die Suche führt, wenn man diese Prinzip ernst nimmt und schlicht das Ungute eliminiert.

Wichtig ist lediglich, dass man das ‚alles‘ auch ernst nimmt. Auch vorläufige Zwischenergebnisse, ein alter Gaube, feste Überzeugungen, vermeintliche Selbstverständlichkeiten … müssen immer wieder auf den Prüfstand. Vielleicht nicht ständig, aber doch wiederkehrend.

Wage den Glauben

Da wir keine Sicherheit haben, glauben wir immer irgend was. Einen Glauben zu wagen heißt, sich bewusst darauf einzulassen, was man für wahr hält. Denn ohne nachzudenken glauben wir eben das, was uns tradiert oder weisgemacht wurde. Das muss nicht falsch sein, aber unreflektierter Glaube hat eine geringere Chance, die Realität zu treffen. Das sieht man daran, dass es unzähligen Glaubensvorstellungen gibt, die sich gegenseitig ausschließen. Daraus folgt, dass die Mehrheit das Unzutreffende für wahr hält. Mehrheiten können zwar kein Garant für Wahrheit sein, aber sie können erkannbar machen, dass es eben keine wahrheitsvermittelnde Mehrheiten geben kann.

Wahrer Glaube wäre nun jene Ansicht, die weitgehend zutreffend die Realität beschreibt ohne über den zwingenden Beweis dafür zu verfügen. Die Wahrscheinlichkeit, dass durch Nachdenken eine besser Lösung als die Tradierte gefunden wird, ist darum naheliegend, denn wir können einige Fehler der tradierten Erkenntnisse aufspüren und damit den Weg zum Guten beschreiten.

Um einen Glauben unter Ungewissheit zu wagen, sind Empfehlungen zu beachten:

Keine letzte Gewissheit

Es ist schwer zu akzeptieren, dass eine letzte Gewissheit nicht zu erreichen ist. Dies aber führt zu einer kaum austarierbaren Spannung. Natürlich sind Gewissheiten zu suchen und das als falsch Erkannte auszuschließen. Der Glaube an Widersinniges kann nicht wahr sein. Ist aber gewiss, was widersinnig ist und was nicht? Wenn aber eine letzte Gewissheit nicht zu erwarten ist, dann ist diese auch nicht als Maßstab und unbedingtes Ziel zuoberst zu stellen.

Erkenne die Irrtümer

Glaube neigt dazu, sich vor leichtfertigem Zweifel zu schützen und die Festigkeit der Überzeugung als Tugend zu verstehen. Dies aber kann ebenso dazu führen, dass man auch an Irrtümern festhält, die als solche erkennbar sind. Und das wäre natürlich kein wahrer Glaube, sondern eine Realitätsflucht. Hier gilt das Korrektiv: Prüft alle, das Gute behaltet.

Suche das Gute!

Was aber soll man dann glauben? Wenn es die Wahl zwischen verschiedenen Ungewissheiten gibt, so wird man zunächst die Bewertung der Ungewissheit nach Plausibilität vornehmen, aber auch das führt meist nicht wirklich zur Klarheit. Das Gute selbst bleibt auch unscharf, aber weit weniger unklar als es Skeptiker weis machen wollen. So ist das Leben fraglos besser als der Tod, die Liebe besser als die Gleichgültigkeit oder der Hass, die Wahrheit besser als der Irrtum oder die Lüge. Daraus leitet sich wesentliches ab: Die Liebe ist das Prinzip des Lebens in Wahrheit.

Zurück zur Ausgangsfrage:

Soll man an Engel glauben?

Mit dem nun erarbeiteten Rüstzeug wissen wir noch immer nicht, ob es sich Engelsvorstellungen auf reale eigenständige Geistwesen beziehen oder bildhafte Vorstellungen. Wer es so oder so auffasst kann aber nach der Funktion der Vorstellung fragen: Sind sie gut? Wenn sie Trost spenden und die Angst vor dem Ungewissen lindern, dann sind sie gute Beschützer. Wenn sie aber vom Wesentlichen ablenken und sich in abergläubischen Kulten verdichten, sind sie wohl nicht gut zu nennen.

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zum Bild oben: Marc Chagall Abraham und die drei Engel / 1960 –  1966/ Öl auf Leinwand © VG Bild-Kunst, Bonn 2015

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