Diskurs und alternative Fakten

Unlängst machte die Bundeskanzlerin von sich reden, dass sie den Anspruch der Wahrheit in besonderer Weise vertrat:

Merkel sagte, der Umgang mit dem Phänomen werde „vielleicht auch eine Aufgabe für Psychologen sein.“ Forschung zur Frage sei nötig: „Wie verabschiedet man sich eigentlich aus der Welt der Fakten und gerät in eine Welt, die sozusagen eine andere Sprache spricht und die wir mit unserer faktenbasierten Sprache gar nicht erreichen können?“ Es gebe bei Anhängern solcher Denkmuster „eine richtige Diskussionsverweigerung“.

Tagesschau vom 15.12.2020

Abgesehen von der Drohung mit der Psychiatrie für Kritiker und Oppositionellen, die an die finstersten Zeiten des Nazi- und stalinistischen Terror erinnern, führt zum Entsetzen, dass sie nahezu die Vorwürfe an sie spiegelt, die seit langer Zeit an die Regierung gerichtet wird. Was ist nun richtig? Natürlich ist es, wenn jemand glaubt, die eigene Weltsicht sei wahr. Problematisch ist, wenn jeder Zweifel daran ausgeschlossen wird. Im Besonderen der Anspruch, das Eigene sei ausschließlich auf Fakten beruhende Ansicht, quasi unhinterfragbar.

Wer verweigert den Diskurs, wenn man den Meinungsgegnern unterstellt, dass sie nicht faktenbasiert argumentieren? Darf man nicht den Fehler eines Grabenkampfes machen, sondern muss zum offenen Diskurs zurück kehren? Was ist, wenn zumindest ein Seite recht hätte, und die Gegenseite tatsächlich keinen Diskurs will?

Fraglos ist ein einseitiger Diskurs nicht möglich. Appelle an die Gegenseite sollten unter das Licht Jesus gestellt werden, die nach dem Splitter im Auge des Nächsten fragt, während man den eigenen Balken übersieht. Bevor wir das eigen Verhalten aber kritisch prüfen, sind einige Vorüberlegungen erforderlich.

In der Tat gibt es unverhandelbare Fakten. Wenn der Lehre in der Schule erklärt, das Zwei plus Zwei Vier sei, dann sind abweichende Ansichten eben kein Grund zum Diskutieren, sondern schlicht falsch. Allerdings gibt es in der realen Welt selten derartig einfache Antworten – zumindest sind die Punkte, die man so leicht klären kann, kein Thema im Diskurs. Die Behauptung, die sich mit der Autorität der Fakten schmückt, bedarf aber der doppelten Klärung.

Fallbeispiel

Nehmen wir als Beispiel die Aussage des RKI vom 19.12.2020 dass an und mit COVID-19 25.640 Todesfälle deutschlandweit gab und dass es 31.300 Neuinfektionen seit dem gab. Es ist ein gut belegtes Faktum dass das RKI das so gemeldet hat. Die Frage bleibt: Ist diese Meldung aber sachlich korrekt und gut begründet? Und: Was bedeutet diese Aussage?

Zum Einen weiß man, das Viren mutieren. Demnach ist es auch üblich, die jeweiligen Infektionssaison zu trennen, z.B. bei der Influenza, wo nach Stämmen und Jahren unterschieden wird. Demnach sollten die COVID-20 Fälle nicht mit den COVID-19 Fällen summiert werden. Ferner ist die Frage, wie viele der Todesfälle es auch ohne einem positiven Test gegeben hätte. Denn es ist bekannt, dass über die Hälfte der Todesfälle sich auf 80 Jahre und Älter bezieht und man von einer Co-Morbidität von 2,6 ausgeht. Es ist die Frage von statistischen Modellen, wie viele Lebensjahre durch die Erkrankung verloren gehen, in der viele nicht-überprüfbare Annahmen einfließen.

Die Bedeutung der Zahlen müssten eigentlich stets in Bezug zur Gesamtsterblichkeit gesetzt werden. Sterben deutlich mehr Menschen als gewöhnlich, spricht man von einer Übersterblichkeit. Nur konnte man zuweilen keine oder nur geringe Übersterblichkeit feststellen. Und auch das sind Fakten. Die aktuelle Übersterblichkeit bezieht sich überwiegend auf alte und kranke Menschen, die vermutlich ohnehin nur noch eine geringe Lebenserwartung hatten. Es ist zwar nicht unerheblich, dass ein älterer Mensch stirbt, der ansonsten vielleicht noch Monate hätte weiter leben können, aber es verändert die Sichtweise auf die Schwere des Problems. Darüber hinaus ist meist einer verschlechterten Versorgung gerader Hochbetagter zu rechnen, ein Teil der Todesfälle ist demnach auf die Maßnahmen zurückzuführen. Gravierender ist, dass das Sterben jener in Isolation, ohne Begleitung durch Angehörige und Helfer diese besonders grausam ist. Erschütternd ist, dass derartige Argumente völlig ignoriert werden, und das man sich ignorant ausschließlich um Sterbezahlen kümmert.

Fakten implizieren Exaktheit. Wenn das RKI nun von Infizierten, oder Neuinfizierten spricht, dann ist dies alles andere als Exakt. Denn die Dunkelziffer, also diejenigen, die sich infiziert haben, aber nicht getestet wurden, kann nicht festgestellt werden. Auch diejenigen, die neu getestet wurden, aber bereits länger infiziert waren, gar die Infektion überwunden haben, fallen laut deren Aussagen unter ‚Neuinfizierte‘. Schließlich gib es die Zahl der False-Positive, also positive Testergebnisse, die aber keine Infektion korrekt melden. Die Anzahl der Testungen ist maßgeblich für die Anzahl der positiven Testungen verantwortlich. Es ist darum eher ein grober und unscharfer Indikator, von steigenden Fallzahlen zu sprechen. Letztlich gibt es wohl auch eine stattliche Zahl symptomfreier Infektionen, bei denen der Infizierte gar nicht weiß, das er eine Infektion hat oder bereits überwunden hat.

Nach der Faktenklärung bleibt aber die Frage nach deren Bedeutung und der Konsequenzen daraus: Welche Maßnahmen sind daraus abzuleiten? Wenn behauptet wird, dies würde alternativloses Handeln erfordern, ist dies faktisch falsch. Denn selbstverständlich sind viele Alternativen im Handeln möglich. Manche Alternativen können schlechter sein, aber unter Abwägung aller Ungewissheit und Prioritäten ist es eben unklar, ob es nicht bessere Handlungsalternativen gibt. So wird festgestellt, dass die Hochrisiko-Gruppen nach wie vor unzureichend geschützt sind, obwohl dies seit Monaten angemahnt wird. Diverse Maßnahmen, die ergriffen werden, scheinen das Infektionsrisiko nicht erkennbar zu reduzieren, sind aber extrem teuer – sowohl finanziell, als auch auf menschlicher Ebene. Die Risiken im öffentlichen Nahverkehr werden dagegen weitgehend unterschätzt.

Pauschalvorwürfe an den Meinungsgegner

Es erscheint, als ob der Vorwurf, nicht ‚faktenbasiert‘ zu argumentieren, alle die trifft, die nicht der eigenen Ansicht folgen. Dies wäre aber faktisch falsch, denn es kann gezeigt werden, dass sich Kritiker oft stärkerer faktenbasierter Argumente bedienen. Kann es sein, dass aber jene gar nicht gemeint sind? Vielleicht sind nur jene gemeint, die sich eben nicht auf Fakten stützen? Wir können rein faktisch festhalten, dass es eine erheblich Gruppe von Kritikern gibt, die gute Argumente vortragen und auch diskursbereit sind.

Dann aber wäre festzuhalten, dass ein Diskurs mit jenen nicht oder nur in wesentlich geringerem Maß statt findet. Wären also nur Dritte gemeint, müsste gefragt werden, warum es dennoch keinen klaren offenen Diskurs gibt. So wäre das öffentlich-rechtliches Fernsehen und der Rundfunk die geeignete Plattformen dazu. Auf diesen Kanälen wird aber überwiegend, nahezu ausschließlich eine einseitige Regierungssicht kolportiert. Meinungsgegner werden überwiegend als Spinner, Covioten, Verschwörungstheoretiker, Rechte … in jedem Fall als nicht ernst zu nehmende Diskussionspartner disqualifiziert. Ausnahmen werde nicht gemacht.

Berechtigte irrationale Kritik?

Nun gibt es tatsächlich Menschen, die keine gut fundierten Gegenmeinungen haben, aber dennoch ein dumpfes Misstrauen gegenüber der Regierung oder gegen deren Kritiker äußern. Manche vertreten Überzeugungen, die wohl weder seriös klingen, noch sind diese bereit, ihre eigen Ansicht zu hinterfragen. Dürfen sie darum ausgegrenzt werden? Ist deren Standpunkt nicht berechtigt?

Wenn es von dieser Seite Menschen gibt, die nicht diskursbereit sind, dann dürfen sie nicht als Alibi missbraucht werden, mit den Diskursbereiten keinen Diskurs zu suchen, denn das würde lediglich den eigenen Mangel an Diskursbereitschaft dokumentieren. Die Methode, Pauschalvorwürfe als Alibi zu verteilen, ist verwerflich!

Woher kommt nun die irrationale Kritik und das Misstrauen? Nun ist es unter Menschen stets so, dass eine Bandbreite von Einstellungen unvermeidlich ist. Allerdings ist es Apriori nicht klar, ob jene so charakterisierten überhaupt zutreffend erkennt werden – also bevor sie die Chance hatten, sich zu erklären. Bestätigt sich aber diese Ansicht, würden die eigenen ernstgemeinten Diskursangebote ungenutzt verhallen. Also ist die Annahme, der Meinungsgegner sei nicht diskursbereit als Begründung, selbst nicht den Diskurs zu suchen, in jedem Fall kontraproduktiv. Wenn er berechtigt wäre, würde es nicht schaden, die eigene ernstgemeinte Diskursbereitschaft zu demonstrieren.

Zur Berechtigung irrationaler Kritik liefert das Grundgesetz die Grenzen: Nicht die sachliche und methodische Fragwürdigkeit, sondern die ausschließlich Verletzung der Rechte Dritter und der Bruch von gesetzlich festgelegter Normen sind die Grenzen der Meinungsfreiheit. Also ist auch unsachliche Kritik im rechtlichen Sinn zulässig. Die Gründe für eine unsachliche Kritik mag dadurch befeuert werden, dass ein offener Diskurs mit sachlich argumentierenden Kritikern nicht oder nur unzureichend statt findet. Er gibt der Ansicht Nahrung, dass es eine Klärung durch einen Diskurs nicht gibt und darum despotische oder manipulative Verfahren das Misstrauen auch dann rechtfertigen, wenn man keine konkreten und schlagkräftigen Argumente vorweisen kann.

Prüfung der eigenen Diskursbereitschaft

Die Frage aber bleibt, ob der Meinungsgegner mit seinem Vorwurf recht haben könnte, dass man selbst nur ballistisch-ignorant reagiert und nicht bereit ist, die eigene Position zu hinterfragen. Natürlich ist ein ständiges und über-selbstkritisches Prüfen nur eingeschränkt möglich. Zudem mag man die Stärke des eigenen Argumentes unterminieren, wenn ständig an dessen Stichhaltigkeit gezweifelt wird. Dennoch bleibt es die Tugend, seine eigenen Argumente und Positionen einer steten Qualitätskontrolle zu unterziehen. Dies sollte unabhängig von Vorwürfen von Meinungsgegnern geschehen.

Vorwürfe von Meinungsgegnern führen oft – unabhängig von dessen Berechtigung – zu stereotypen Abwehrreaktionen. Selbstredend erschwert das den Diskurs oder macht ihn gar unmöglich. Vorwürfe sollten darum zunächst ernsthaft geprüft werden, selbst wenn der Verdacht auf zersetzende Rhetorik und Rabulistik besteht. Natürlich ist die Möglichkeit des eigenen Irrtums stets im Bewusstsein zu wahren. In der Tat aber sind derartige Vorwürfe nicht selten eine diskussionsfeindiche Meta-Ebene, die eben mit ad hominem Vorwürfen das jeweilige Argument ignoriert. Die eigenen Diskurbereitschaft muss darum eine Balance finden zwischen einer starren und ignoranten Verteidigung des eigenen Standpunkts und einem rhetorischen Zerreden der erkannten Position. Gute Argumente verpufften zuweilen, weil nur taktische, nicht sachliche Zweifel verfingen.

Alternative Fakten und Fake News

In nahezu jedem faktenorientierten Diskurs wurden Argumente ausgetauscht. Ein Gegenargument beruhte zumeist auf Fakten, die ein anderes Licht auf das zuvor genannte – faktenbasierte – Argument warf. Diese übliche Technik wird zuweilen als Methode der Lüge diffamiert. Es kann sich darin um persönliche Überzeugung, Irrtum, korrektes Faktum oder bewusste Lüge handeln.

Begriff … der Dinge jenseits der Wahrheit beschreibt: alternative Fakten (englisch: alternative facts). Diese Formulierung wählte die Beraterin des US-Präsidenten Donald Trump, Kellyanne Conway, während eines Interviews in der NBC-Sendung Meet the Press. Sie bezog sich damit auf die Kritik an Äußerungen des Pressesprechers des Weißen Hauses: Dieser hatte die Zahl der Besucher bei der Amtseinführung von Donald Trump deutlich zu hoch angegeben, wie sich später nachweisen ließ – dies bezeichnete Conway dann schlicht als alternative Fakten. Dieser Ausdruck zog nicht nur viel Spott nach sich, sondern wurde auch mit den Gegebenheiten in George Orwells Roman 1984 verglichen, wo die Unterscheidung von Wahrheit und Lüge nicht mehr objektiv zu treffen ist. Der Unterschied zu Fake News wird in der Regel darin gesehen, dass diejenigen, die alternative Fakten verbreiten, zunächst meist selbst an den Wahrheitsgehalt ihrer Äußerungen glauben. Aufgegriffen wird dieses Zitat gern in Berichten über unwahre Darstellungen.

Duden

Es sollte klar sein, dass der Vorwurf der wahrheitswidrigen Darstellung an sich noch nicht zutreffend sein muss. Es ist mittlerweile eine Standardrhetorik eines schlechten Diskurses, die Argumente des Meinungsgegners pauschal derartig zu bezeichnen. Wenn darüber hinaus der Meinungsgegner nicht die Möglichkeit bekommt, sich gegen diesen Vorwurf zu verteidigen, oder dessen Verteidigung auch dann ignoriert wird, wenn diese stichhaltig ist, ist der Diskurs praktisch beendet.

Allerdings bietet der Diskurs allerdings bei korrekter Durchführung die Möglichkeit, den Wahrheitsgehalt von Aussagen zu überprüfen. Denn das, was der eigenen Betriebsblindheit verborgen bleibt, kann der Diskurs ans Licht bringen. Ein offener Umgang mit konkret vorgetragenen Vorwürfen kann damit zu einer fruchtbaren Prüfung führen. Pauschale Vorwürfe sind dagegen eher verkappte ad hominem Attacken, gegen die eine Argumentation meist nicht möglich ist.

Ungeachtet eines zuweilen berechtigten Verdachts, ist dem Meinungsgegner zu unterstellen, dass jener von der Wahrheit seiner Behauptung ausgeht. Ob diese sich auch gegen die eigene Überzeugung durchsetzen kann, auf Irrtum beruht, oder eine Ko-Existenz jener Argumente nicht zu unauflösbaren Widersprüchen führt, kann nicht im Voraus geklärt werden.

Der Begriff ‚Fake News‘ hat sich erst jüngst eingebürgert, beschriebt aber eine allzu bekannte Praktik, bekannt als Propaganda. Am Augenfälligsten wird diese in Kriegen verwendet, um den Feind als besonders verwerflich und unmenschlich zu charakterisieren, oder in der Werbung. Es macht dann zwar einen technischen, aber praktisch unerheblichen Unterschied, ob rein erfundene Geschichten als Wahrheit verbreitet werden, oder ob es sich um teilweise korrekte Dinge gibt, die aber verzerrend und einseitig dargestellt werden. Plakative Lügen werden von Medien geringer Reichweite bevorzugt, die eben Aufmerksamkeit erheischen wollen. Verzerrende Darstellungen sind das probate Mittel in reichweite-starken Kanälen, die klassische Lügen in geringerem Umfang einsetzen. Direkte Lügen erweisen sich darum meist als weniger effektiv als die zweite Methode. Darum wandelt sich der Vorwurf ‚Lügenpresse‘ oft in ‚Lückenpresse‘. Dem Diskurs erweist sich beides als schädlich.

Fazit: Offener Diskurs unverzichtbar

Ein gewinnbringender Diskurs ist alles andere als selbstverständlich, auch wenn das für gewöhnlich bekundet wird. Die Gefahren zum Scheitern sind allenthalben grandios. Aber der Diskurs bleibt konstitutiv in einer pluralen Demokratie. Ohne einen effektiven Diskurs kann die Fassade jener Demokratie eine Zeit lang aufrecht erhalten werden, aber jene wird dann stetig entkernt. Darum ist der Diskurs unbedingt anzustreben – nicht, in dem man die eigene Diskursbereitschaft proklamiert, faktisch diese aber nicht wahr nimmt, oder indem man dem Meinungsgegner mit Pauschalvorwürfen disqualifiziert.

Die Alternative zum Diskurs ist die Autokratie. Und diese wollen wir doch hoffentlich ernsthaft verhindern!

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