Auf einer von mir hoch geschätzten Site Novo Argumente ist zu lesen:
Unser heutiges Freiheitsverständnis begann sich mit gesellschaftlichen Umbrüchen der Frühen Neuzeit durchzusetzen. Es waren die Philosophie, Literatur, Wissenschaft und Kunst des Renaissance-Humanismus, die den rational und selbstbestimmt handelnden Menschen ins Zentrum rückten und die Entfaltung seiner Fähigkeiten als Ideal postulierten. Durch die Aufklärung nahm die Subjektwerdung der Menschen weiter an Fahrt auf. Auf intellektueller Ebene wurde die Befreiung von überkommenen Dogmen und Vorurteilen vorangetrieben. Die universelle menschliche Vernunft galt den Aufklärungsdenkern als höchste Autorität.
Ähnlichen Positionen finden wir häufig Aber ist das auch korrekt? Ich meine, wie finden hier ein anachronistisches Geschichtsverständnis.
Denn die frühe Neuzeit und schon gar nicht der Renaissance-Humanismus fielen vom Himmel als eine Neuschöpfung, sondern sie sind vielmehr im geistesgeschichtlichen Kontext erst verständlich. Die naive Sicht mancher Zeitgenossen dämonisiert die mittelalterliche Kirche samt des christlichen Glaubens als die restriktive Fessel, von der sich die Humanisten in einem heldenhaften Akt der Emanzipation lösten. Ebenso wenig zeigt der Geschichtsverlauf gerade durch die europäischen Kriege im Nachgang der Aufklärung, dass es mit der Vernunft weit her war, und dass diese keineswegs die Herrschaft übernahm. Der flächendeckende Individualismus ist weit mehr ein Kind der postmodernen Konsumgesellschaft.
Durch diese wirklichkeitsfremde ideologisierende Deutung, die gar nicht an der historischen Wirklichkeit interessiert ist, versperrt man sich den Zugang zum Verständnis der eigenen Wurzeln. Und das halte ich für äußerst bedauerlich. Meist geht diese absurde Vereinfachung damit einher, dass man isolierte Anekdoten aus der Scholastik der Lächerlichkeit preis gibt und darin partout die immensen Verdienste der Scholastik an der Geistesgeschichte leugnet.
Hier kann es weder um eine Weißwäsche der Kirche(n) im Mittelalter und anbrechenden Neuzeit gehen, für die man fraglos auch eine fundierte Kritik beibringen kann. Diese ist aber nur dann erhellend, wenn man sich ein Gesamtbild der Wirkungen und Einflüsse deutlich macht. Zum kulturellen Selbstverständnis ist das unabdingbar. Dazu Anmerkungen:
Die Antike und ihre Denker stehen bei uns zu recht in hohem Ruf. Denn die Schriften von Platon, Aristoteles und vielen mehr geben beredtes Zeugnis vieler modern geglaubter Denkhaltungen. Freiheit und individuelles Selbstverständnis sind nachweislich keine Erfindungen der Aufklärung. Aber auch jene Zeit war kein goldenes Zeitalter, das wir zurücksehnen. Auch hier herrschten restriktive Regime, die einen Sokrates zwangen, den Schierlingsbecher zu nehmen. Es war eine misogyne Gesellschaft von Sklavenhaltern, die nicht so recht zum humanistischen Ideal passt.
Mit dem Christentum setzte ein Wandel ein, der einerseits als Sozialbewegung Furore machte, zum Anderen die persönliche Freiheit – vor allem im Bekenntnis und Glaubensvollzug – mit hohen Opfern erkämpfte. Aber die ersehnte Einheit der Kirche war nie geschichtliche Realität. Die römisch katholische Kirche setzte sich dennoch dieses Ziel und verwendete Mittel, die in der Retrospektive weder moralisch zu rechtfertigen sind, noch zu der konstitutiven Schrift des Neuen Testamentes passten. Es wäre allerdings zu kurz gesprungen, wollte man die Kirche monolithisch verstehen und die Taten Einzelner als symptomatisch stilisieren.
Dennoch: Auch unter einer restriktiven Amtskirche, die eher in der Tradition weltlicher Herrscher steht, als in spiritueller Führerschaft, waren beständige Reformationsbewegungen erkennbar, die weit mehr an moderne Freikirchen erinnern, als es vielen bewusst ist. Stellvertretend für viele Bewegungen soll vor allem an Franziskus und Petrus Valdez erinnert werden, die als Zeitgenossen ähnliches vertraten: Vom Evangelium getriebene Spiritualität mit Laienpredigt und Sozialbewegung. Die Geschichte ist bekannt. Beide stießen auf Widerstand, Franziskus wurde in die Kirche integriert, Petrus Valdez ausgestoßen und verfolgt. Beide sind Zeugen davon, dass gerade der christliche Glaube zur Individualisierung und Aktualisierung der Freiheit führten.
Mit der (großen) Reformation um Luther und andere setzte ein Wandel im politischen Großklima ein, der die Dominanz einer normativen Wertelehre brach. Die weitere Geistesgeschichte ist ohne diesen dramatischen Wandel, der letztlich den Glauben und das Selbstverständnis eines Jeden in Frage stellte, schwerlich vorstellbar.
Der Renaissance-Humanismus verstand sich überwiegend als christlich und nicht in Opposition zum Glauben. Und auch die spätere geistige Lösung vom christlichen Dogma war zumeist in einem kritischen Dialog realisiert, die wir auch schon im NT vorgezeichnet sehen. Eine stereotype und rein polemische Distanzierung finden wir zwar unter heutigen Zeitgenossen, weniger aber in der Geschichte.
Die Individualisierung ist somit kein Novum der Aufklärung, sondern eine Verbreiterung der Basis, die in engem Zusammenhang mit politischen Umbrüchen steht. Das Rühmen der Vernunft bleibt aber auch bei Vertretern wie Kant nicht ohne Selbstkritik.
Unbestreitbar war die mittelalterliche Kirche ein Machtfaktor und deren Mittel waren teils kaum anders als brutal zu nennen. Allerdings wäre es blind zu meinen, dass eine blutige französische Revolution, napoleonische Kriege etc. im Kielwasser der Aufklärung eine neue Qualität der Humanität bewirkten. Auch sind die Revolutionen und mörderischen Weltkriege des 20. Jahrhunderts und die vielen blutigen Kriege seitdem kein Grund, uns gegenüber dem Mittelalter per se als moralisch überlegen zu wähnen.
Die universelle menschliche Vernunft galt den Aufklärungsdenkern als höchste Autorität. Auf ihrem Gebrauch basieren Freiheit, Mündigkeit und Würde der autonomen Person. Die moderne Naturwissenschaft trug dazu bei, die Naturkräfte besser zu verstehen und zu kontrollieren und sich so mehr und mehr von ihren Zwängen zu emanzipieren.
Zugleich aber wuchs die Potenz der Massenvernichtung und Naturausbeutung, die Macht der Geschäftemacher und allerlei Übel. Weder will ich einem stereotypen Kulturpessimismus das Wort reden, noch einen naiven Fortschrittsglauben unterstützen. Die Realität ist zumeist wesentlich komplexer.
Gerade die Postmoderne hat den Impetus von Aufklärung und Humanismus ausgehöhlt. Viele ihrer Werte sind keineswegs mehr Stützpfeiler, sondern eher ein bröckelige Fassade, hinter der sich desillusionierter Hedonismus und Tröstungen fragwürdiger Ideologien verbergen, die oft nach Nihilismus riechen.
Mein Anliegen ist dagegen, die Schätze der gesamten Geistesgeschichte, einschließlich Antike, Mittelalter, Scholastik, Renaissance und Aufklärung zu bergen, bevor sie vom Strom des Nihilismus verschlungen werden.
Diese ideellen Grundlagen der modernen Zivilisation gilt es heute zu verteidigen.
In diesem erweiterten Sinn sehe ich die Früchte der Geistesgeschichte als Ausdruck des Lebens schlechthin und als äußerst wertvoll an, deren Verteidigung sich auch lohnt. Einen Pessimismus kann man als Enttäuschung über so manche Fehlentwicklung durchaus zum Ausdruck bringen … aber er sollte die glühende Liebe zu den Errungenschaften, die auch unser Selbstverständnis prägen, nicht verschütten.