Gert Scobels Gedanken zu „Schlaf der Vernunft“
Nicht zuletzt der provokante Titel veranlasste mich zu einem Kommentar. Doch eines nach dem Anderen:
Auch die totale ökonomische Verwertung des Menschen in Auschwitz scheint zur Vernunft zu gehören, wenn auch zu einer pervertierten Form der Vernunft. So hilfreich die Vernunft einerseits sein kann, so furchtbar und erschreckend scheinen andererseits manche ihrer kühnen Träume zu sein.
Mich beunruhigt, wenn die Dinge nicht beim Namen genannt werden. Denn wenn wir moralische Werturteile fällen, dann können wir diese auch vollumfänglich vertreten. So kann man ganz im Sinne von Viktor Frankl das Gewissen zum Zeugen rufen, wenn wir eine entmenschlichste Grausamkeit aufs schärfste verurteilen. Aber ist das ‚pervertiert‘? Ich meine nein, denn Perversion fällt eher unter eine außergewöhnliche Triebsteuerung, die gemeinhin nicht gesellschaftlich anerkannt ist – für mich eine viel zu schwache Stigmatisierung des Bösen.
Die Vernunft hat es nicht nur mit der kritischen Prüfung der Mittel zu tun, sondern auch mit der unserer Zwecke und Absichten, Wünsche und Ziele.
Dem kann ich zustimmen, doch auch hier frage ich: Warum nicht Begriffe wie Werte und Ethik, Moral und Gewissen? Ist es nicht mehr ‚in‘, klare Zuordnungen zu nennen?
Als Individuen versuchen wir in all dem Chaos Sinn zu finden. Dabei hilft uns das Denken.
Die Sinnsuche ist in der Tat die zentrale Aufgabe des Menschseins, und das reflektierende und folgerichtige Denken ist ein Weg zu diesem Ziel hin.
Leider führt es im Überschwang immer wieder zu falschen Vereinfachungen, die uns dann ebenso in die Quere kommen, wie unsere penetrante Suche nach absoluten Gewissheiten, die es nicht gibt.
Hmmm … ist diese Suche penetrant? Nicht einfach legitim? Ist die vorgezogene Ansicht, dass es diese nicht gäbe, Ergebnis eigener Suche, einer Resignation, oder das Nachplappern von irgendwelchen Gewissheiten – die es ja eben demnach gar nicht geben kann? Welcher Art sind denn jene nicht-existenten Gewissheiten?
Ich stimme Gert Scobel zu, wenn er zwingende und objektive Fakten meint, die einem Gewissheit zum Sinn und zum Sein vermitteln. Die Philosophiegeschichte ist reich in dieser Frage und Antworten. Aber ist nur das Unbestreitbare auch gewiss?
Was ist mit der Erfahrung? Sicher, man deutet die Erfahrung, und sowohl die Wahrnehmung als auch deren Deutung können Irrtümern anheim fallen. Dennoch glauben wir der Erfahrung und vertrauen darauf, dass diese uns die Realität vermittelt. In eben diesem Sinn entscheiden wir uns, der Liebe in der Begegnung zu vertrauen. Wir hinterfragen eben nicht penetrant die Realität der Liebe zum Gatten oder zum Freund. Die Liebe ist in ihrer Gewissheit der Grund unseres Seins. Ebenso auch der entschiedene Glaube und die spirituelle Erfahrung. Ein Glaube, der zwar nicht jeden Zweifel vertreibt, aber der hinreichende Gewissheiten vermittelt.
Die Möglichkeit des Irrtums und die Gefahr der Lüge führen uns in die Prüfung, die aber keineswegs jede Gewissheit denunziert, sondern sie gerade durch die Prüfung in dem Status bestätigt: Glaubwürdig!
Aus Verzweiflung und Übermut, aber auch weil wir es nicht anders gewohnt sind, erfinden wir kontinuierlich Geschichten. Auf sie verlassen wir uns. Zwar sind sie erfunden wie ein fliegender Teppich – aber sie tragen uns dennoch durch die Tage.
Hier handelt es sich offensichtlich um eine Deutung, die eine ‚erfundene‘ Realität für so gewiss hält, dass Scobel sie als allgemeingültige Behauptungen in den Raum stellt: Was ist nun eine selbsterfundene Geschichte? Was eine nüchterne Herleitung? Was eine Offenbarung aus unbekannter Quelle? So lange wir jenen sicheren und unbezweifelbaren Maßstab der Realität gerade nicht unser Eigen nennen können, handelt es sich bei derartigen Urteilen eben um eine Weltsicht, die ebenso dem Irrtumsvorbehalt unterliegt. Man kann dieser (teilweise) zustimmen und sie bezweifeln …
Mehr Vernunft heißt: Mehr Prüfung. Mehr Vorsicht. Größere Wachheit. Und nicht einfach: Mehr Technik. Mehr Computer. Mehr Algorithmen. Vor allem heißt es, unsere eigenen Ziele und Absichten genauer zu prüfen. Das ist Vernunft.
Hier bin ich wieder ganz bei Scobel. Dieser Ansatz verheißt am ehesten die Reduktion des Irrtums und des Selbstbetruges.
Es geht im Titel ja nicht um hinreichende Gewissheiten, sondern um absolute Gewissheiten. Also geht der Artikel etwas am Problem vorbei. Aber der Titel ist auch falsch. Denn keiner glaubt noch an absolute Gewissheit. Warum sollte man die dann suchen?
Vermutlich meinte Scobel aber gar nichts absolutes, sondern nur nach ein hohes oder höheres Maß an Gewissheit. Dann ist diese aber wohl kaum penetrant zu nennen.
Wer von Glaubensgewissheit spricht, meint eigentlich etwas absolutes. Er oder sie sieht dann keinen Zweifel. Erst das systematische Hinterfragen führt dann dazu, dass die Möglichkeiten des Irrtums nicht absolut ausgeschlossen werden können. Nur bleibt das dann eine Theorie, die für die Praxis nicht relevant ist
Was heißt eigentlich Gewissheit? Ist das ein binärer Wert, so wie ja und nein, Gewissheit vs. Ungewissheit? Dann müsste Gewissheit auch absolut sein, und wenn es gar keine Gewissheit gäbe, dann wäre es eine dysfunktionale Definition, die etwas unerreichbares bezeichnet.
Gewissheit ist vielmehr ein relativer Wert. Wir sind uns ziemlich Gewiss, dass morgen die Sonne wieder aufgeht, dass die Schwerkraft uns am Boden hält, etc. Aber es könnte auch anders sein – nur halten wir das für ausgeschlossen. Weit weniger gewiss sind wir, dass wir morgen ocer in einem Jahr noch leben … aber wir ändern deswegen nicht unser Leben, sondern vertrauen darauf, als ob es derartige Gewissehiten gäbe.
Um so mehr geraten wir in den Bereich des Annehmens und des trotzigen Für-Wahr-Haltens, oder des Spekulativen. Ebenso sehen wir die negative Formulierungen von Erwartungen.
Das im Auge, macht ein absolute Gewissheit wenig Sinn. Es reicht uns doch auch sonst, wenn wir uns hinreichend gewiss sind. Wer also sucht da nach einer absolten Gewissheit? Und das gar penetrant?