Mir erscheint es, als würde nicht mehr über die existenziellen Fragen nachgedacht – ein offener Diskurs findet immer weniger statt. Sowohl innerlich als auch öffentlich. Und das, obwohl die Zeiten nie günstiger waren: Nie zuvor gab es so viel Wissen, so viele ungelöste Fragen, so leichte Zugangsmöglichkeiten zum Austausch … Aber es gibt doch unzählige Websites mit Kommentaren und Diskussionsforen … so viele Gespräche zwischen Freunden und politischen Positionen, Kollegen u.v.m. … zählen die nicht? Woher kommt denn mein Eindruck?
Mir kommt es vor, das eine Gleichgültigkeit zu den Fragen der Zeit um sich greift. Einige versuchen, ihre Überzeugungen an den Mann zu bringen, aber wenige lassen sich darauf ein, ihre eigenen Positionen kritisch zu prüfen. Man hat sich seine Meinung gebildet. Und wozu man keine Meinung hat, interessiert auch nicht. Es wird gelesen, aber zumeist nur dass, dass die bereits vorgegebene Meinung bestätigt, oder was sich zum Aufregen lohnt. Diesen Eindruck kann man bei der Beobachtung von Diskussionen im öffentlichen Raum, in Talk Shows, in privaten Diskussionen und vielleicht auch bei der Selbstbeobachtung gewinnen. Es scheint ein Zeichen des Zeitgeistes der Postmoderne zu sein.
Es erscheint mir, dass es früher anders war, aber nun leben wir in schlechten Zeiten für Philosophen. Vielleicht täusche ich mich und erlebe diese Dinge nur von meinem Aussichtspunkt, aber ich will mich nicht damit begnügen, einen (vermeintlichen) Misstand zu kritisieren, sondern will diesen analytisch begleiten und Perspektiven aufzeigen.
Analyse des Zeitgeistes
Gegeben sei, dass meine Wahrnehmung zutreffend sei: Was sind die Ursachen? Die Lethargie im geistigen Leben ist die Konsequenz aus mehreren Fakten: Die Wissenschaften haben schier unüberschaubare Mengen an Wissen gesammelt. Es wird bereits zur Überforderung, wenn man sich mit einem Teilbereich beschäftigt. Jeder muss sich entscheiden, ob er immer mehr über immer weniger wissen will, den Hut des Generaldilettant aufsetzt oder ein Ignorant gegenüber einem umfassenden Wissen ist. Allesamt keine attraktiven Positionen. Was aber ist die Alternative: Ich bilde mir irgend eine Meinung, und interessiere mich nicht für irgend etwas darüber hinaus. Ich lebe mein Leben so angenehm wie möglich und überlasse es den Experten, über andere Dinge nachzudenken …
Diese Geisteshaltung geht einher mit einem relativ leichten Leben im Westen. Der Überlebenskampf bleibt moderat, Fragen des Konsums und des Luxus nehmen immer mehr Raum ein. Die Ablehnung großer Ideen und Religionen scheint zum Standard zu gehören. Ein unscharfes Verständnis des Guten und das moralische Handeln in der Freizeit sorgen für das gute Gewissen. Man regt sich über das Böse in der Welt auf, will selbst aber dieses meiden, aber erwartet, dass Alles immer schlimmer wird. Pessimismus gilt als mormal. Zuweilen gibt es einen trotzigen Zukunftsoptimismus und das private Glück. Kann man denn mehr erwarten und verlangen?
Ja, man kann!
Angesichts der offenen Fragen der Menschheit und jedes Einzelnen erscheint es unbefriedigend, sich mit irgend welchen Antworten und Vorläufigkeiten zufrieden zu geben. Warum sich leben lassen? Warum sich mit Halbheiten zufrieden geben? Die Aufgabe, die das Leben einem jeden stellt ist, den Sinn zu erkennen. Victor Frankl erkannte bereits seit Jahrzehnten, dass die Menschen dieser Kultur in einer Sinnkrise stecken. Es ist unabdingbar, dass sich der Mensch diesen Fragen stellt. So er denn etwas erfüllendes erkannt hat, im Besonderen die Liebe, so wollen wir ihm kein Defizit andichten. Oft aber werden Scheinantworten vorgeschoben, um das vorhandene Defizit zu kaschieren.
Neben psychoaktiven Stoffen, die offensichtlich Ersatzbefriedigungen liefern können, sind es auch Ersatzhandlungen, Leidenschaften und Hobbies, die den Menschen oftmals an Stelle des gefundenen Sinns eine einlullende Antwort liefern.
Und das Rezept?
Tatsächlich gibt es keine fertige Antwort, da die existenziellen Fragen nicht einfach zu lösen sind, sondern den ganzen Menschen erfordern. Aber es gibt Wegweiser und Leitlinien:
- Bleiben Sie sich ihrer offenen Lebensfragen bewusst! Akzeptieren Sie keine Halbheiten und Ersatzantworten.
- Prüfen Sie selbst nach, was die Fakten sind und wie sie zu ihren Meinungen kommen. Konzentrieren sie sich auf stichhaltig Argumente. Lassen sie nicht beliebige Meinungen nicht gleichwertig neben durchdachten Argumenten stehen.
- Seine Sie sich bewusst, dass alles Wissen nur vorläufig ist, aber das dieses notwendige Wegweiser des Wanderers darstellen.
- Begrüssen Sie die Entdeckung von Dissonanzen. Die Unruhe und Unzufriedenheit bewahrt uns vor einem unzeitigen Abbruch der Suche. Jeder erkannte Irrtum birgt die Hoffnung, es dann besser zu machen.
- Beteiligen Sie sich am Diskurs, um auch andere an Ihren Erkenntnissen teil haben zu lassen und lernen Sie von Anderen. Nur die Öffnung für fremde Argumente kann Gewinn bringen.
- Fällen Sie Urteile, die sie stets revidieren können. Denn das Leben ist die Frage der Entscheidung.
Der innere Diskurs und die intellektuelle Redlichkeit
Aus der einfachen Erkenntnis, dass niemand vor Irrtum gefeit ist – Fallibilismus – folgt, dass man die stets vorläufigen Ergebnisse immer wieder erneut prüfen muss. Dies ist die Grundforderung der intellektuellen Redlichkeit, sich mit nichts weniger als der Wahrheit zufrieden zu geben. Dieser innere Diskurs reflektiert sich selbst und fragt, ob es denn richtig ist, was ich bislang erkannte.
Der äußere Diskurs überprüft diese Schritte auch im Dialog mit anderen, um bestimmte eingefahrenen Denkschemata zu durchbrechen. Dadurch kann auf dem Weg der Erkenntnis voran geschritten werden.
Ich möchte hier dem inneren Dialog eine Lanze brechen. Zwar können wir mit uns selbst eigentlich immer ehrlich sein, sind es es aber gelegentlich nicht. Obwohl wir dabei von außen unbeobachtet sind, so kann es doch sein, das wir widersprechenden Zielen, Absichten und dergl. frönen. Dies sind Störelement für Erfolge! Daher sind Überprüfungen auf unbewußte Widersprüche durch innere, private Dialoge sehr nützlich!
Volle Zustimmung. Nur fürchte ich, dass es mit der Ehrlichkeit gegen uns selbst oft nicht weit her ist. Denn der ungeschminkte Blick in den Spiegel offenbart nicht zu selten Widersprüche und Defizite, die allzu schmerzhaft sind. Menschen aller Zeiten kannten dieses innere Dilemma. Früher wurde es über das Ritual der Beichte gleichsam eines Blitzableiters in die Katharsis überführt. Ähnliches gab es auch im Kommunismus. Modern ist der Gang zum Psychotherapeut. Mit der Klassifikation als Krankheit, am Besten einer, an der man keine Schuld trägt, werden die inneren Widersprüche auf eine erträgliche Ebene gehoben.
Es kostet Mut, sich dem Spiegelbild zu stellen. Denn neben den persönlichen Narben offenbart sich oft auch eine andere Dimension, die der philosophischen Reflektion. Es ist keineswegs nur ideologischer Überbau, sondern offene existenzielle Fragen, die sich hier Raum schaffen. Dagegen gibt es auch keine Pillen … und letztlich auch keine einfachen Lösungen.