In der Reihe Lesefrüchte verweise ich hier auf Der Ausschluss des eigenen Urteilsvermögens und Propaganda macht das Leben leichter, aber es bleibt nicht bei diesem Textverweis:
Entfremdet zu sein heißt, anders (alienus) als man selbst zu sein, doch es kann ebenso bedeuten: zu einem anderen als einem selbst zu gehören. Und noch grundlegender: seiner selbst beraubt, um einem anderen unterworfen (oder gar einverleibt) zu sein. Im Endeffekt hat Propaganda diese Wirkung. Sie beraubt das Individuum, entledigt es zwar eines ganzen Teils seiner selbst, lässt es aber gleichzeitig ein simuliertes, fremdes, künstliches Leben führen – sodass das Individuum, das dieser Propaganda unterworfen wird, ein anderer ist und zugleich Triebregungen gehorcht, die ihm fremd sind, sprich, einem anderen gehorcht.
Jacques Ellul
Propaganda dient auch der künstlichen Befriedigung realer Bedürfnisse oder, daraus folgend, die reale Befriedigung künstlicher Bedürfnisse (Etwa in der Werbung). Auszug aus Jacques Ellul „Propaganda. Wie die öffentliche Meinung entsteht und geformt wird„.
Denn die Mechanismen, die durch die Propaganda instrumentalisiert werden, funktionieren nur, weil es eine gewisse Spannung in der Natur des Menschen gibt. Interessant ist, ob das Thema Hingabe tatsächlich klar und stets negativ bewertet werden muss. Doch bleiben wir zunächst beim Anlass, der Analyse der Propaganda.
Sie liefert ihm Motive und Gründe für die Opfer, die von ihm verlangt werden, doch dabei handelt es sich nicht um echte Beweggründe. So spornt sie ihn 1914 dazu an, sein Leben für das Vaterland zu opfern und verschweigt nebenbei die ökonomischen Gründe des Krieges, für die sich der Mensch sicherlich nicht hergegeben hätte.
Jacques Ellul
Propaganda stillt sein Bedürfnis nach Entspannung und Gewissheit, sie mildert zwar die Angespanntheit und kompensiert den Frust, dies jedoch mit rein künstlichen Mitteln.
Sicher ist Propaganda ein perfides Herrschaftsinstrument. Aber wie funktioniert sie, was ist der Schlüssel, mit der diese Technik die Menschen kontrolliert? Ellul verweist auf etwas Merkwürdiges:
Nebenbei sei einmal mehr angemerkt, dass Propaganda, indem sie diese Wirkung hervorruft, sich darauf beschränkt, die Neigung des Individuums, sich in irgendetwas Großem zu verlieren, seine Individualität aufzugeben, das Ich von allen Zweifeln, Konflikten und Schmerzen zu befreien, es in allem aufgehen zu lassen, benutzt, akzentuiert und verstärkt. Einem Chef, einer großen Sache ergeben zu sein, verschafft solche Befriedigung: Wir fühlen uns eins mit der riesigen Menge. Der Mensch sucht sich zu befreien, indem er im großen Ganzen aufgeht.
Jacques Ellul
Das weist weit über das Tema zur Propaganda hinaus, denn jede Ideologie und Religion fordern Hingabe. Wenn Propaganda dieses menschliche Verlangen befriedigt, dann mag man sie leicht als unmoralisch identifizieren, aber man wird die Fragen nicht los:
Warum ist das so? und: Ist Hingabe wirklich grundsätzlich falsch und immer unmoralisch?
Personen verstehen sich zunächst als Individuen. Aber sie sind eingebunden in Gemeinschaften, zuerst die Familie, dann die Peer Group und schließlich die Nation als Schicksalsgemeinschaft. So mancher sieht sich als Teil der Menschheit. Ist der Mensch darauf angelegt, als Gemeinschaftswesen zu existieren? Evolutionsbiologisch mag das so sein, auch die Psychologie und Soziologis können hierzu viele Beobachtungen beitragen.
Dem Philosophen muss dies übel aufstoßen. Denn wenn der Gruppendruck letztlich alles Denken, Verhalten und Werte prägt, bleibt ja der eigenen Erkenntnis kein Raum mehr, es muss ersticken oder zum simplen Rechtfertigungsfilm für fremde Motive dienen.. Aber die Empirie zeigt, dass es hier meist nicht Extreme gibt, also einsamer Individualismus vs. dem gedankenlosen Herdentier. Die reale Existenz der Menschen liegt – individuell bedingt – irgendwo zwischen den Extremen. Das geht um so besser, je liberaler die Gesellschaft unterschiedliche Formen respektiert. Despotismus und Totalitarismus macht den Raum der Freiheiten möglichst eng.
Es bleibt dann nicht nur die Frage, ob Hingabe oder Eigenständigkeit jeweils zu loben ist, sondern auch, wem oder was die Hingabe gilt. Gehen wir von der These aus, dass der Mensch ein Wesen ist, das auf Verwandlung zielt. Das eigene kann er dauerhaft nicht halten. Biologisch wandelt er sich in seine Nachkommen. Geistig ist eine Veränderung durchaus erwünscht, denn so wir nicht vollkommen sind, so sollte doch unser Streben sich danach richten. Hingabe bezeichnet nun den Prozess zur Verwandlung in ein höheres Ziel.
Vor allem Antoine de Saint-Exupéry lobte in Die Stadt in der Wüste (Citadelle) die Hingabe in ein Werk – und sei es noch so profan – als den Adel des Menschen. Natürlich ist Hingabe stets Gegenstand einer jeden Religion. Aber selbst dieses edle Streben – so man denn einer derartigen Idee folgt – wird zur billigen Farce, wenn sie nur dazu dient den Menschen in den Dienst fremder Interessen zu stellen. Die Hingabe an Gott, Gerechtigkeit, Freiheit, das Gute schlechthin mag vielleicht das Höchste sein, aber wenn eine Kirche, eine politische Bewegung oder ein charismatischer Führer dieses Motiv nur für seine eigenen Zwecke instrumentalisiert, wird es lächerlich und gefährlich. Es ist ein Missbrauch der Neigung des Menschen, sich in ein Besseres zu wandeln.
Ellul erkannte treffend die Mechanismen des Missbrauchs und identifizierte sie als Propaganda. Wie aber kann man jenen Missbrauch von der – möglichen – Bestimmung zur Hingabe als Ziel des Lebens trennen? Bleibt der Individualist, der eben den Missbrauch fürchtet, nicht ebenso unfruchtbar und versäumt das, worauf es letztlich ankommt? Für mich bleiben dies offene Fragen, die hier nicht rhetorisch gemeint sind. Die Vernunft kann hier keine einfache Antwort liefern.