Ein Symptom des Zeitgeistes?

Eine eher skurrile Geschichte über einen seltsamen Menschen, der sehr gerne zum Influencer werden wollte und damit tatsächlich Geld verdient. Und von Haidern (fränkisch für Hater), die diesen jungen Mann mit verminderter Intelligenz und eine narzisstischen Persönlichkeitsstörung mit viel Aufwand verfolgen. Schrille Töne, die Aufmerksamkeit erheischen sind eher nicht Gegenstand des Interesses. Aber das führt zu tieferen Fragen in dem Text „Drachenlord“: Ein YouTuber und seine Hater:

Ohnehin wirkt fast alles an dieser seltsamen Story irgendwie „zeitgeistig“. Allein schon die Vorstellung, mit langatmigen Onlinevideos voller Banalitäten, Geschmacklosigkeiten und „too much information“ seinen Lebensunterhalt zu bestreiten. So eine Monetarisierung der eigenen Selbstdarstellung hätte es vor zehn oder 15 Jahren nicht gegeben, nicht nur, weil die technischen Plattformen dafür weniger entwickelt waren, sondern vor allem, weil kaum jemand auf diese Idee gekommen wäre.

Kolja Zydatiss 

Wenn sich derartige Phänomen in unserer Gesellschaft zeigen, dann ist das ein Indikator für eine rasche Verändung nicht nur an der Oberfäche, sondern reicht tief in das Verständnis der Menschen hinein.

Noch vor nicht allzu langer Zeit hätte jemand wie der Drachenlord wohl standardmäßig einen einfachen, aber „richtigen“ Beruf, den man mit den Händen macht, erlernt (und damit vielleicht gar nicht so schlecht verdient). Heute macht sich Rainer Winkler mit seinen unbeholfenen und unfreiwillig komischen Versuchen, um jeden Preis „Influencer“ zu werden, zum Gespött der Menschheit (oder zumindest des deutschen Sprachraums). Hier rächen sich verschiedene gesellschaftliche Fehlentwicklungen, die leider viel zu wenig thematisiert und hinterfragt werden.

Kolja Zydatiss 

Mich beunruhigt wie der Zeitgeist, also ein Konglomerat an ausgesprochenen und unausgesprochenen Regeln, Werten und Denkmuster immer mehr in unser aller Bewusstsein einsickert, auch wenn wir uns vielleicht nicht mit jenen schrillen Sumpfblüten identifizieren.

Erstens die „Du bist etwas Besonderes“-Wohlfühl-Pädagogik unserer Zeit. Zweitens die abnehmende Erwartung an die weniger intelligenten und intellektuellen Mitglieder unserer Gesellschaft, dass auch sie ihr Leben irgendwie auf die Reihe kriegen (und eben nicht primär mitleids-, betreuungs- und therapiebedürftige Opfer ihre Umstände sind). Und drittens vielleicht auch die jahrzehntelange Abwertung von allem vermeintlich oder tatsächlich „Normalen“, „Konventionellen“ und „Kleinbürgerlichen“ durch tonangebende Kreise, wie sie auch die Publizistin Cora Stephan in ihrem aktuellen Buch „Lob des Normalen“ beschreibt. Ausbildung und Berufsleben als bei der Kommune angestellter Straßenbauer oder selbstständiger Malermeister (realistische Ziele: schmuckes Eigenheim, Neuwagen, Griechenlandurlaub)? Wie uncool (und anstrengend), im Vergleich zur weithin bewunderten Netzpersönlichkeit!

Der US-amerikanische Historiker und Sozialkritiker Christopher Lasch war überzeugt, dass jede Zeit ihre eigenen, charakteristischen Psychopathologien hervorbringt. Im prüden und sexuell repressiven 19. Jahrhundert dominierten etwa nach Lasch die (von Sigmund Freud untersuchten) hysterischen Störungen, für die zweite Hälfte des 20. Jahrhunderts erkannte der Historiker die hohe Verbreitung eines Persönlichkeitstypus, der einer milderen, subklinischen Variante des „pathologischen Narzissmus“ entspricht. …
fehlten vor allem jungen Männern realistische Vorbilder. Sie entwickelten ein äußerst instabiles, von externem Lob und Anerkennung abhängiges Ich.

Kolja Zydatiss 

Die Analyse wirkt beängstigend treffend:

Bereits in den 1960er Jahren attestierte er der neuen Linken ein unreflektiertes Verhältnis zu Tabubrüchen und Grenzüberschreitungen. Non-Konformismus, Selbstentfaltung und Transgression waren für den linken Außenseiter Lasch nicht zwangsläufig links oder progressiv, sondern bargen die Gefahr von Relativismus und Orientierungslosigkeit. Heute sind die Ideen der 68er mehr oder weniger tonangebend, und die Gesellschaft scheint in gewisser Hinsicht ins Infantile regrediert zu sein. Die Aktionen der überwiegend volljährigen „Haider“ wirken wie außer Kontrolle geratene Schuljungenstreiche, und auch der Drachenlord scheint in der Frühpubertät stecken geblieben zu sein.

Kolja Zydatiss 

Handelt es sich doch nur um ein kleine Gruppe der Verirrten, die sich um dieses schrille Thema engagieren, oder sind es Anzeichen einer wahrhaften Dekadenz, die, hier nur als Symptom durchbricht?

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