Ich bin zuweilen regelrecht begeistert über kluge Texte, die sich ohne Mühen finden lassen. Darum will ich eine neue Rubrik erstellen, in der ich auf fremde Federn – die mir gedanklich gar nicht so fremd erscheinen – aufmerksam machen möchte. Heute verweise ich auf den Eintrag für den 26. Oktober 2020 in Michael Klonovskys Acta diurna. Es geht um eine inhaltsschwere Buchrezension:
„Rettet den gesunden Menschenverstand!“ von Eva Rex
Einige Gedanken sind so gut formuliert, dass ich sie hier weitgehend unkommentiert zitieren möchte:
„Wie kommt es, dass die meisten Mitglieder der westlichen Gesellschaften so merkwürdig apathisch und desinteressiert an ihrem eigenen Geschick agieren und ihrer eigenen Verdrängung (als Volk, als Nation, als Kultur) entgegensehen, ja diese sogar beklatschen? Warum sind moderne Menschen trotz ausdifferenzierter Individualisierung und Aufgeklärtheit so empfänglich für ideologische Großkonzepte wie Gleichstellung, Multikulturalismus und Kampf gegen den Klimawandel? Warum begegnen uns gerade in Künstlern und Intellektuellen die fanatischsten Befürworter dieser neuen Ideologien? … Wie kommt es, dass so viele sich nicht mehr auf ihre eigene Wahrnehmung verlassen und nicht den Mut haben, sich ihres Verstandes zu bedienen?“
Eva Rex
Sie wird bei Hannah Arendt fündig, die man gar für eine sehr hellsichtige Prophetin halten möchte. …
Anders als bei der herkömmlichen Tyrannis mit ihren konventionellen Motiven beruht die totale Herrschaft Arendt zufolge immer auf einer Ideologie. Diese Ideologie erhebe Anspruch auf universelle Geltung, mobilisiere dafür die Massen und verheiße die Verwirklichung einer Fiktion, an deren Ende eine neue Welt und der neue Mensch stehen.
Michael Klonovsky
Wer heute auch nur für eine Seminarstunde in eine sogenannte geisteswissenschaftliche Fakultät einer beliebigen westlichen Universität blickt, wird feststellen, dass alles, was älter als, sagen wir, zwanzig Jahre oder auch Wochen ist, dort im Grunde nichts mehr gilt. Kann also eine vor 70 Jahren – wenn immerhin auch nicht von einem Cis-Mann – veröffentlichte Analyse unsere heutige Situation auch nur um ein Millilux erhellen?
Eva Rex behauptet, ja. Schauen wir also mit ihr auf die Kriterien (vulgo Elemente und Ursprünge), die Hannah Arendt zufolge eine totalitäre Herrschaft kennzeichnen.
Erstens: Die Gesellschaft ist atomisiert und zugleich homogenisiert, die traditionellen Bindungen durch Klassen, Stände, Familien, Geschlechter, Nationen, Identitäten sind weitgehend aufgelöst. Ein im sozialen Vakuum lebender Massenmensch bevölkert die Städte.
Diese Elemente finden sich teilweise auch in George Orwells düsterer Vision von ‚1984‘. Und so treffsicher geht es weiter:
Zweitens: Aus dieser Orientierungs- und Bindungslosigkeit resultiert ein kollektiver Mangel an Urteilskraft. Er äußert sich in einer Mischung aus Leichtgläubigkeit und Zynismus und mündet in eine Revolte gegen den Wirklichkeitssinn – gegen den bei Arendt noch ganz zentralen „gesunden Menschenverstand“ (auf den sich heute bekanntlich nur Ewiggestrige berufen). Die Philosophin – die übrigens in ihrer Totalitarismusanaylse noch ganz frisch und frei die trefflichen Termini „Mob“ und „Gesindel“ verwendet (nicht für die Massen, sondern für den Mob und das Gesindel) – schreibt: „Die Mentalität moderner Massen (…) beruht darauf, daß sie an die Realität der sichtbaren Welt nicht glauben, sich auf eigene, kontrollierbare Erfahrungen nie verlassen, ihren fünf Sinnen mißtrauen und darum eine Einbildungskraft entwickeln, die durch jegliches in Bewegung gesetzt werden kann, was scheinbar universelle Bedeutung hat und in sich konsequent ist. … Auf sie wirkt nur die Konsequenz und Stimmigkeit frei erfundener Systeme, die sie mit einzuschließen versprechen.“
Michael Klonovsky
Drittens – gleich in den Worten von Arendt (auch alle folgenden Zitate stammen von ihr) –: „Der Egozentrismus (der modernen Massen) konnte kein gemeinsames Interesse entstehen lassen, und war daher oft mit einer typischen Schwächung des Instinkts der Selbsterhaltung verbunden. Selbstlosigkeit, nicht als Güte, sondern als Gefühl, daß es auf einen selbst nicht ankommt, daß das eigene Selbst jederzeit und überall durch ein anderes ersetzt werden kann, wurde ein allgemeines Massenphänomen.“
Viertens: Die geistigen Eliten haben sich freiwillig gleichgeschaltet und betreiben primär Systempropaganda. Gerade sie hegen eine „Neigung für die abstraktesten Vorstellungen, diese leidenschaftliche Vorliebe, ihr Leben nach sinnlosen Begriffen zu gestalten, wenn sie dadurch nur dem Alltag und dem gesunden Menschenverstand, den sie mehr verachteten als irgend etwas sonst, entgehen konnten“.
Fünftens: Frei erfundene, aber in sich logische Systeme beherrschen das Denken der Menschen und erzeugen eine Hyperrealität. „Während die totale Herrschaft einerseits alle Sinnzusammenhänge zerstört, mit denen wir normalerweise rechnen und in denen wir normalerweise handeln, errichtet sie andererseits eine Art Suprasinn … Über der Sinnlosigkeit der totalitären Gesellschaft thront der Suprasinn der Ideologien, die behaupten, den Schlüssel zur Geschichte oder die Lösung aller Rätsel gefunden zu haben.“
Sechstens: Die Massen werden mit sogenannten wissenschaftlichen Beweisen von der Stichhaltigkeit der staatlichen Pläne und Maßnahmen überzeugt. „Diese ideologisch verankerten Lügen (sind) unantastbar. Sie werden mit sorgfältig ausgearbeiteten Systemen pseudowissenschaftlicher Beweise geschützt.“ – „Im Gegensatz zu älteren Formen politischer Propaganda, die dazu neigt, sich auf die Vergangenheit zu berufen, um Gegenwärtiges zu rechtfertigen, benutzt totalitäre Propaganda die Wissenschaft, um die Zukunft zu prophezeien.“
Siebentens: Gemäß dem strikten Determinismus der Ideologie steht am Ende des gesellschaftlich eingeschlagenen Weges eine Transformation der menschlichen Natur, das Erreichen einer neuen Gattungsqualität. „Diese Exekution der objektiven Gesetze von Natur oder Geschichte soll schließlich die Menschheit produzieren.“
„Woran“, fragt Eva Rex, „erinnert uns das?“
Bitte weiterlesen bei: 26. Oktober 2020 oder gleich bei
Rettet den gesunden Menschenverstand!
Hannah Arendt im Mehrheitsdiskurs
Rex, Eva
Essay
englische Broschur, 120 Seiten
978-3-9822049-2-5