Lesen bildet. Aber nicht alles, was intellektuell anspruchsvoll und akademisch klingt, ist auch wohl durchdacht oder zutreffend. Auf den Begriff der ‚poststrukturalistischen Linken‘ stieß ich beim Lesen von Vive la Différence! Wenn Linke und Rechte von #Differenz reden, meinen sie nicht das Gleiche von Jule Govrin und Andreas Gehrlach. Die Einleitung behauptet:
Alle reden von Differenz – die reaktionäre Rechte, die poststrukturalistische Linke und die Neoliberalen. Der Begriff begann seine Karriere um das Jahr 1968 herum, und man kann sich im Gewirr seiner politischen unterschiedlichen Bedeutungen leicht verlieren. Dabei sind die Fronten eigentlich klar.
Jule Govrin / Andreas Gehrlach
Natürlich stellt sich die Frage, wie sich Differenzen in der Realität darstellen. Im Poststrukturalismus zweifelt man jedoch an der Realität als objektiven Maßstab und hält diese durch die Sprache erst konstruiert. Als großer Freund des Phantastischen liebe ich nicht nur Pippi Langstrumpf – Ich mache mir die Welt, so wie sie mir gefällt – als die Symbolfigur des Zeitgeistes. Science Fiction und phantastische Literatur (z.B. das Werk von Walter Moers) haben es mir angetan.
Dagegen meint Dushan Wegner: »Am Ende gewinnt immer die Realität!« . Wegner hält darin offensichtlich die Realität für eine unbestechliche Befindlichkeit, die man nicht durch die Kraft des Geistes beliebig verändern kann. Trotz meines Faibles für das Phantastische bin ich geneigt, Wegners profane Ansicht zu teilen. Ich habe darum den Text von Jule Govrin und Andreas Gehrlach genauer unter die Lupe genommen: Gibt es die behaupteten klare Fronten … im Poststrukturalismus? Oder ist das alles nur ein Konstrukt ohne Bedeutung?
Für jene die mit dem Wort Poststrukturalismus nicht viel anfangen können – und auch nicht jedem Link folgen mögen :
Maßgeblich ist dabei die Ansicht, dass die Sprache die Realität nicht bloß abbilde, sondern mittels ihrer Kategorien und Unterscheidungen auch herstelle. Typischerweise ist mit dieser Perspektive auch eine Abkehr von einer objektivistischen Sicht auf die Gesellschaft verbunden, die soziale Tatsachen als notwendig ansieht; stattdessen werden die unterschiedlichen Möglichkeiten (Kontingenz) gesellschaftlicher Entwicklungen betont.
Wem der Begriff noch recht fremd war, kommt er nun recht vertraut vor, denn wir begegnen eine derartige Grundhaltung auf breiter Front implizit und Explizit in den Medien. Die Idee, dass Sprache das Denken beeinflusst, und dass man mittels der Manipulation der Sprache (Deutungshoheit) Macht ausüben kann, ist spätestens seit Georges Orwells 1984 sehr populär geworden. Man kann dies als gesicherte Erkenntnis voraussetzen.
Der Poststrukturalismus geht aber erheblich weiter. Es geht nicht nur darum, das Sprache denken und gesellschaftliche Entwicklung beeinflusst, sondern dass die Realität gar keine objektive Referenz mehr ist. Nicht mehr Gesetzmäßigkeiten, objektive Befindlichkeiten und Konsequenzen liefern die Grenzen eines Möglichkeitsraums einer weiteren Entwicklung, sondern das Denken konstituiert überhaupt erst die Realität. In diesem Sinn ist dann das Geschlecht (Gender) ein soziales Konstrukt, nebst der biologischen Eigenschaften und dem diesbezüglichen Selbstverständnis der Menschen dazu.
Der Poststrukturalismus hat aber auch Probleme mit der klassischen sozialistischen Theorie:
Zur Entstehungszeit des Poststrukturalismus hatten Gedanken des Humanismus (im Sinne Jean-Paul Sartres) und des Marxismus prägende Autorität. Im Blick früher Poststrukturalisten wurde, was sich mit diesen Theorien verbindet, mehr und mehr fragwürdig. Beiderlei Theorien erschienen für die sich stellenden Fragen unzureichend – Fragen, die aufgeworfen wurden angesichts totalitärer Strukturen im Sowjetsozialismus, vor dem Hintergrund des Stalinismus, dem Verschwinden der Arbeiterklasse als revolutionärem Subjekt, …
Poststrukturalismus
Man kann davon ausgehen, dass heutige Identitätslinke diese Problematik selten klar und explizit durchdrungen haben. Das scheint aber nach Jule Govrin / Andreas Gehrlach nicht wirklich wichtig zu sein, denn das Verständnis der Linken sei durchaus in einem klaren Frontverlauf zu verorten, und zwar poststrukturalistisch. Wir akzeptieren diese Annahme und betrachten den Text weiter. Die Autoren machen sich offensichtlich mit dieser Position gemein, denn die wertende Sprache der alternativen Positionen lässt diesen Schluss zu. Es gibt aus dieser sich kein riesiges Bedeutungsfeld unterschiedlicher individeller Ansichten, sondern etwas, dass man hinreichend sicher in drei Gruppen gliedern kann.
Neben der poststrukturalistischen Linken gibt es wohl nur die reaktionäre Rechte und die Neoliberalen. Konservative und einfache ‚Rechte‘ scheint es nicht zu geben, sondern nur reaktionäre – wobei dieser Begriff ausschließlich im linken Millieu in negativer Konnotation Verbreitung findet. Neoliberal ist ebenfalls ein wertend aufgeladener Begriff, der meist synonym mit Kapitalismus und Ausbeutung verstanden wird. Einfache Liberale und Demokraten im Sinne Voltaires sind hier anscheinend nicht relevant.
Im Jahr 1979 erschien im SPIEGEL ein Interview mit Alain de Benoist, in dem der französische Theoriefürst der sogenannten „Nouvelle Droite“ die Kulturen der Griechen, Römer, Kelten und Germanen als humanere Gesellschaften pries als diejenige der Gegenwart. Seine Bewunderung begründete er damit, dass „dort der alte Grundsatz naturgegebener Ungleichheit Gültigkeit hatte und die hierarchische Gesellschaft mit ihrer elitären Ordnung eine natürliche Rechtfertigung besaß“. Dieser Satz birgt das politische Programm dessen, was man als „moderne Rechte” bezeichnen kann.
Jule Govrin / Andreas Gehrlach
Man ‚kann‘ tatsächlich … man kann es aber viel eher für überzogen halten. Das Zitat aus dem Spiegel: „Den alten Volksgeist erwecken“, Alain de Benoist 20.08.1979 findet sich so fast wieder, nur dass die These hier seitens des Spiegels formuliert wurde und de Benoist kommentierte. Allerdings würden vermutlich die Mehrheit der Konservativen und Rechten dieser These so nicht zustimmen. Aber auch diese Darstellung gibt die Position de Benoists sehr selektiv wieder.
Rechte Ungleichheit
Im gleichen Spiegel-Artikel ist zu lesen:
SPIEGEL: Sie verbinden Ihren Grundsatz aber mit der Vorstellung von einer hierarchischen Gesellschaft, die von einer „Elite der Fähigsten“ beherrscht wird. Damit bleiben Sie der Tradition der reaktionären Rechten Frankreichs treu.
BENOIST: Gar nicht. Wir sind Jungkonservative, keine Reaktionäre! Wir wollen das Elite-Denken neu begründen, nicht im Sinne der Privilegien oder der Kastengesellschaft. Wir gehen davon aus, daß die moderne Gesellschaft, ob demokratisch oder totalitär, von einer kleinen Führungsgruppe geleitet wird. Auch in den sozialistischen Ländern, die dem totalen Egalitarismus huldigen, gibt es heute eine kleine Führungsschicht.
Der Spiegel 20.08.1979
Das liest sich bereits völlig anders. Die Beobachtung, dass es in jeder Gesellschaft eine Führungsschicht gibt ist trivial. Auch in den linken Utopien – spätestens aber im real existierenden Sozialismus – kann diese Feststellung getroffen werden.
BENOIST: Neu aber ist, daß wir dieses Prinzip nicht abschaffen wollen, sondern bejahen sofern jedem der Weg zur Elite offensteht. Das heißt, wir bekämpfen jede Art von Privilegierung und verlangen statt dessen die optimale Förderung angeborener Begabungen.
Der Spiegel 20.08.1979
…
Ich bejahe grundsätzlich die parlamentarische Demokratie damit wir uns nicht mißverstehen.
…
Ich kritisiere nicht das Prinzip und die Notwendigkeit der Revolution, sondern nur die mit ihr verbundene Schreckensherrschaft und das totalitäre Denken. Ich will nicht das Rad der Geschichte zurückdrehen.
De Benoist charakterisiert sich damit als klarer Verfechter der Demokratie und liefert damit keine klare Frontlinie, wie es Jule Govrin / Andreas Gehrlach behaupten. Der Begriff der Differenz ist bei de Benoist so beschrieben:
BENOIST: In der Ansicht, mit der sich alle Rechtsstehenden von allen Linken unterscheiden: in der ausdrücklichen Anerkennung der Ungleichheit und Unterschiedlichkeit der Menschen.
Der Spiegel 20.08.1979
SPIEGEL: Das Gleichheitsideal gilt doch nur für bestimmte gesellschaftliche Lebensbereiche. Sie hingegen machen in Ihren Aufsätzen und Schriften aus der Ungleichheit der Menschen ein absolutes Naturgesetz.
BENOIST: Nein, ich stimme zum Beispiel im Rechtssystem dem Grund-Satz der Gleichbehandlung und im Bildungsbereich der Chancengleichheit zu. Auf dem Boden einer gemeinsamen Kultur und Geschichte sind die Unterschiede unter den Menschen in gewisser Weise relativ.
…
In vielen Artikeln gegen den Rassismus habe ich immer hervorgehoben, daß die Geschichte wichtiger ist als die Biologie, die Kultur wichtiger als die Natur.
Bei de Benoist ist also der Unterschied eben kein Konstrukt, sondern die Bejahung des Faktischen. Es ist darum auch keine Ideologie zur Begründung von Herrschaft, sondern eine Fundierung eines Rahmens, dass Eliten, die ihre Rechtfertigung ausschließlich aus der Eignung und Qualität beziehen und demokratisch legitimiert sein sollen, existieren. Im Streben nach Gleichberechtigung und Chancengleichheit besteht noch kein Unterschied zu linken Werten. Der Begriff ‚Natur‘ und ’naturgegeben‘ wird je nach Kontext unterschiedlich gedeutet:
- Natur im Sinne von Naturwissenschaft und Biologie. Die könnte die Unterschiede unveränderlich machen, da sie determiniert sind. Die DNA einer Person ändert sich nicht im Laufe seines Lebens.
- Natur im Sinn von Wesen und realer Grundbefindlichkeit: Hier ist das Wesen der Dinge zunächst unscharf, da es erst erkannt werden muss. Das ändert aber nichts an der Tatsache, dass die Unterschiede faktisch begründet sind. Das Wesen einer Person ist darum auch nicht unabänderlich, sondern unterliegt einer Entwicklung mit Freiheitsgraden.
De Benoist gebraucht den Begriff je nach Kontext in unterschiedlicher Bedeutung. Im Kontext naturgegebener Ungleichheit bezieht sich dieser auf die wesenhafte Unterschiede, die keineswegs statisch determiniert sind.
Rechte befürchten aber die Gleichmacherei und Nivellierung faktischer Unterschiede. Sie machen bei der Linken das Bestreben aus, bestehende Ungleichheiten nicht als Chance zu nutzen, sondern durch Leugnung dessen eine Art Uniformierung zu schaffen. Dies wirkt sich an vielen Stellen praktisch aus: So wird nicht nur von einer Gleichwertigkeit aller Menschen gesprochen, sondern die existierenden Unterschiede nicht als faktisch und gegeben anerkannt. Ob sich dies nun in Gender-Egalisierungen niederschlägt, in Verteilungsfragen oder in Ansichten zum Rassismus: Die Beurteilung zu Kulturen und Religionen sind eben nicht gleich! Es gibt Unterschiede, und diese gilt es nicht nur anzuerkennen, sondern auch zu bewerten. Totalitarismus ist dem Rechten darum wesensfremd. Sogenannte rechter Totalitarismus erscheint dem Konservativen ebenso grauenhaft wie eine linke Utopie der Gleichheit.
Der Begriff Ethnopluralismus ist darum eine konsequente Fortführung des Gedankens der Differenz und Ungleichheit. Allerdings konstruieren Kritiker dieses Ansatzes – wie hier bein bpb – eine vermeintliche Unveränderlichkeit:
Nun, Ethnopluralisten behaupten, dass Völker unveränderliche Eigenschaften hätten. Anders als im, nennen wir ihn mal klassischen Rassismus, werden diese Eigenschaften aber nicht biologistisch begründet.
…
Ethnopluralisten führen Unterschiede zwischen Menschen auf die verschiedenen Kulturen der Völker zurück. Jedes Volk, so wird behauptet, sei umso besser und stärker, je reiner es sei, je mehr die eigene Kultur von anderen Einflüssen abgeschottet sei. Dass sich Kulturen schon immer gegenseitig beeinflusst und verändert haben, wird dabei ignoriert.
bpb
Es erscheint, dass das Konzept mit den Zuschreibungen von vermeintlicher Reinheit und Unveränderlichkeit diskreditiert werden soll. Was aber bleibt von der Kritik, wenn diese Punkte gar nicht zutreffen? Ist es nicht vielmehr Ignoranz der Kritiker, dass diese zugeschriebenen Eigenschaften weitgehend nicht existieren? Unbeschadet dessen mögen sich immer Menschen finden, die das Konzept der faktischen Differenz und Gleichberechtigung nicht verstanden haben und mit wesensfremden Begriffen mutieren.
Buntheit
Die Trennlinien sind dagegen weit komplexer und nur schwer auszumachen. So kennzeichnet der linke Mainstream den Pluralismus als Vielfalt von Kulturen Einstellungen (Diversity). Unklar bleibt darin, ob es zu einer beliebigen Amalgamisierung kommen soll, die wiederum die Buntheit auflöst? Denn dann wären ja die Unterschiede nivelliert. Um jene Buntheit als positiven Wert zu erhalten bedarf es darum der Differenzierung – die schlichte Feststellung, dass Kulturen und Völker sich faktisch unterscheiden. Dies impliziert keineswegs, dass auch diese Unterschiede statisch sein müssen und dass eine Entwicklung ausgeschlossen ist. Auch nicht, dass eine ‚Reinheit‘ ein Wert an sich sei, oder dass ‚Vermischung‘ per se besser oder schlechter sei. Lediglich ist es eine triviale Feststellung, dass sich bei völliger Vermischung die Buntheit ad absurdum geführt hat.
Die Trennlinien liegen tiefer. Die Frage nach den moralischen Werten ist eine solche: Gibt es eine universelle Moral, die ihre Referenz im Absoluten hat? Also nicht nur eine Sache der Vereinbarung von Mehrheiten ist? Wir denken mit Entsetzen an den Nationalsozialismus und andere totalitäre Regime. Wäre alles nur Sache der Vereinbarung ohne Bezug zum absolut Guten, gäbe es keinen Grund, den Totalitarismus zu kritisieren. Es wäre dann Ausdruck einer Vereinbarung, wenn die jeweilige Mehrheit diese unterstützt.
Wir gehen dagegen von der universellen Gültigkeit der Menschenrechte aus, die für alle Völker und Kulturen Gültigkeit haben sollten. Mit diesem Recht kritisieren wir totalitäre Regime und grausame Kulturen. Die Deklaration der Menschenrechte sind darin der Versuch, das Absolute zu erkennen und umzusetzen, worin weitgehend spezifische ideologische Ausrichtungen unberücksichtigt bleiben sollen. Im Gegensatz dazu lehnen die Unterzeichner der Kairoer Erklärung der Menschenrechte im Islam die allgemeinen Menschenrechte ab. Dies schränkt aber nicht die Ansicht aller anderen ein, dass die grundsätzliche Gültigkeit der allgemeinen Menschenrechte dennoch auch in jenen Ländern besteht. Die Veränderlichkeit der allgemeinen Deklaration ist dem Umstand geschuldet, dass jegliche Erkenntnis nur vorläufig sein kann und nicht vor Irrtümern gefeit sein kann.
Buntheit und Vielfalt ist darum nur dann ein positiver Wert, wenn damit einerseits die Unterschiede anerkannt werden, andererseits aber keine Rechte verletzt werden.
Wie unterscheidet sich nun rechte und linke Theorie? Beide scheinen in der Vielfalt einen positiven Wert zu erkennen. Im Poststrukturalismus werden auch die Menschenrechte nicht absolut gesetzt. Da die Faktizität keine normative Kraft hat, im besonderen nicht bei ideellen Werten, geraten alle linken Werte ins schwimmen und in Beliebigkeit abzudriften. Und genau das zeigen die aktuellen Entwicklungen. Linke unterstellen Rechten, sie wollten eine Reinheit und Abschottung. Rechte unterstellen Linken, sie wollten eine Nivellierung aller Unterschiede und/oder durch fehlende Unterscheidung die Errungenschaften der Entwicklung gefährden. Die Rechte von Frauen und Schwulen in islamischen Kulturen ist oftmals prekär und kaum mit den Menschenrechten in Einklang zu bringen. Dennoch wird seitens der Linken überwiegend vehement für dessen Gleichberechtigung gestritten. Islamkritik wird damit pauschal rechts verortet. Linke Positionen werden damit zunehmend inkonsistent.
Die Unterstellung der Linken, das sogenannte ‚rechte Gedankengut‘ impliziere eine Reinheit der Kultur, eine unveränderliche Statik oder eine chauvinistische Abwertung aller anderen Kulturen als die eigene, ist dagegen schlecht belegt. Der Existenz einzelner Aussagen, die hierfür zitiert werden, steht die Menge der ‚rechten‘ Stimmen entgegen, die diese entschieden ablehnen.
Ontologie des Wandels
Bei Deleuze/Guattari wie auch bei Jacques Derrida ist das Konzept der „Differenz“ zentral. Es wandte sich gegen ein Denken der Einheit, der Gleichförmigkeit und des „Wesens“ und stellte der angeblich ontologischen Ordnung der Welt eine prozessuale, durch Sprache und Geschichte ständig im Wandel begriffene Ontologie entgegen. Der von Deleuze geprägte Differenzbegriff zielte darauf ab, die Machtkategorien der Einheit und Identität aufzulösen, geschichtlich sedimentierte Herrschaftsverhältnisse und soziale Hierarchien zu untergraben. Damit setzte sein Differenzbegriff ‚an-archistische‘ Akzente im Umdenken des Politischen gegen die alten konservativen Kräfte sowie gegen ‚hier-archische‘ Differenzkonzepte, die ein europäisches Erbe als anderen Kulturen überlegen abgrenzen wollten.
Jule Govrin / Andreas Gehrlach
Diese Argumentation ist suspekt. Denn wenn es das Ziel ist, bestehende Herrschaftsverhältnisse zu untergraben und dazu eine rechtfertigende Theorie zu entwickeln, ist das Ziel offensichtlich nicht die Erkenntnis der Wahrheit. Eine derartige Theorie hätte demnach einen propagandistischen Charakter und wäre ein seiner Bedeutung für die Erkenntnis der Realität invalide. Wollen wir aber unterstellen, dass die gesellschaftlichen Implikationen lediglich Konsequenzen aus der Theorie sind, nicht deren treibenden Motive, muss die Frage gestellt werden, in wie weit der Ansatz der Erkenntnis der Realität dient – es sei denn, man steht mit der Realität an sich auf Kriegsfuß und lebt in einer Phantasiewelt.
Fraglos ist die Erkenntnis ein fortschreitender Prozess, der die Chance zur Konvergenz zum Absoluten hat. Zugleich wohnt dem Prozess aber stets das Risiko inne, dass man auf einem Irrweg sich vom Absoluten entfernt. Der Prozess selbst ist damit nicht an sich die Wahrheit, sondern lediglich eine Bestandsaufnahme, bei der die Distanz zur absoluten Wahrheit stets größer Null ist. Wenn der Weg das Ziel an sich wäre, wäre dieser ein Weg ins Nirgendwo. Ein Weg bedarf eines Ziels, der eben nicht in sich selbst liegt.
Ontologie klingt für viele zunächst nebulös. Darum hier die eingeschobene Erklärung:
Die Ontologie (im 16. Jahrhundert als griechisch ontologia gebildet aus altgriechisch ὄν ón ‚seiend‘ und λόγος lógos ‚Lehre‘, also ‚Lehre vom Seienden‘) ist eine Disziplin der (theoretischen) Philosophie, die sich mit der Einteilung des Seienden und den Grundstrukturen der Wirklichkeit befasst.
Wikipedia
Eine Ontologie des Wandels ist darin anscheinend kein Wandel der Erkenntnis, die ja offensichtlich unvermeidbar und unstrittig ist. Es wird vielmehr das Modell bestritten, dass es eine absolute Realität gibt, der man sich mittels Erkenntnis annähern kann. Man schwimmt dann nicht mehr im See der Ungewissheit, sondern geht davon aus, dass dieser See auch grenzen und bodenlos ist. Man erwartet nicht mehr, das Ufer zu erreichen oder ihm nahe zu kommen. Damit ist der Beliebigkeit Tür und Tor geöffnet. Ohne einen archimedischen Punkt wollen dann jene Vertreter die Welt aus den Angeln heben.
Dagegen sind Einheit und Identität keineswegs reine Machtkategorien, sondern stellen Fragen nach der Deutung der Realität, also sind Instrumente der Erkenntnis. Wie man es auch deutet: Wenn Linke eine Ontologie des Wandels propagieren, positionieren sie sich außerhalb der normativen Realität. Denn würde dieser eine valide Ansicht innerhalb jener normativen Realität sein, würde es zum Widerspruch mit der Ansicht kommen, das Wesen des Seins sei der Wandel. Folglich impliziert dies, dass es jene normative Realität gar nicht gäbe.
Bei Deleuze ist Differenz eine Bewegung des Werdens und des Wandels. So verstanden, sind Begriffe immens wandelbar, werden aufgegriffen und kippen mitunter in ihr Gegenteil. Diesem Schicksal unterlag auch der poststrukturalistische Differenzbegriff, der im Verlauf einiger Jahre nicht nur zum neoreaktionären Kampfbegriff, sondern auch zum neoliberalen Modewort wurde.
Jule Govrin / Andreas Gehrlach
Man fragt sich, ob den Autoren hier überhaupt bewusst ist, was sie da schreiben. Mit aufgeladenen Begriffen beanspruchen sie die Deutungshoheit als die wahren Erben des Erfinders, nicht mehr als Sachwalter der Realität unter Irrtumsvorbehalt. Selbstverständlich kann eine Weltsicht, die ihre Verankerung in der Realität leugnet und gar nicht mehr anstrebt, zur Rechtfertigung von Beliebigen verwendet werden! Die Autoren aber überziehen diese halbe Erkenntnis mit der Firnis einer Wertung, die nach einer Rechtfertigung schreit.
Ökonomische Konsequenzen
Benoist wandte sich vehement von Kameraden ab, die wirtschaftsliberale Positionen vertraten. Seine Position ist bis heute dezidiert antiliberal; daher diente der Differenzbegriff dazu, in gegenaufklärerischer Tradition Demokratie und ökonomischen Liberalismus mit Uniformität und Totalität gleichzusetzen. Doch diese Fehde zwischen dem rechtsextremen Hardliner und neoliberalen Wirtschaftspolitiken täuscht darüber hinweg, dass über den von beiden Seiten verwendeten Differenzbegriff sehr wohl Konvergenzen zwischen Rechtsextremismus und Neoliberalismus sichtbar werden.
Jule Govrin / Andreas Gehrlach
Es ist müssig zu wiederholen, dass die Sprache des Textes immer extremere Formen der Polarisierung annimmt. Gar fühlt man sich an das Bild von Skylla und Charybdis erinnert, und dem Versuch, beide zu vereinen. Warum versuchen die Autoren bloß, ein homogenes Feindbild zu entwickeln? Warum können sie die Vielfalt der Ansichten nicht einfach akzeptieren? Es bedarf offensichtlich aus Sicht der Verfasser die grobe Schublade in der alles, auch Gegensätzliches hinein passt, solange es einen negativen Kontext ergibt.
Darüber hinaus stellt sich die Frage, in wie weit die Attribute ‚rechts‘, ‚rechtsextrem‘ und ’neoliberal‘ überhaupt passen. De Benoist ist kritisch zur Ökonomie des multinationalen Kapitalismus, aber sie ist darum nicht antiliberal. Man kann seine Position eher bei einer nationalen sozialen Marktwirtschaft verorten, die den Kartellen Einhalt gebietet. Neoliberalismus ist dagegen ebenso ein Kampfbegriff, die Vertreter einer sozialen Marktwirtschaft in einen Topf wirft mit Globalisten, die eine Entfesselung multinationaler Konzerne wollen – letzteres sicher kein Markenzeichen von Konservativen und ‚Rechten‘. Die behaupteten Konvergenzen sind darum einer künstlichen und nicht sachgerechten Polarisierung geschuldet.
Die Position der Autoren auf dieser Skala bleibt aber verborgen. Zwischen beschworenen Schreckensbildern sehen sie sich nicht mal auf einem Mittelweg, sondern bleiben gegen die behaupteten Gefahren unsichtbar und immun.
Um Menschen zu mobilisieren, müssen die autoritären und postdemokratischen Maßnahmen der neoliberalen Wirtschaftspolitik und die damit einhergehende Prekarisierung von Arbeitsverhältnissen ideologisch eingefasst werden. Hierfür hat sich der Differenzbegriff als äußerst zweckdienlich erwiesen. Eine der neoliberalen Kernideologien ist die Behauptung, alle kämen mit gleichen Chancen auf die Welt und könnten durch eigenverantwortliches Streben eine privilegierte Position im Wettbewerb erringen.
Jule Govrin / Andreas Gehrlach
Es erfordert stoische Geduld, den wiederholten Schwall linksideologisch aufgeladener Begriffe zu ertragen. Tatsächlich sind die Marktgesetze, die das ökonomische Verhalten der Menschen zutreffend beschreiben, keineswegs beliebig und lediglich Instrumente der Herrschaft. Die Implementierungen verschiedener Wirtschaftssystemen versuchen diese lediglich in unterschiedlichem Maße anzuerkennen. Die Neigung der Menschen, sich auch gegen das Recht Dritter Privilegien zu verschaffen, wurde bereits von Adam Smith gesehen. Die Marktordnung soll darum jene mögliche Fehlentwicklungen einhegen. In der Fortführung des Gedankens steht vor allem der Ordoliberalismus von Walter Eucken, Franz Böhm, Leonhard Miksch und Hans Großmann-Doerth. Dieser firmiert heute unter dem Begriff der ’sozialen Marktwirtschaft‘ und ist mit dem Namen Ludwig Erhards verbunden. Es ist dagegen üblich geworden, jene mit den Wiedergängern des Manchesterkapitalismus in einen Topf zu werfen und sie mit dem negativ konnotierten Label ‚Neoliberalismus‘ zu versehen. Nur so ist der obige Text verständlich.
Die Argumentationsweise dieser Autoren bemüht den Strohmann: Es wird die lächerliche Behauptung dem neoliberalen ‚Feind‘ untergeschoben, die Chancengleichheit ab Geburt sei automatisch gegeben. Das behauptet selbstverständlich niemand, der halbwegs bei Verstand ist. Tatsächlich aber hat jeder Mensch gewisse Freiheitsgrade in seiner Entwicklung, die einem unabänderlichen Schicksal durch seine Geburt widersprechen. Es kommt für den Einzelnen darum darauf an, dass er seine Möglichkeiten nutzt. Das ist die Herausforderung seines Lebens. Wer von Chancengleichheit spricht ist dagegen bestrebt, die natürlichen Unterschiede nicht zu perpetuieren, sondern sich durch geeignete Maßnahmen der angestrebte Chancengleichheit anzunähern.
Das differenzierte Individuum
Das Subjekt selbst muss sich von Anderen abheben, um seine Individualität zu behaupten: Make the Difference! Be different! Es sind nicht mehr nur die Klassenschranken, die Pierre Bourdieu 1979 anhand der „feinen Unterschiede“ entzifferte; die vertikale Differenzbemühung soll vielmehr ein unverkennbares Individuum hervorbringen, das sich von der Masse wie auch von der Klasse „abhebt“. Deshalb ist der neoliberale Differenzbegriff mit neoreaktionärem Denken so kompatibel: Wo Ersteres die vertikale Differenzierung aus dem Handeln des Subjekts entstehen sieht, weiß die moderne Rechte diese bereits ‚naturgemäß’ in ihm angelegt. Die Akzeptanz und Förderung von Hierarchie zwischen Menschen sind dabei Programm, in beiden Fällen angetrieben von einem letztlich sozialdarwinistisch geprägten Schlüsselmechanismus.
Jule Govrin / Andreas Gehrlach
Der Leser fragt sich darin: Ist da was dran oder ist das nur linkslastiges Geschwurbel? Tatsächlich ist die These, dass es vor allem eine vertikale Differenzbemühung sei, fragwürdig. Es gilt mittlerweile als unfein, sich elitär zu gerieren. Der Konsum hat sich darin weitgehend verselbstständigt. Der Grund liegt aber nicht in einer sogenannten ’neoliberalen‘ Ideologie, die übrigens auf breiter Front kritisiert wird um vom Zeitgeist kaum mehr geduldet wird, sondern am Wegfall traditioneller Identifikationsfiguren.
Der Mensch sehnt sich danach, sich selbst zu erkennen, seine Identität wahrzunehmen. In traditionellen Gesellschaften nahm die gesellschaftliche Einbindung, die Familie und das Kollektiv diese Funktion wahr, dem Menschen seine Identität zu verleihen, im Kontext einer Ideologie, die oft von der vorherrschenden Religion gestützt wurde. In der Postmoderne brechen aber alle diese Funktionen weg. Die Familienstrukturen lösen sich auf. Viele Menschen leben als Single ohne dauerhafte soziale Bindungen mehr. Eine Einbettung in einen Glauben findet sich eher vereinzelt und ist keine selbstverständlich tragende Kraft mehr. Das Werte-Vakuum, dass auch gerade durch die Negation einer Geschichte und Volk im Zeitgeist um sich greift, tut ein Übriges, dies zur existenziellen Not zu steigern. Der angebotene Weg ist die Selbstidentifikation durch den Konsum, der zwischen ekstatischem Kaufrausch und stolzem Besitz die Illusion einer Identität vermittelt. Traditionell ist das Aneignen von materiellen Statussymbolen bestbelegte Tatsache. In der Postmoderne wird dies durch das Fehlen anderer tragender Werte extrem gesteigert. Doch auch dieser Ansatz wird oft als hohl und unzureichend erkannt.
Was war nun zuerst? Die Produktion von Massenkosumgütern, die einen Konsumismus induzierte und die Menschen korrumpierte? Die nachfragesteigernde Ideologie des Konsums als Identitätssurrogat? Die ideologische Zersetzung der Lebensgrundlagen und traditionellen Lebensweise? Vermutlich wirkten viele weitere Faktoren zusammen, die sich nun zu einem Bild formten, das man als gesellschaftlichen Megatrend analysieren kann. Hier verkürzt den ‚Neoliberalismus‘, der keineswegs eine festgefügte Ideologie darstellt, als solitäre Ursache auszumachen, wirkt eher wie ein intellektuelles Armutszeugnis als eine durchdachte Analyse. Der moderne Mensch als isoliertes Individuum sieht sich in der Not, sich selbst zu erfinden.
Auch ist eine konservative Rechte kaum mit dieser Vorstellung zu vereinbaren, denn hier werden ganz andere Identifikationsfiguren zur Bewältigung der Sinnkrise verstanden, nämlich ein Rekurrieren auf tradierte Werte. Konsum ist hier eher Beiwerk des Wohlstandes. Ein Hierarchiebildung ist im traditionellen Verständnis eine funktionale Notwendigkeit, kein Ziel an sich. Sie soll die Funktion des Ganzen sicherstellen und all ihren Gliedern eine lebensbejahende Perspektive liefern. Dabei wird aber nicht von einer starren schicksalhaften Fügung ausgegangen, sondern eine Durchlässigkeit nach Streben und Fähigkeit unterstellt.
Konservative betonen die Beziehung zwischen Menschen, die keineswegs notwendig von einer Hierarchie getragen ist, sondern sich vor allem gegen eine Isolation und Vereinsamung richtet. Die Behauptung, dass der Sozialdarwinismus hier einen wesentlichen Einfluss ausübt, ist wohl eher ein Stereotyp aus der Mottenkiste … frei nach dem Motto: Wir nehmen alles, was uns negativ erscheint und projizieren dies auf die Meinungsgegner. Eine eher schlichte Argumentationsfigur.
Chaos und Ordnung
Die Unterschiede könnten nicht grösser sein: Während es Deleuze um ein libertäres „Gewimmel von Differenzen, einen Pluralismus von freien, wilden oder ungezähmten Differenzen“ ging, will Benoist „dem Chaos eine Form aufzwingen”. Diese Form werde erreicht, indem sich Menschen differenzieren und in „Unter-Mensch oder Über-Mensch” sortieren lassen. Benoist kämpft gegen eine Idee des Weltfriedens, in dem er ein „Ideal der Widerspruchslosigkeit” erkennt, „das zwangsläufig die Aufhebung der Unterschiede [différences] in sich schließt”.
Jule Govrin / Andreas Gehrlach
Diese Diktion überrascht, denn durch die Zeichen erscheint es als Zitat. Eine Quellenangabe jedoch fehlt. Die Differenzierung zwischen ‚Unter-Mensch und Über-Mensch‘ erscheint geradezu als Gegensatz zu den weiteren Interview-Aussagen und der Schriften die mir ansonsten von Alain de Benoist bekannt sind. Will man ihn hier als ein Parteigänger Nietzsches stilisieren und ihm fragwürdige Aussagen in den Mund legen – ohne die dafür erforderlichen Belege zu liefern?
Zur Frage nach dem Chaos. Alles unstrukturierte, das in keinem ordnenden Zusammenhang steht, erscheint als Chaos. Menschliche Kultur kann man als das Streben verstehen, aus dem Chaos der Möglichkeiten eine ordnende Struktur zu erstellen. Das Chaos an sich positiv zu konnotieren, das man nicht nicht ‚zwingen‘ dürfe, wirkt dagegen wie eine kindische Kulturverachtung der Anarchisten und keineswegs dem menschlichen Interesse entsprechend. Die Autoren stellen es aber so dar, dass Deleuze genau das wollte. Entweder geben sie die Intention Deleuzes korrekt wieder, und dann muss man sich fragen, warum man einen derartigen Menschen für erwähnenswert hält, gar in einen lobenden Kontext stellt. Oder die Autoren haben auch Deleuze falsch verstanden, was angesichts der Textdeutung des Spiegelinterviews wenig überraschen würde. Aber auch kurze Recherchen können das nicht klären:
In politischer und moralischer Hinsicht ist diese Auffassung für Deleuze eine Verpflichtung, den Faschismus und den Kapitalismus abzulehnen. Beide erscheinen als Versuche, die Instabilität der physischen Welt zu leugnen und die Möglichkeiten der Realisierung einzuschränken. Stattdessen solle man die Instabilität und Unvollkommenheit der realen Welt akzeptieren und sich frei durch die Realisierungen der Virtualität bewegen.
Wikipedia
Darin bleibt völlig unklar, wie Deleuze die Realität überhaupt auffasst. Denn auch eine objektive Realität bietet stets einen eingeschränkten Möglichkeitsraum der weiteren Entwicklung – falls der Determinismus keine Option ist. In sofern ist die physische Welt keineswegs instabil, sondern höchst verlässlich in seiner Existenz. In wie weit dann jede denkbare Alternative zu den kritisierten Positionen nicht implizit den Möglichkeitsraum einer weiteren Entwicklung je nach Ausrichtung einschränkt, kann als gesichert gelten. Denn jede moralische, metaphysische oder politische Entscheidung hat Konsequenzen, die natürlich den Möglichkeitsraum des Jetzt einen Schritt in die Zukunft führt, zugleich dieses Jetzt als geronnene Gegenwart in der Vergangenheit statisch fixiert. Damit bleibt unklar, ob Deleuze die Realität als eine Einschränkung der Denkmöglichkeiten überhaupt erkennt.
Das Argument, dass ein ungetrübter Weltfrieden in der Konsequenz sehr viel opfern müsste, gar kaum von einer Friedhofsruhe kaum zu unterscheiden wäre, ist allerdings beachtlich. Bei bestehender Meinungsvielfalt kann es nur dann zu einem dauerhaften Weltfrieden kommen, wenn man diese Differenzen radikal ausmerzt. Die christliche Himmelshoffnung, die de Benoist nicht teilt, ist auch nicht säkularer Natur. Dieser verortet den unbeschränkten Frieden im Reich Gottes, in dem die Menschen von ihrer sündigen Natur erlöst sind. Die Hoffnungen auf säkulare sozialistische Paradiese endete in schnöder Regelmäßigkeit in Blutbädern und totalitären Regimen. Dagegen muss die gewünschte Vielfalt die Möglichkeit von Konflikten akzeptieren.
Aber ist die Vorstellung von existierenden Unterschieden nur darum völlig verschieden, wenn der eine diese in eine Struktur einbaut, der Andere diese Unterschiede angeblich chaotisch koexistieren lässt?
Identität
Der neoreaktionäre Differenzbegriff strebt an, Identitätsgrenzen zu verfestigen, während die neoliberale Subjektivierung Identität verflüssigt, verhandel- und tauschbar wird. Der entscheidende Unterschied zwischen dem poststrukturalistischen, den neoliberalen und dem reaktionären Differenzbegriff liegt historisch in dem Konzept der Identität begründet. Identität ist eine aufklärerische Kategorie, die zur Konstitution des kapitalistischen Marktes beigetragen hat; zugleich ist sie, auf romantische Motive zurück gehend, auch die Kategorie, anhand derer rassistische Hierarchien legitimiert werden.
Jule Govrin / Andreas Gehrlach
Wie können die Autoren hier aberwitzige Assoziationsketten aufbauen, ohne den Kern des Identitätsbegriffs auch nur zu berühren? Identität ist kein eigenes Thema, so lang man diese für selbstverständlich hält und zum Hinterfragen derselben keinen Grund sieht. Aber bereits die alten griechischen Denker sahen in der Aufforderung: Erkenne dich selbst! eben keine Selbstverständlichkeit. Es kennzeichnet den Menschen, dass er ein starkes Bedürfnis nach einem kongruenten, authentischem Sein in Harmonie mit der Realität hat. Nur wer dies als ein Grundmotiv philosophischen Denkens und menschliches Grundbedürfnis erkennt, kann sich erkennend diesem Thema nähern. Alles andere ist pseudointellektuelles Geschwurbel.
Insbesondere Herder nimmt die im 19. Jahrhundert moderne Idee der Identität auf und überträgt sie auf Kollektive, die er durch die neu entstehenden Nationalgrenzen als Völker definiert. Da sich Identität durch Differenz bestimmt, weshalb nationale Identität nur im Vergleich zu anderen Völkern ersonnen werden kann, was in westeuropäischen, besonders deutschen Allmachtsfantasien mündet.
Jule Govrin / Andreas Gehrlach
Das Konzept der Sippen und Völker als identitätsstiftende Kategorie war bereits in den ältesten historischen Quellen vorhanden. Die Bibel liefert reichlich Zeugnisse davon. Herder mag diesen Umstand aufgegriffen haben, aber es ist darum keineswegs eine neue Erfindung. Auch die Idee der Überlegenheit des eigenen Volkes ist kein Novum in der Geschichte. Während man überwiegend in der Geschichte eine Koexistenz der Völker, die keine klare Wertung implizierte, für selbstverständlich und gegeben ansah, traten in unregelmäßigen Abständen Völker und Eroberer hervor, die eine echte oder erdachte Überlegenheit zum Anlass nahmen, Herrschaft auszuüben. Dies ist aber keine zwingende Folge aus der Feststellung der Differenz der Völker und Kulturen.
Fremdherrschaft kann auch nicht dadurch vermieden werden, wenn man vorhandene Unterschiede schlicht leugnet. Man nimmt dem Unterlegenen lediglich die Sprache und Identität, gegen jene Fremdherrschaft aufzubegehren. Will nun das Schaf dem Wolf einreden, dass beide gleich seien? Wird es darin Erfolg haben?
Dies hat vor allem zwei Gründe: Erstens, nationale und kulturelle Identitäten werden im Kontext der kolonialen Gewaltgeschichte verhandelt, was bedeutet, dass Identität im abwertenden Abgleich mit rassifizierten Alteritätskonstruktionen ausgehandelt wird. Zweitens, dem nationalistischen Denken (und ebenso der aufklärerischen Demokratisierung) ist der nationalökonomische Wettbewerbsgedanke eingeschrieben, wodurch sich ideengeschichtlich zeigt, wie kompatibel ökonomische und reaktionäre Differenzkonzepte sind.
Jule Govrin / Andreas Gehrlach
Auch dieser Ansatz steht mit der Realität und der Geschichte auf Kriegsfuß. Die Tatsache, dass es in der Jahrtausende alten Geschichte immer wieder zu Eroberungen kam, lässt sich nicht sinnvoll auf eine westeuropäische Kolonialgeschichte reduzieren. Da die Kolonialgeschichte weitgehend abgeschlossen ist, kann eine nationale Identität nirgends mehr in starker Prägung zur Kolonialgeschichte verstanden werden.
Ein nationalökonomischer Wettbewerbsgedanke ist auch kein beliebiges Konstrukt, dem man folgen kann oder ablehnen könnte, sondern basiert auf die Realität, dass die Bedürfnisse der Bevölkerung nach Freiheit, Gerechtigkeit, Sicherheit und Wohlstand sehr unterschiedlich erfolgreich ja nach Kultur und Volk umgesetzt wurde – Ja, es gibt Kulturen, die sind „besser“ als andere (Dushan Wegner). Es ist darum kein Zeichen der Kompatibilität oder Unterschieden von Differenzkonzepten, sondern der Frage, wie sehr eine Weltsicht die normative Kraft der Realität anerkennt.
Fazit: Kann das funktionieren?
Während der poststrukturalistisch geprägte Differenzbegriff „horizontal“ funktioniert, weil hierarchische Ordnungen angefochten werden, und Differenzen zu einer gleichrangigen Heterogenität führen, funktioniert die rechte Idee der Differenz gewissermaßen „vertikal“, in ein unten und oben, in besser und schlechter sortierend.
Jule Govrin / Andreas Gehrlach
Vielmehr stellt sich die Frage: Kann ein poststrukturalistisch geprägte Differenzbegriff überhaupt funktionieren? Oder zehrt er lediglich in zerstörerischer Dekadenz das Kapital auf, dass historisch erworben wurde? Wer keine Bewertung mehr vornimmt, eine Funktionsfähigkeit einer beliebigen Idee unhinterfragt als gegeben behauptet, kann keine sachgerechte Antworten auf Herausforderungen und Krisen der Zeit finden. Denn das wäre ja eine Unterscheidung zwischen der bessern und der schlechteren Lösung. Man könnte dann auch nicht mehr zwischen tradierten Werten und phantasierten Hirngespinsten unterscheiden, alle Strukturen lösen sich auf. Es passiert mit der Gesellschaft das, was mit einem Menschen geschähe, wollte man ihm alle Knochen entfernen.
Sie nehmen eine gesellschaftliche Ordnung mit naturgegebenen Unterschieden an, und sie streben danach, diese Ordnung aufzurichten. Um diesen plumpen sozialdarwinistischen Machtwillen zu durchschauen, muss man nicht mit Rechten reden.
Jule Govrin / Andreas Gehrlach
Gorvin / Gehrlach haben sich immer mehr in eine ideologische Blase aus Schlagworten gesteigert, die sie schlicht dialogunfähig macht. Sie beißen sich an einer nachweislich falschen Deutung des Begriffes ‚naturgegeben‚ fest, der hier schlicht faktisch gemeint ist, ohne eine Schicksalhaftigkeit zu determinieren. Sie haben die Bodenhaftung an die Realität zugunsten eines absurden Poststrukturalismus verloren. Sie scheinen zu glauben, dass es keinen natürlichen Unterschied zwischen Menschen und Kulturen gibt, obwohl sie dennoch diese Unterschiede unbedingt erhalten wollen. Die Inkonsistenzen ihres Denkens scheinen ihnen nicht mehr aufzufallen. Leider ist der hier diskutierte Text kein extremer Einzelfall, sondern exemplarisch und ereignet sich auf breiter Front in ähnlicher Weise im linksintellektuellen Milieu. Es ist traurig zu sehen, dass ein offensichtliches Potential zu denken dazu verwendet wurde, sich gegen die Realitätserkenntnis zu immunisieren. Hoffen wir, dass uns ein derartig armseliges Schicksal erspart bleibt.