Unmittelbarkeit und Vermittlung

Gibt es eine direkte, unmittelbare Erfahrung oder Erkenntnis? Spontan würde man jedes Gefühl, im besonderen wenn es stark ist, als unmittelbar bezeichnen. Aber dann kommen Zweifel auf: Sind dies nicht vielleicht nur simulierte Gefühle, leben wir vielleicht doch in einer Matrix? Sind nicht auch Drogenerfahrungen stark? Auch physiologisch würden wir die Nervenimpulse, die durch die Neuronen von unseren Sinnesorganen an das Gehirn gemeldet werden, eben doch nur als vermittelt verstehen. Die Rohdaten, die durch jene Nervenbahnen in der ‚CPU‘ ankommen, sind zumeist vorbewusst und werden auf dem Weg der Verarbeitung und Interpretation – zumeist unbewusst – erst unserem Bewusstsein zuteil. Was bedeutet das für unsere Erkenntnis?

Das hier mehrere Interpetationsebenen, Erlerntes aus Sozialisation, geschulte Deutungen uns die Realität vermitteln, kann sehr wohl beunruhigen. Um die Deutung, die stets auch eine Fehldeutung sein kann, zunächst zu minimieren, bemüht sich die Phänomenologie um eine mögliche Klärung des Ungestalteten in seinem So-Sein zu erfassen. Auch wenn dies nur bedingt möglich ist, kann eine Näherung durch ein kritisches Hinterfragen der Deutung eine bessere Wirklicheitswahrnehmung ermöglichen.

Aber wir halten fest: Auch wenn das Bemühen um eine möglichst unverstellte Erkenntnis hilfreich sein mag, so ist das Ziel weder vollends erreichbar, noch wäre das interpretationslose Phänomen ein wünschenwertes Ende. Denn auch dann mag eine möglichst reflektierte Deutung erst zur Bedeutung werden. Und so wird die Deutung, die stets auch etwas Vermitteltes hat, zum Kernpunkt unserer Welt- und Selbsterkenntnis.

Die Vermittlung ist somit kein Wert oder Unwert an sich, sondern eine sozialer Modus, der uns den Zugang zur Realität ermöglicht. Denn obwohl ein manipulativer Deutungsschwal uns in eine Richtung schieben mag, die uns zu Recht auch verdächtig erscheinen kann, so gibt es doch jene Eigenbrötler, die sich in ihrer selbstgemachten Isolation immer weiter versteigen und keineswegs an der Realität besser teilhaftig sind. Das Soziale kann als Korrektiv, wie auch als Verzerrungsfaktor wirken. Es sollte an jedem Einzelnen liegen, dieses Spannungsfeld zum Guten zu nutzen. Das heißt zumeist, die Extreme zu meiden. Extrem wäre es, in unkritischer Distanzlosigkeit zur Gemeinschaft und Dritten zu stehen. Dies öffnet dem Missbrauch und Irrtum Tür und Tor. Keine Sicherung ist dann noch wirksam. Ebenso extrem ist das absolute Misstrauen, dass keine Überzeugung Dritter, ob nun von Autoritäten oder dem Kollektiv, die Möglichkeit wahrer Erkenntnis inne hätte. Man glaubt, dass die eigen Autorität und Erkenntnis derer Dritter grundsätzlich weit überlegen sei.

Das Grundmuster der Vermittlung ist der Priester, der einerseits durch seine Präsenz und Ritus dem Leben der Gemeinschaft eine Struktur verleiht. Andererseits steht jener für ein höheres Wissen, der die eigene Erfahrung und Erkenntnis übersteigt. Ist jenes Wissen nun ein wahrer Erkenntnisvorsprung, der Vertrauen verdient, oder ausschließlich ein beliebiger Anspruch, der vor allem zum Machtgewinn und -erhalt vertreten wird. Auch hier wären stereotype apriori-Urteile ideologisch verkürzt und letztlich Ausdruck von Hybris oder falscher Demut. Es sind die Grauzonen, die uns eben der Ungewissheit anheim befehlen, in denen wir uns selbst und die Realität finden müssen.

Die Rolle des Priesters ist in der modernen Gesellschaft so nicht mehr in der Kontinuität zur archaischen Gesellschaft. Sie wird ersetzt vom Wissenschaftler oder Experten. Die Medien küren zumeist jene Autoritäten, die sie auf das Schild heben und zu Vermittlern der Wahrheit ernennen. Allzu augenfällig ähnelt die Rolle, die eine mittelalterliche Kirche in der Dogmatisierung hatte und der Kontrolle über die Realitätsbestimmung jenen, die heute mittels Medienkontrolle in Parallelität die Deutungshoheit der Wahrheit beanspruchen. Die Mittel haben sich verändert, der metaphysische Anspruch ist einer gewissen Pragmatik in einem Nebel vorgeblicher Meinungsfreiheit kaschiert.

Weit weniger bekannt ist Vielen, dass es häufig auch gerade Experten und Wissenschaftler gibt, die mit starken Argumenten jenen ernannten Experten widersprechen. Sie werden totgeschwiegen, marginalisiert und diskreditiert, denn jene, die ihre Macht ausüben und erhalten wollen, kommen diese nicht zupass. Wäre es ein Thema der möglichst ungefärbten Realitätserkenntnis, würde eine reine Sachdiskussion unter Austausch der möglichst besten Argumente das probate Mittel sein. Dies aber findet immer seltener statt. Man misstraut dem Publikum, sich selbst eine Meinung zu bilden, oder, noch weit verwerflicher, man hat eine Agenda der Macht, die das Verschleiern der Realität erfordert. Wo also ist der Fortschritt gegen das Mittelalter, welches oft als finster geschmäht wurde? Wo bleibt die Aufklärung, die Rationalität, wenn man sich nicht mehr um das Sachargument kümmert, sondern um die Position des Vermittlers?

Ein Gedanke zu „Unmittelbarkeit und Vermittlung“

  1. Vielen Dank für den Beitrag. Es liegt mir fern, allzu gestelzt Trivialitäten zu verbrämen … auch wenn ich zuweilen selbst denke, dass es sich so anhören könnte.

    Alle Zuschreibungen, auch als Querdenker, sind natürlich fragwürdig. Die Selbstinszenierung, sich selbst eben nicht als Teil der Herde zu sehen, ist in so weit lächerlich, da die Freiheitsgrade natürlich begrenzt bleiben. Man kann weder objektiv sein, noch sich der Herkunft und des Zeitgeistes entschlagen. Dennoch bleibt das Aufbegehren schlicht Teil des Menschseins, in dialektischer Spannung zur wonniger Zufriedenheit und Akzeptanz des Gegebenen. Beides gehört zusammen, und auch aus der fragwürdigen Selbstinszenierung jeglicher Art kann man nicht entkommen. Denn auch der Gruppenmensch, der seinen Honig aus der Akzeptanz und Respekt von Anderen zieht, wählt eine Existenz, die nicht minder Kritikwürdig ist.

    Mein Ziel ist weder, anderen in ihrem Lebensweg abzulehnen und meinen Weg als vorzüglich zu präsentieren, noch die eigenen Erkenntnisse für wegweisend zu halten. Aber vielleicht sind die Gedanken und Reflektionen hilfreich, seinen eigenen Weg besser zu finden … auch gerade in Kontrast zu dem Gesagten.

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